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Nach einer Weile bekam ich Lust, die Einrichtungen des Schiffes mir noch einmal anzusehen. Ich machte daher einen Rundgang durch die unteren Räume.
Der Speisesaal, die kleinen Salons und die Gesellschaftsräume, die Gänge, die Kabinen, der Maschinenraum … alles war vollkommen modern eingerichtet. Ja es war alles so modern, daß darüber eigentlich gar nichts Besonderes zu berichten ist. Alles bequem, zweckmäßig und elegant – genau so, wie es heute auf allen Dampfern dieser Art üblich ist. Von einer speziell isländischen Eigenart war nirgendwo auch nur das Geringste zu sehen.
Ich war wenig darüber erstaunt. Denn ich wußte, daß die alte Sagainsel, das Wunderland am Polarkreis, gerade jetzt daran war, ganz modern zu werden.
Ich verließ die unteren Räume und begab mich nach oben auf Deck.
Es war ein herrliches Wetter, alles in hellem, lindem, warmem Sonnenschein gebadet.
Ich stellte mich an die Reling, das Schiffsgeländer, und ließ wieder meine Blicke über die unermeßliche Meeresfläche schweifen.
Das Land war jetzt vollständig verschwunden. Es war nichts anderes mehr zu sehen als nur das Meer und der azurblaue Himmel, der sich darüber wölbte. Das und das Schiff sollte nun für eine geraume Zeit unsere Welt sein.
Wie klein fühlt sich der Mensch inmitten so großer Umgebung!
Auf der unendlichen Wasserfläche waren da und dort dunkle sowie auch helle Punkte sichtbar. Es waren Schiffe, die wie wir auf der Fahrt waren, irgendwohin nach fernen Städten und Landen.
Die dunklen Punkte waren Dampfer. Über ihnen schwebten in leichten Linien dunkle Rauchwolken, wie sie auch aus den beiden blau-weißen Schornsteinen der »Brúarfoß« unaufhörlich hoch in die Luft hinaufqualmten.
Die hellen Punkte aber sahen viel schöner aus – ähnlich wie Möwen, die hart über den Meeresfluten dahinschweben. Das waren Segler, große und kleine. Diese nahmen meine Aufmerksamkeit noch viel mehr gefangen als die andern, denn sie erinnerten mich lebhaft an die herrlichen Fahrten, die ich gerade mit solchen Segelschiffen in meiner Jugend gemacht hatte, und zwar in eben diesen Gewässern und auf dieser Strecke, auf der wir uns jetzt befanden.
Auf einmal, während ich in Betrachtung vertieft so dastand, legte sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter.
Ich wandte mich rasch um.
Hinter mir stand ein junger Herr, mit dem ich zwar noch nicht gesprochen, den ich aber doch unten im Speisesaal während des Mittagsmahles an einem der etwas entfernteren Tische gesehen hatte.
Er schaute mich mit einem vertraulichen Lächeln an und sagte:
»Verzeihen Sie, wenn ich Sie störe. Ich wollte mich Ihnen nur vorstellen als einen eifrigen und sehr interessierten Leser Ihres Buches ›Nonni‹!«
»Nonni!« rief ich überrascht aus. »Sie haben mein Buch ›Nonni‹ gelesen?«
»Ja, gewiß, ich habe es vor kurzem gelesen – und zwar gerade wegen meiner bevorstehenden Islandreise. – In dem Buch wird erzählt, daß Nonni als zwölfjähriger Junge diese Reise gemacht hat. Und nun habe ich soeben gehört, daß der Nonni selber hier an Bord sei, und daß Sie es sind. Da bekam ich Lust, mit Ihnen einige Augenblicke zu sprechen und mich über die Reise zu informieren. Es ist nämlich das erste Mal, daß ich nach Island reise.«
»Ich fürchte, mein Herr, daß Sie aus meiner damaligen Reise nur sehr wenig für Ihre jetzige Islandfahrt lernen können. Denn es ist lange her, daß ich die Reise gemacht habe, die ich in dem Buch beschreibe. Damals waren aber die Umstände und alle Reisebedingungen ganz anders als jetzt.«
»Ich habe aber doch schon vieles aus Ihrem Buch für diese Reise gelernt.«
»Nun, es freut mich, wenn das der Fall ist. Aber, wie gesagt, unsere jetzige Islandreise geht ganz anders vor sich als die meinige damals. Damals zum Beispiel, um nur eines zu nennen, brauchte ich fünf Wochen, um von Island nach Dänemark zu gelangen. Wir aber werden kaum fünf Tage gebrauchen, um von Schottland aus Island zu erreichen.
Und wie verschieden waren die Schiffe damals, und wie ganz anders war die Verpflegung!
Damals machte ich die Reise auf einem winzig kleinen Segelschiff und war während der Stürme in der Kajüte des Kapitäns eingesperrt. Hier aber auf der vielmals größeren ›Brúarfoß‹ haben wir alle Bequemlichkeiten, die wir uns nur wünschen können.
Damals war ich während der ganzen Reise von der übrigen Welt vollständig abgeschlossen. Hier aber auf der ›Brúarfoß‹ erfahren wir täglich durch drahtlose Telegraphie das Neue aus der ganzen Welt.
