Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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Der Läufer von Glarus

Einst fochten die von Uri sich
Und die von Glarus bitterlich
Um ihre Landesscheiden an,
Da ward zuletzt der Spruch getan:
»Zur Tag- und Nachtgleich' allerfrühst,
Wann kaum der Hahn den Morgen grüßt,
Soll nach der beiden Länder Enden
Jedwedes einen Läufer senden,
Und wo sich drauf begegnen beide,
Da sei fortan des Landes Scheide.«
Und als der Morgen war gekommen
Und kaum die höchsten Alpen glommen,
In Uri wachte schon der Hahn
Und sang den Morgen lustig an.
Der Hunger hat ihn früh geweckt;
Und wie er kaum die Flügel reckt,
Bricht schon der Urner hurtig auf
Und nimmt zur Scheide seinen Lauf.
Indes zu Glarus schläft noch fest
Der Hahn in seinem warmen Nest;
Sie hatten trefflich ihn gefüttert,
Drum schlief er satt und unerschüttert,
Derweil im roten Morgenbrand
Ihn bänglich die Gemein' umstand.
Doch endlich hub er an zu krähen
Und schlummertrunken sich zu blähen,
Und hurtig sprang der Glarner auf
Und nahm zur Marke seinen Lauf.
Doch als er eilte kurze Strecke,
Kam droben um die Felsenecke
Ins Land herein mit stolzen Tritten
Schon der von Uri hergeschritten.
Der Glarner hielt mitnichten an,
Er sprang noch unverzagt bergan,
Daß er noch Land dem guten Rechte
Und seinem Volk gewinnen möchte.
Der Urner hüpft mit lautem Hohn:
»Hier ist die Scheide!« ruft er schon;
Doch will er von den Alpenmatten
Ein Stücklein ihm zurückerstatten,
Soweit es ihm noch möge glücken,
Ihn fortzutragen auf dem Rücken.
Der schwingt ihn auf die Schulter drauf
Und klettert frisch den Steg hinauf;
Er atmet schwer, das Knie bricht ein,
Erblassend stürzt er aufs Gestein.
»Hier ist die Grenze!« ruft er schnelle –
Sein Grabstein ist zur selben Stelle.
Da ruhe nun von deinem Lauf
Und atme wieder freudig auf;
Du bist, solang dein Fuß dich trug
Und bis zum letzten Atemzug,
Fürs gute Recht vorangedrungen
Und hast ihm treulich Land errungen
Und weiter seine Mark gesetzt!
Glückselig, wer zu guter Letzt
»Hier ist die Grenze!« rufen kann.
Am Steine, den dein Mut gewann,
Den Ruhstein du gefunden hast –
Da, braver Läufer, halte Rast!

Adolf Stöber (1833)

 


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