Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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Salas y Gomez

1.

Salas y Gomez raget aus den Fluten
   Des Stillen Meers, ein Felsen kahl und bloß,
   Verbrannt von scheitelrechter Sonne Gluten,

Ein Steingestell ohn' alles Gras und Moos,
   Das sich das Volk der Vögel auserkor
   Zur Ruhstatt im bewegten Meeresschoß.

So stieg vor unsern Blicken sie empor,
   Als auf dem Rurik: »Land im Westen! Land!«
   Der Ruf vom Mastkorb drang zu unserm Ohr.

Als uns die Klippe nah vor Augen stand,
   Gewahrten wir der Meeresvögel Scharen
   Und ihre Brüteplätze längs dem Strand.

Da frischer Nahrung wir bedürftig waren,
   So ward beschlossen den Versuch zu wagen,
   In zweien Booten an das Land zu fahren.

Es ward dabei zu sein mir angetragen.
   Das Schrecknis, das der Ort mir offenbart,
   Ich werd' es jetzt mit schlichten Worten sagen.

Wir legten bei, bestiegen wohlbewahrt
   Die ausgesetzten Boote, stießen ab,
   Und längs der Brandung rudernd ging die Fahrt.

Wo unterm Wind das Ufer Schutz uns gab,
   Ward angelegt bei einer Felsengruppe,
   Wir setzten auf das Trockne unsern Stab.

Und eine rechts und links die andre Truppe,
   Verteilten sich den Strand entlang die Mannen,
   Ich aber stieg hinan die Felsenkuppe.

Vor meinen Füßen wichen kaum von dannen
   Die Vögel, welche die Gefahr nicht kannten
   Und mit gestreckten Hälsen sich besannen.

Der Gipfel war erreicht, die Sohlen brannten
   Mir auf dem heißen Schieferstein, indessen
   Die Blicke den Gesichtskreis rings umspannten.

Und wie die Wüstenei sie erst ermessen
   Und wieder erdwärts sich gesenket haben,
   Läßt eines alles andre mich vergessen:

Es hat die Hand des Menschen eingegraben
   Das Siegel seines Geistes in den Stein,
   Worauf ich steh', – Schriftzeichen sind's, Buchstaben.

Der Kreuze fünfmal zehn in gleichen Reih'n,
   Es will mich dünken, daß sie lang bestehen,
   Doch muß die flücht'ge Schrift hier jünger sein.

Und nicht zu lesen! – deutlich noch zu sehen
   Der Tritte Spur, die sie verlöschet fast;
   Es scheint ein Pfad darüber hin zu gehen.

Und dort am Abhang war ein Ort der Rast,
   Dort nahm er Nahrung ein, dort Eierschalen!
   Wer war, wer ist der grausen Wildnis Gast?

Und spähend, lauschend schritt ich auf dem kahlen
   Gesims einher zum andern Felsenhaupte,
   Das zugewendet liegt den Morgenstrahlen.

Und wie ich, der ich ganz mich einsam glaubte,
   Erklomm die letzte von den Schieferstiegen,
   Die mir die Ansicht von dem Abhang raubte:

Da sah ich einen Greisen vor mir liegen,
   Wohl hundert Jahre, mocht' ich schätzen, alt,
   Des Züge, schien es, wie im Tode schwiegen.

Nackt, lang gestreckt die riesige Gestalt,
   Von Bart und Haupthaar abwärts zu den Lenden
   Den hagern Leib mit Silberglanz umwallt,

Das Haupt getragen von des Felsen Wänden,
   Im starren Antlitz Ruh', die breite Brust
   Bedeckt mit übers Kreuz gelegten Händen.

Und wie entsetzt, mit schauerlicher Lust,
   Ich unverwandt das große Bild betrachte,
   Entflossen mir die Tränen unbewußt.

Als endlich wie aus Starrkrampf ich erwachte,
   Entbot ich zu der Stelle die Gefährten,
   Die bald mein lauter Ruf zusammenbrachte.

Sie lärmend herwärts ihre Schritte kehrten
   Und stellten, bald verstummend, sich zum Kreis,
   Die fromm die Feier solchen Anblicks ehrten.

Und seht, noch reget sich, noch atmet leis,
   Noch schlägt die müden Augen auf und hebt
   Das Haupt empor der wundersame Greis.

Er schaut uns zweifelnd, staunend an, bestrebt
   Sich noch zu sprechen mit erstorbnem Munde, –
   Umsonst! er sinkt zurück, er hat gelebt.

