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Ich winkte ein Auto herbei, nahm Abschied von unserem Piloten und fuhr dann mit Viktor nach dem Hotel »Gullfoß«. Dort wollte ich während meines Aufenthalts in der Stadt wohnen. Es ist benannt nach dem herrlichen Wasserfall in Südisland, den wir von Reykjavik aus kennen gelernt hatten.
Man hatte mir gesagt, es seien mehrere gute Hotels in Akureyri. Das beste aber sei das Hotel »Gullfoß«.
Als wir hinkamen, wurden wir von der Wirtin, Frau Rannveig Bjarnadóttir, mit Herzlichkeit empfangen. Frau Rannveig war in jeder Beziehung eine würdige, sehr verständige Matrone. Sie sorgte mütterlich und mit feinstem Takt für uns und für alle ihre Gäste. Wir bekamen ein großes, gut ausgestattetes Zimmer, wo alles peinlichst sauber war.
Die gute Wirtin machte uns gleich mit der Hotelordnung bekannt, namentlich mit den Tischzeiten. Es war nämlich in diesem Hotel Table d'hôte am Mittag und am Abend. Sie fügte aber hinzu: »Sie sind nicht verpflichtet, sich an diese Zeiten und an die Table d'hôte zu halten. Sie sind ganz frei, wie es Ihnen am besten paßt. Und was die Speisen selbst angeht, können Sie bestellen, was Sie wollen.«
»Natürlich werden dann die Preise erhöht«, bemerkte ich.
»O nein«, sagte die Wirtin, »die Preise bleiben dieselben. Jede Person zahlt für Kost und Logis 6 Kronen pro Tag.«
Wir beide fanden diesen Preis außergewöhnlich niedrig. Und diese Auffassung wurde nachher bestätigt; denn unser Zimmer war in jeder Beziehung gut und die Kost sehr reichlich und tadellos zubereitet.
So war ich also wieder in meiner engeren Heimat.
Nach dem Abendessen wollte ich einen ersten Gang durch die Stadt machen. Viktor überließ ich an diesem ersten Abend sich selber.
Es war schon 9 Uhr abends, aber noch heller und lichter als in Reykjavik zur selben Zeit. Beim Verlassen des Zimmers begegnete ich Frau Rannveig im Korridor.
»Ich sehe, Sie wollen ausgehen«, sagte sie.
»Ja, Frau Rannveig, ich will einen kleinen Gang durch die Stadt machen. Es ist lange her, daß ich es getan habe.«
»Dann möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß ich im Hotel einen zwölfjährigen Jungen als Pikkolo habe. Er heißt Frímann und ist ein guter, geweckter und zuverlässiger Junge. Verfügen Sie über ihn, wie wenn er Ihr eigener Diener wäre. Wenn Sie ausgehen, können Sie ihn immer mitnehmen als Führer. Und wenn Sie ihn sonst gebrauchen sollten, um etwas für Sie in der Stadt zu besorgen, so schicken Sie ihn nach Belieben.«
Ich möchte hier gleich bemerken, daß der ausgezeichnete kleine Frímann mir während meines Aufenthaltes im Hotel »Gullfoß« viele wertvolle Dienste leistete. Niemals war er aber dazu zu bewegen, Geld oder sonstige Belohnungen dafür anzunehmen.
Ich dankte der Wirtin, sagte aber, daß ich den ersten kleinen Spaziergang allein machen wolle.
»Ich werde schon meinen Weg finden«, fügte ich hinzu. »Es ist ja nicht das erste Mal, daß ich durch die Straßen von Akureyri gehe. Ich habe hier als Junge gewohnt bis zum Jahre 1870.«
»Guter Gott!« sagte Frau Rannveig. »Das ist ja ein halbes Menschenalter vor meiner Geburt! In dieser langen Zeit müssen Sie doch vieles vergessen haben.«
»O nein, Frau Rannveig, meine Kindheitserinnerungen habe ich noch in ihrer ganzen Frische bewahrt. Ich habe nichts vergessen.«
»Dann wünsche ich Ihnen einen guten und angenehmen Spaziergang.«
Ich verließ das Haus und befand mich gleich darauf auf der Hauptstraße. Die Luft war lau und lind.
