Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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Des fremden Kindes heiliger Christ

Es läuft ein fremdes Kind
    Am Abend vor Weihnachten
    Durch eine Stadt geschwind,
    Die Lichter zu betrachten,
    Die angezündet sind.

Es steht vor jedem Haus
    Und sieht die hellen Räume,
    Die drinnen schaun heraus,
    Die lampenvollen Bäume;
    Weh wird's ihm überaus.

Das Kindlein weint und spricht:
    »Ein jedes Kind hat heute
    Ein Bäumchen und ein Licht
    Und hat dran seine Freude,
    Nur bloß ich armes nicht.

An der Geschwister Hand,
    Als ich daheim gesessen,
    Hat es mir auch gebrannt;
    Doch hier bin ich vergessen,
    In diesem fremden Land.

Läßt mich denn niemand ein
    Und gönnt mir auch ein Fleckchen?
    In all den Häuserreihn
    Ist denn für mich kein Eckchen,
    Und wär' es noch so klein?

Läßt mich denn niemand ein?
    Ich will ja selbst nichts haben;
    Ich will ja nur am Schein
    Der fremden Weihnachtsgaben
    Mich laben ganz allein.«

Es klopft an Tür und Tor,
    An Fenster und an Laden;
    Doch niemand tritt hervor,
    Das Kindlein einzuladen;
    Sie haben drin kein Ohr.

Ein jeder Vater lenkt
    Den Sinn auf seine Kinder;
    Die Mutter sie beschenkt,
    Denkt sonst nichts mehr noch minder;
    Ans Kindlein niemand denkt.

»O lieber heil'ger Christ,
    Nicht Mutter und nicht Vater
    Hab' ich, wenn du's nicht bist;
    O, sei du mein Berater,
    Weil man mich hier vergißt!«

Das Kindlein reibt die Hand,
    Sie ist von Frost erstarret;
    Es kriecht in sein Gewand
    Und in dem Gäßlein harret,
    Den Blick hinausgewandt.

Da kommt mit einem Licht
     Durchs Gäßlein hergewallet,
     Im weißen Kleide schlicht,
     Ein ander Kind; – wie schallet
     Es lieblich, da es spricht:

»Ich bin der heil'ge Christ!
     War auch ein Kind vordessen,
     Wie du ein Kindlein bist;
     Ich will dich nicht vergessen,
     Wenn alles dich vergißt.

Ich bin mit meinem Wort
     Bei allen gleichermaßen;
     Ich biete meinen Hort
     So gut hier auf den Straßen
     Wie in den Zimmern dort.

Ich will dir deinen Baum,
     Fremd Kind, hier lassen schimmern
     Auf diesem offnen Raum,
     So schön, daß die in Zimmern
     So schön sein sollen kaum.«

Da deutet' mit der Hand
     Christkindlein auf zum Himmel,
     Da droben leuchtend stand
     Ein Baum voll Sterngewimmel,
     Vielästig ausgespannt.

So fern und doch so nah,
     Wie funkelten die Kerzen!
     Wie ward dem Kindlein da,
     Dem fremden, still zu Herzen,
     Da's seinen Christbaum sah!

Es ward ihm wie ein Traum;
     Da langten hergebogen
     Englein herab vom Baum
     Zum Kindlein, das sie zogen
     Hinauf zum lichten Raum.

Das fremde Kindlein ist,
    Zur Heimat nun gekehret,
    Bei seinem heil'gen Christ;
    Und was hier wird bescheret,
    Es dorten leicht vergißt.

Friedr. Rückert

 


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