Es sprach der Arzt, bemüh'nd in dieser Stunde
   Sich um den Leichnam noch: »Es ist vorbei.«
   Wir aber standen betend in der Runde.

Es lagen da der Schiefertafeln drei
   Mit eingeritzter Schrift; mir ward zuteile
   Der Nachlaß von dem Sohn der Wüstenei.

Und wie ich bei den Schriften mich verweile,
   Die rein in span'scher Zunge sind geschrieben,
   Gebot ein Schuß vom Schiffe her uns Eile.

Ein zweiter Schuß und bald ein dritter trieben
   Von dannen uns mit Hast zu unsern Booten;
   Wie dort er lag, ist liegen er geblieben.

Es dient der Stein, worauf er litt, dem Toten
   Zur Ruhestätte wie zum Monumente,
   Und Friede sei dir, Schmerzenssohn, entboten!

Die Hülle gibst du hin dem Elemente,
   Allnächtlich strahlend über dir entzünden
   Des Kreuzes Sterne sich am Firmamente,

Und, was du littest, wird dein Lied verkünden.

2. Die erste Schiefertafel

Mir war von Freud' und Stolz die Brust geschwellt,
   Ich sah bereits im Geiste hoch vor mir
   Gehäuft die Schätze der gesamten Welt.

Der Edelsteine Licht, der Perlen Zier
   Und der Gewänder Indiens reichste Pracht,
   Die legt' ich alle nur zu Füßen ihr.

Das Gold, den Mammon, diese Erdenmacht,
   An welcher sich das Alter liebt zu sonnen,
   Ich hatt's dem grauen Vater dargebracht.

Und selber hätt' ich Ruhe mir gewonnen,
   Gekühlt der tatendurst'gen Jugend Glut
   Und war geduldig worden und besonnen.

Sie schalt nicht fürder mein zu rasches Blut;
   Ich wärmte mich an ihres Herzens Schlägen,
   Von ihren weichen Armen sanft umruht.

Es sprach der Vater über uns den Segen,
   Ich fand den Himmel in des Hauses Schranken
   Und fühlte keinen Wunsch sich fürder regen.

So wehten töricht vorwärts die Gedanken;
   Ich aber lag auf dem Verdeck zu Nacht
   Und sah die Sterne durch das Tauwerk schwanken.

Ich ward vom Wind mit Kühlung angefacht,
   Der so die Segel spannte, daß wir kaum
   Den flücht'gen Weg je schnellern Laufs gemacht.

Da schreckte mich ein Stoß aus meinem Traum,
   Erdröhnend durch das schwache Bretterhaus;
   Ein Wehruf hallte aus dem untern Raum.

Ein zweiter Stoß, ein dritter; krachend aus
   Den Fugen riß das Plankenwerk, die Welle
   Schlug schäumend ein und endete den Graus.

Verlorner Schwimmer in der Brandung Schwelle,
   Noch rang ich jugendkräftig mit den Wogen
   Und sah noch über mir die Sternenhelle.

Da fühlt' ich in den Abgrund mich gezogen,
   Und wieder aufwärts fühlt' ich mich gehoben
   Und schaute einmal noch des Himmels Bogen.

Dann brach die Kraft in der Gewässer Toben,
   Ich übergab dem Tod mich in der Tiefe
   Und sagte Lebewohl dem Tag dort oben.

Da schien mir, daß in tiefem Schlaf ich schliefe
   Und sei mir aufzuwachen nicht verliehen,
   Obgleich die Stimme mir's im Innern riefe.

Ich rang, mich solchem Schlafe zu entziehen.
   Und ich besann mich, schaut' umher und fand,
   Es habe hier das Meer mich ausgespieen.

Und wie vom Todesschlaf ich auferstand,
   Bemüht' ich mich, die Höhe zu ersteigen,
   Um zu erkunden dies mein Rettungsland.

Da wollten Meer und Himmel nur sich zeigen,
   Die diesen einsam nackten Stein umwanden,
   Dem nackt und einsam selbst ich fiel zu eigen.

Wo dort mit voller Wut die Wellen branden,
   Auf fernem Riffe war das Wrack zu sehen,
   Woselbst es lange Jahre noch gestanden,

Mir unerreichbar! – und des Windes Wehen,
   Der Strom entführen seewärts weiter fort
   Des Schiffbruchs Trümmer, welcher dort geschehen.

Ich aber dachte: Nicht an solchem Ort
   Wirst lange die Gefährten du beneiden,
   Die früher ihr Geschick ereilte dort.

Nicht also, – mich, es will nur mich vermeiden!
   Der Vögel Eier reichen hin allein.
   Mein Leben zu verlängern und mein Leiden.