Meine Stimmung und meine Gefühle versuche ich aber nicht zu beschreiben …
Ich wollte also ganz allein durch dieselben Straßen, Gassen und Gäßchen gehen, durch welche ich als Kind unzählige Male gegangen und gesprungen war. Ich erkannte sie alle genau wieder, obwohl viel Neues zu dem Alten hinzugekommen war. Ja, jeden Weg, ich könnte fast sagen, jeden Stein, jedes Hügelchen kannte ich noch.
Ich ging ganz langsam südwärts auf die Kirche zu. Denn damals stand mein väterliches Haus, das sogenannte »Paulshaus«, dicht neben der Kirche. Ich wollte sehen, ob es noch da sei.
Ich ging still und ruhig meines Weges und schaute mir alles aufmerksam an. Wie waren die alten Häuser doch verändert gegen früher! In meiner Jugend waren mehrere von ihnen neu erbaut und auch recht nett gewesen; jetzt aber sahen sie ganz veraltet aus, ja einige sogar baufällig.
Wehmütig fragte ich mich, ob mein teures kleines Elternhaus wohl auch so veraltet und baufällig aussehen würde …
Während ich sinnend voranschritt, kam ich an einem größeren, schönen, neuen Gebäude vorbei, links in der Häuserreihe. Ich warf einen Blick hin … in demselben Augenblick wurde eines der Fenster aufgemacht, und eine ältere, vornehm aussehende Dame erschien in der Fensteröffnung. Ich wollte weitergehen, doch die Dame rief aus: »Ach, Nonni!«
Ich war zu sehr überrascht, um gleich antworten zu können. Vielleicht hatte ich mich auch verhört …
Ich schaute die Dame mit einem fragenden Blick an. Sie aber fuhr fort:
»Ich bin sicher, ich täusche mich nicht. Du bist der Nonni.«
»Ich habe dich doch früher hier in Akureyri gekannt. Ich heiße Dómhildur. Verzeihe mir, Nonni, daß ich dich zu einer so späten Stunde in dieser Weise belästige und aus dem Fenster anrede. Das ist sonst nicht meine Gewohnheit. Aber ich wurde so ergriffen, als ich dich vorbeigehen sah. Nun bitte ich dich, komm doch morgen und besuche mich. Wir müssen miteinander sprechen.«
Selbstverständlich versprach ich, am folgenden Tage zu ihr zu kommen.
Bevor ich weitergehen wollte, erinnerte mich Frau Dómhildur noch an einen unserer früheren, gemeinsamen Spielkameraden.
»Kannst du dich noch an den kleinen Magnús Kristjánsson erinnern«, fragte sie mich, »der auch immer mit uns spielte und der ein so tüchtiger und begabter Junge war?«
»Ja, ich kann mich gut an ihn erinnern«, erwiderte ich. »Er war erst acht Jahre alt, als ich ihn hier kennenlernte.«
»Später haben wir uns geheiratet«, fuhr Frau Dómhildur fort. »Er wurde Finanzminister. Aber er ist vor anderthalb Jahren gestorben. Das ist unser Haus. Ich lebe hier als Witwe mit meiner Tochter … Aber morgen werden wir von allen diesen Dingen weiter sprechen.« So schloß sie.
Wir wünschten einander eine gute Nacht und ein fröhliches Wiedersehen für den folgenden Tag.
Ich setzte meinen Gang durch die Straßen der kleinen Stadt fort. Die Kindheitserinnerungen strömten auf mich ein von allen Seiten und überwältigten mich.
Wieder war es mir, als wenn ich meine teure Vaterstadt überhaupt niemals verlassen hätte. Wieder kamen mir die letzten sechzig Jahre meines Lebens wie ein Traum vor. Es schien mir, als ob ich auf dem Heimwege wäre, auf dem Wege nach Hause, zu meiner Mutter, wie so oft in meiner Kindheit, und ich hätte einen Ausflug gemacht, diesmal von etwas längerer Dauer als die gewöhnlichen.
