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Jüngsthin hört' ich, wie die Rebe
Mit der Tanne sprach und schalt:
»Stolze! himmelwärts dich hebe.
Dennoch bleibst du starr und kalt l
Spend' auch ich nur kargen Schatten
Wegemüden gleichwie du.
Führet doch mein Saft die Matten,
O wie leicht! der Heimat zu.
Und im Herbste – welche Wonne
Bring' ich in des Menschen Haus!
Schaff' ihm eine neue Sonne,
Wann die alte löschet aus.«
So sich brüstend sprach die Rebe;
Doch die Tanne blieb nicht stumm.
Säuselnd sprach sie: »Gern gebe
Ich dir, Rebe, Preis und Ruhm.
Eines doch ist mir beschieden:
Mehr zu laben als dein Wein
Lebensmüde – welchen Frieden
Schließen meine Bretter ein!«
Ob die Rebe sich gefangen
Gab der Tanne, weiß ich nicht:
Doch sie schwieg, und Tränen hangen
Sah ich ihr am Auge licht.
Justinus Kerner