Selbander leb' ich so mit meiner Pein
   Und kratze mit den scharfen Muschelscherben
   Auf diesen mehr als ich geduld'gen Stein:

»Ich bin noch ohne Hoffnung bald zu sterben.«

3. Die andere Schiefertafel

Ich saß vor Sonnenaufgang an dem Strande,
   Das Sternenkreuz verkündete den Tag,
   Sich neigend zu des Horizontes Rande.

Und noch gehüllt in tiefes Dunkel lag
   Vor mir der Osten, leuchtend nur entrollte
   Zu meinen Füßen sich der Wellenschlag.

Mir war, als ob die Nacht nicht enden wollte;
   Mein starrer Blick lag auf des Meeres Saum,
   Wo bald die Sonne sich erheben sollte.

Die Vögel auf den Nestern, wie im Traum,
   Erhoben ihre Stimmen, blaß und blasser
   Erlosch der Schimmer in der Brandung Schaum,

Es sonderte die Luft sich von dem Wasser,
   In tiefem Blau verschwand der Sterne Chor;
   Ich kniet' in Andacht, und mein Aug' ward nasser.

Nun trat die Pracht der Sonne selbst hervor,
   Die Freude noch in wunde Herzen senkt;
   Ich richtete zu ihr den Blick empor: –

Ein Schiff! ein Schiff! mit vollen Segeln lenkt
   Es herwärts seinen Lauf, mit vollem Winde;
   Noch lebt ein Gott, der meines Elends denkt!

O Gott der Liebe, ja, du strafst gelinde,
   Kaum hab' ich dir gebeichtet meine Reu',
   Erbarmen übst du schon an deinem Kinde!

Du öffnest mir das Grab und führst aufs neu'
   Zu Menschen mich, sie an mein Herz zu drücken,
   Zu leben und zu lieben warm und treu.

Und oben von der Klippe höchstem Rücken
   Betrachtend scharf das Fahrzeug, ward ich bleich,
   Noch mußte mir bemerkt zu werden glücken!

Es wuchs das hergetragne Schiff, zugleich
   Die Angst in meinem Busen namenlos;
   Es galt des Fernrohrs möglichen Bereich.

Nicht Rauch! nicht Flaggentuch! so bar und bloß,
   Die Arme nur vermögend auszubreiten!
   Du kennst, barmherz'ger Gott, du fühlst mein Los!

Und ruhig sah ich her das Fahrzeug gleiten
   Mit windgeschwellten Segeln auf den Wogen
   Und schwinden zwischen ihm und mir die Weiten.

Und jetzt –! es hat mein Ohr mich nicht betrogen,
   Des Meisters Pfeife war's, vom Wind getragen,
   Die wohl ich gier'gen Durstes eingesogen.

Wie wirst du erst, den seit so langen Tagen
   Entbehrt ich habe, wonnereicher Laut
   Der Menschenred', ans alte Herz mir schlagen!

Sie haben mich, die Klippe doch erschaut,
   Sie rücken an die Segel, im Begriff
   Den Lauf zu ändern. – Gott, dem ich vertraut!

Nach Süden – –? Wohl! sie müssen ja das Riff
   Umfahren, fern sich halten von der Brandung.
   O gleite sicher, hoffnungschweres Schiff!

Jetzt wär' es an der Zeit! O meine Ahndung!
   Blickt her! blickt her! legt bei! setzt aus das Boot!
   Dort unterm Winde, dort versucht die Landung!

Und ruhig vorwärts strebend ward das Boot
   Nicht ausgesetzt, nicht ließ es ab zu gleiten,
   Es wußt' gefühllos nichts von meiner Not.

Und ruhig sah ich hin das Fahrzeug gleiten
   Mit windgeschwellten Segeln auf den Wogen
   Und wachsen zwischen mir und ihm die Weiten.

Und als es meinem Blicke sich entzogen,
   Der's noch im leeren Blau vergebens sucht',
   Und ich verhöhnt mich wußte und belogen:

Da hab' ich meinem Gott und mir geflucht
   Und, an den Felsen meine Stirne schlagend,
   Gewütet sinnverwirret und verrucht.

Drei Tag' und Nächte lag ich so verzagend,
   Wie einer, den der Wahnsinn hat gebunden.
   Im grimmen Zorn am eignen Herzen nagend;

Und hab' am dritten Tränen erst gefunden
   Und endlich es vermocht, mich aufzuraffen.
   Vom allgewalt'gen Hunger überwunden,

Um meinem Leibe Nahrung zu verschaffen.