Nach wenigen Schritten hatte ich auch die Kirche erreicht. Sie sah gerade noch so aus wie damals.
Und endlich kam das schwarz und weiß angestrichene »Paulshaus«, mein trautes Elternhaus! …
Ich blieb stehen. Das Haus, mein eigenes Haus, stand wirklich da – und zwar mit allem, was es auch damals umgab. Da war der Brunnen rechts vor dem Haus, dort oben war der Kuhstall, und die Scheune – und der kleine Garten links. Ja, alles fand und erkannte ich wieder …
Aber das Haus selber, du guter Gott! Wie war es doch verändert! Es sah ungeheuer alt aus, gänzlich verwittert und auch vernachlässigt und verfallen. Sicher war es niemals angestrichen worden seit meiner Abreise im Jahre 1870. Ja, es sah so verfallen und verwahrlost aus, daß ich mich meines lieben Elternhauses fast schämte.
Daneben stand ein anderes, größeres, neues und nettes Gebäude. Das war sicher bewohnt. In dem »Paulshaus« aber konnte niemand mehr wohnen. Wahrscheinlich diente es als eine Art Scheune oder Lagerhaus für die Bewohner des neuen Gebäudes. Während ich so dastand, ging plötzlich die Türe des größeren Hauses auf. Ein älterer Mann trat heraus und grüßte mich freundlich. Ich sagte ihm, wer ich sei, und drückte den Wunsch aus, einen Augenblick in mein Elternhaus hineingehen zu dürfen.
»Aber herzlich gern«, sagte der Mann.
Er führte mich hinein. Es war – wie ich geahnt hatte – unbewohnt und diente als Lagerhaus für die Bewohner des Nachbarhauses.
Ich fand aber und erkannte alle Räume wieder. In den drei Stuben unten hatten meine Eltern gewohnt und in der Eckstube das Dienstmädchen. Oben fand ich mein eigenes kleines Schlafzimmer wieder. Daneben ein besseres Zimmerchen, das meinem Vater als Büro diente. In diesem Zimmer war er auch gestorben. Da oben war alles in demselben Zustand wie damals.
Hier hatte ich einen großen Teil meiner seligen Jugendzeit zugebracht. Und wo war die ganze glückliche Familie jetzt? Nur zwei waren noch am Leben: Fridrik und ich. Alle übrigen lagen schon lange in ihren Gräbern: mein Vater hier in Akureyri, meine Mutter in Kanada, meine Schwester Bogga in Kopenhagen, Manni in Löwen.
Ich dankte dem freundlichen Manne und verließ alsbald gedankenvoll das Haus.
Ich schritt weiter durch die Stadt hin, und trotz der späten Abendstunde traf ich noch zwei weitere Spielkameraden aus alter Zeit: einen damals frischen kleinen Jungen, der aber jetzt ein Greis geworden war mit schneeweißem Haar, und ein damals liebes kleines Mädchen, jetzt aber eine ehrwürdige, sehr gebückte alte Frau.
Es war schon 10 Uhr vorüber, als ich zum Hotel »Gullfoß« zurückkam.
Ich ging zu Bett. Wegen meiner Gemütsstimmung dauerte es aber lange, bis ich einschlafen konnte.
Wenn ich alles – wie schon öfters bemerkt – umständlich erzählen wollte, was ich in den folgenden Tagen und Wochen in Akureyri und in der Umgebung erlebte, dann würde der Raum, der mir noch zur Verfügung steht, bei weitem nicht ausreichen. Ich muß mich deshalb kürzer fassen, als ich es wünschte.
Die Wochen vergingen mit vielen, schönen Ausflügen, Autofahrten und Ritten in die überaus malerischen, aber großzügigen und ernsten Gegenden Nordislands, besonders solche, die ich früher als Junge besucht hatte.
Mödruvellir, Skipalón und andere Bauernhöfe und Güter, wo ich in meiner Jugend gewesen war, wurden besucht.
Auch mußte ich viele Einladungen von Freunden und alten Bekannten annehmen, die mir ihre Freundschaft bezeigen wollten.
