Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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Die Ameise

Ein Müßiggänger sah die Lilie
Des Feldes blühn und hört' der Vögel Chor
Lobsingen. »Bin ich denn nicht mehr als sie?«
Sprach er. »Wohlan, so sei mein Leben auch
Blühn und Verblühen, Anschaun und Gesang!«

Er ging zur einsam-frommen Wüstenei
Und harrete auf Offenbarung. Da
Rief eine Stimme: »Schau' zur Erd' hinab,
Simplicius!« Er sah. Ein wimmelnd Nest
Ameisen war vor ihm in lebender
Bewegung. Diese trugen eine Last,
Viel größer als sie selbst. Ein andrer Hauf'
Hielt Kräutersamen in dem Munde, fest
Wie mit der Zange. Jene holten Erd'
Herbei und dämmten ihren breiten Strom.
Die andern trugen für den Winter ein
Und schroteten die Körner künstlich ab,
Daß ihre feuchte Wohnung nicht mit Kraut
Verwüchse. Diese hielten einen Zug.
Sie trugen einen Toten aus der Stadt.
Und keiner stört' den andern; jeder wich
Beim Ein- und Ausgang seinem Nachbar aus.
Wer unter seiner Last erlag, und wer
Die steile Straße nicht erklimmen konnte,
Dem half man auf, man bot den Rücken dar.

Simplicius sah's mit Verwunderung
Und sähe noch, hätt' ihm die Stimme nicht
Gerufen: »Bist du nicht viel mehr als sie?«
Und vor ihm stand ein Greis: »Verlorner Sohn!
Wie? hast du keinen Vater? keine Mutter?
Und keinen Freund und Armen, dem du jetzt
Beispringen könntest? Bist vom Himmel du
Entsprossen? keinem Menschen auf der Welt
Verbunden oder wert, daß ihm ein Teil
Von dir gehöre? – Sieh das kleine Volk
Ameisen. Jede wirket insgemein,
Und ohne Eigentum hat jede g'nug.«

Belehret kehrt' Simplicius zurück
Zur muntern Tätigkeit und sah fortan
Im großen Ameishaufen dieser Welt
Die Gottesstadt, die (oft sich unbewußt)
Im Wirken fürs Gemeine lebt und webt,
Niemand für sich, für alle jedermann.

Johann Gottfried Herder (1795 ?)

 


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