4. Die letzte Schiefertafel

Geduld! Die Sonne steigt im Osten auf,
   Sie sinkt im Westen zu des Meeres Plan,
   Sie hat vollendet eines Tages Lauf.

Geduld! Nach Süden wirft auf ihrer Bahn
   Sie jetzt bald wieder senkrecht meinen Schatten,
   Ein Jahr ist um, es fängt ein andres an.

Geduld! Die Jahre ziehen ohn' Ermatten,
   Nur grub für sie kein Kreuz mehr deine Hand,
   Seit ihrer fünfzig sich gereihet hatten.

Geduld! Du harrest stumm am Meeresrand
   Und blickest starr in öde, blaue Ferne
   Und lauschst dem Wellenschlag am Felsenstrand.

Geduld! Laß kreisen Sonne, Mond und Sterne
   Und Regenschauer mit der Sonnenglut
   Abwechseln über dir; Geduld erlerne!

Ein Leichtes ist's, der Elemente Wut
   Im hellen Tagesscheine zu ertragen,
   Bei regem Augenlicht und wachem Mut.

Allein der Schlaf, darin uns Träume plagen,
   Und mehr die schlaflos lange, bange Nacht,
   Darin sie aus dem Hirn hinaus sich wagen!

Sie halten grausig neben uns die Wacht
   Und reden Worte, welche Wahnsinn locken; –
   Hinweg! hinweg! Wer gab euch solche Macht?

Was schüttelst du im Winde deine Locken?
   Ich kenne dich, du rascher, wilder Knabe,
   Ich seh' dich an, und meine Pulse stocken.

Tu bist ich selbst, wie ich gestrebet habe
   In meiner Hoffnung Wahn vor grauen Jahren,
   Ich bin du selbst, das Bild auf deinem Grabe.

Was sprichst du noch vom Schönen, Guten, Wahren,
   Von Lieb' und Haß, von Tatendurst? du Tor!
   Sieh her! ich bin, was deine Träume waren,

Und führest wiederum mir diese vor?
   Laß ab, o Weib! ich habe längst verzichtet,
   Du hauchst aus Aschen noch die Glut empor!

Nicht so den süßen Blick auf mich gerichtet!
   Das Licht der Augen und der Stimme Laut,
   Es hat der Tod ja alles schon vernichtet.

Aus deinem hohlen, morschen Schädel schaut
   Kein solcher Himmel mehr voll Seligkeit;
   Versunken ist die Welt, der ich vertraut.

Ich habe nur die allgewalt'ge Zeit
   Auf diesem öden Felsen überragt
   In grausenhafter Abgeschiedenheit.

Was, Bilder ihr des Lebens, widersagt
   Ihr dem, der schon den Toten angehöret?
   Zerfließet in das Nichts zurück, es tagt!

Steig auf, o Sonne, deren Schein beschwöret
   Zur Ruh' den Aufruhr dieser Nachtgenossen,
   Und ende du den Kampf, der mich zerstöret.

Sie bricht hervor, und jene sind zerflossen. –
   Ich bin mit mir allein und halte wieder
   Die Kinder meines Hirns in mir verschlossen.

O tragt noch heut, ihr altersstarren Glieder,
   Mich dort hinunter, wo die Nester liegen;
   Ich lege bald zur letzten Rast euch nieder.

Verwehrt ihr, meinem Willen euch zu schmiegen,
   Wo machtlos innre Qualen sich erprobt.
   Wird endlich, endlich doch der Hunger siegen,

Es hat der Sturm im Herzen ausgetobt,
   Und hier, wo ich gelitten und gerungen,
   Hier hab' ich auszuatmen auch gelobt.

Laß, Herr, durch den ich selber mich bezwungen,
   Nicht Schiff und Menschen diesen Stein erreichen,
   Bevor mein letzter Klagelaut verklungen.

Laß klanglos mich und friedsam hier erbleichen;
   Was frommte mir annoch in später Stunde
   Zu wandeln, eine Leiche über Leichen?

Sie schlummern in der Erde kühlem Grunde,
   Die meinen Eintritt in die Welt begrüßt,
   Und längst verschollen ist von mir die Kunde.

Ich habe, Herr, gelitten und gebüßt, –
   Doch fremd zu wallen in der Heimat – nein!
   Durch Wermut wird das Bittre nicht versüßt.

Laß weltverlassen sterben mich allein
   Und nur auf deine Gnade noch vertrauen;
   Von deinem Himmel wird auf mein Gebein

Das Sternbild deines Kreuzes niederschauen.

Abelbert v. Chamisso (1829)

 


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