Die Ehrenbeweise aber, die mir hier in meiner engeren Heimat von allen Seiten zuteil wurden, beschämten mich und gingen weit über das hinaus, was ich verdiente.
Der lieben Menschen, die darin wetteiferten, mir den Aufenthalt in Nordisland so angenehm wie möglich zu machen, werde ich stets in dankbarer Gesinnung gedenken.
Am zweiten Tag kam der Herr Bürgermeister von Akureyri zu mir, um mich zu begrüßen und mir zu danken, daß ich durch meine Bücher dazu beigetragen habe, nicht nur die Stadt Akureyri, sondern auch das ganze Land draußen in der Welt mehr bekannt zu machen. Er lud mich zu einem Ausflug nach dem andern ein, und nicht nur zu kurzen Ausflügen, sondern auch zu solchen, die mehrere Tage dauerten. Und immer ging er selber mit als Führer und sorgte auf das beste für uns.
Ich werde stets mit tiefem Dank an seine Freundlichkeit und Güte denken.
Nicht nur eines, sondern mehrere Autos waren für einige dieser Ausflüge zur Verfügung gestellt; denn außer dem Bürgermeister fuhren manchmal seine Gemahlin und noch viele andere Personen mit.
Während ich in Akureyri weilte, kam auch der Herr Ministerpräsident Tryggvi Thorhallsson mit Frau und Kindern dorthin. Sie wohnten ebenfalls im Hotel »Gullfoß« und blieben mehrere Tage da.
Auch diese vornehme Familie lud uns öfters zu Ausflügen ein. Und wie in Reykjavik, so konnte ich auch hier das feine Auto des Herrn Ministerpräsidenten frei benützen.
In meiner Jugend wurden alle Reisen zu Pferd gemacht. Auch dieses Vergnügen fehlte uns jetzt nicht.
Schon am zweiten Tage unseres Aufenthaltes in Akureyri kam ein freundlicher, guter Bauer zu uns. Er hieß Kristján. Ich empfing ihn auf meinem Zimmer. Als er Platz genommen hatte, sagte er:
»Hätten Sie vielleicht Lust, einige Ihrer Ausflüge zu Pferd zu machen statt im Auto?«
»Gewiß«, erwiderte ich ihm, »und ganz besonders würde es dem deutschen Jungen, der mit mir reist, Freude machen, wenn er ab und zu reiten dürfte.«
»Ja, das war es, was ich mir gedacht hatte. Ich habe mehrere gute Reitpferde hier auf der Weide. Ich stelle sie alle zu Ihrer Verfügung, so oft Sie oder der deutsche Junge hinausreiten wollen. Und da ich die ganze Gegend kenne, biete ich mich für jede Reise als Führer an.«
Viktor war hocherfreut, als er das hörte, und es wurde sofort für den folgenden Tag zwischen ihm und Kristján ein langer Ritt verabredet. Da ich vieles in der Stadt zu tun hatte, blieb ich zu Hause. So ritt Viktor mit dem zuverlässigen Führer am nächsten Morgen in der Frühe hinaus. Kristján wollte den Jungen nach »Grund«, einem berühmten Gute im südlichen Eyjafjördur, führen.
Am Nachmittag gegen 1 Uhr wurde ich ans Telephon gerufen:
»Hallo!« rief ich, »hier Jón Svensson, Hotel Gullfoß.«
»Hier Viktor und Kristján«, wurde mir geantwortet. »Wir sind gut in ›Grund‹ angekommen«, berichtete Viktor. »Zweimal haben wir zu Pferd den Fluß Eyjafjardará durchquert. Empfang auf dem Hofe großartig! Wir bleiben hier noch eine Weile, um zu Mittag zu essen. Spät abends kommen wir zurück.«
»Also geht alles gut? Und du bist mit eurem Ausflug zufrieden?«
»Ja. Es ist fabelhaft.«
Zur angegebenen Zeit kamen die beiden Reiter zurück. Viktor war hochbegeistert. Ich fragte den guten Bauer, ob er sich mit dem Jungen isländisch habe unterhalten können.
»Ganz gut«, erwiderte er, »wenn wir auch manchmal ein wenig Mühe hatten, ins reine zu kommen.«