Damals gerieten wir auf dem kleinen ›Valdemar von Rönne‹ plötzlich und unvorbereitet in die fürchterlichsten Stürme hinein. Hier aber auf der ›Brúarfoß‹ wissen wir durch telegraphische Nachrichten ganz genau, was für Wetter zu erwarten ist rund um uns herum, und können zeitig alle nötigen Maßnahmen treffen.«
»Sie haben recht«, sagte der junge Herr. »Ihre damalige Reise kann mit der heutigen nicht verglichen werden. Aber die Verhältnisse auf der Insel Island sind wohl einigermaßen dieselben wie damals?«
»Die Verhältnisse auf der Insel Island!« rief ich aus. – »Was das angeht, so ist es ganz natürlich, daß Sie meinen, auf Island sei jetzt noch alles ungefähr wie vor sechzig Jahren. Das meinen fast alle Fremden, die nach Island kommen. Die Wahrheit aber ist, daß sich auf Island in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren alles vollständig geändert hat. Eine geradezu erstaunliche Umwälzung sozusagen aller Verhältnisse ist dort in kürzester Zeit vor sich gegangen. Ja, diese Umwälzung ist so groß, daß man sie kaum begreifen kann. Ich will ihnen nur ein paar Punkte anführen:
Als ich noch in Island lebte, gab es kein anderes Beförderungsmittel als das Pferd. Alle Reisen wurden zu Pferd gemacht. Es gab keine Wagen, alle Waren wurden auf dem Pferderücken transportiert. Fahrwege, Landstraßen waren unbekannte Dinge. Nicht eine Elle Fahrweg gab es damals auf ganz Island, – nur schmale Pfade, auf denen die Pferde liefen …
Und jetzt? Ein paar tausend Kilometer Autostraßen sind in den letzten Jahren gebaut worden. Und auf diesen Straßen sausen Tausende von erstklassigen Autos kreuz und quer über die ganze Insel.
Damals war das ganze Volk arm. Handel und Industrie gab es kaum. Im Meer um die Insel herum wimmelt es von Fischen. Es ist dort das reichste Fischgebiet der Welt. Da die Isländer aber keine Schiffe besaßen, konnten sie keine Hochseefischerei treiben. Nur Fremde, hauptsächlich Franzosen, holten sich jedes Jahr Fische im Werte von vielen Millionen aus dem isländischen Meergebiet heraus.
In den letzten Jahren hat das sich total geändert. Die Isländer haben sich eine vortreffliche moderne Fischereiflotte verschafft, große Dampfschiffe, und fischen nun selber so eifrig und geschickt, daß sie jährlich ungefähr 100 Millionen Mark durch die Fischerei allein verdienen.
Und so könnte man fortfahren ins Unendliche.«
»Dann ist das Land also gänzlich modernisiert?«
»Ja, das kann man wohl sagen, – oder wenigstens steht es mittendrin, es zu werden.«
»Dann wird es besonders für Sie, der die früheren Zustände auf der Insel so gut kannte, höchst interessant sein, die großen Veränderungen und die Umwandlung aller Verhältnisse nun mit eigenen Augen zu sehen.«
»Darin haben Sie recht, mein Herr, und ich bin sehr gespannt auf all das Neue, das ich bald auf meiner Heimatinsel zu sehen bekommen werde.
Übrigens, wie schon gesagt, ist die Modernisierung des Volkes und des Landes noch lange nicht fertig, – und gerade das ist das Eigenartige dabei. Was wir dort sehen werden, ist eine höchst eigentümliche Gärung. Überall wird man das Alte neben dem Neuen sehen. Uralte Bauernhöfe neben stattlichen, ganz modernen ›Farmen‹, kleine Hütten und Häuschen neben großen, schönen, modernen Bauten; Bauersleute, Männer, Frauen und Kinder, in uralten normannischen Trachten, neben Leuten, die sich nach der neuesten Pariser Mode kleiden. Die alte und die neue Zeit sieht man da nebeneinander, Seite an Seite.«
»Alles das wird sicher höchst interessant sein. Sie werden wohl die Städte und Orte besuchen, wo Sie früher als Kind lebten, und die ich nun auch aus Ihrem Buche einigermaßen kenne, wie z. B. die Hafenstadt Akureyri, Mödruvellir, den Eyjafjördur und so vieles andere.«
»Gewiß werde ich das. Ich werde vor allem einen Besuch machen auf dem Hofe Mödruvellir, wo ich geboren bin, dann auf Skipalón, wohin ich oft, namentlich zu Weihnachten, als Kind eingeladen wurde, und an vielen andern Stätten, die mir aus meiner Kindheit bekannt und teuer sind. Oh, ich werde mich dort an meinen herrlichen, sonnigen Jugenderinnerungen erfreuen und förmlich darin schwelgen!«
»Und dann auch wieder jung werden«, fügte der freundliche Herr lächelnd hinzu.
»Ja, das hoffe ich«, erwiderte ich ihm. »Ich glaube, daß ich nach dieser Reise bedeutend jünger und frischer sein werde, als ich vorher war.«
Wir fuhren noch eine Weile mit unserem Gespräch fort, bis schließlich ein kräftiges Läuten zum Tee unserer Unterredung ein Ende machte.