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39. Die Fahrt nach Thingvellir. – Universitätsprofessor Craigie über die Zukunft Islands. Ankunft in der märchenhaften Zeltstadt. Freundliche Pfadfinder führen mich zu meinem Zelt.

Anfangs ging die Fahrt nur langsam voran. Der ausgedehnte Wagenzug, der einer schwarz glitzernden Riesenschlange glich, mußte sich erst durch verschiedene Straßen der Stadt hindurchwinden, bald nach links, bald nach rechts sich wendend. Ich schaute bei den Biegungen aus dem Fenster des Autos, konnte aber weder den Anfang noch das Ende des Zuges sehen.

Obgleich wir uns schon zwischen 10 und 11 Uhr nachts befanden, war die Luft immer noch hell, und der westliche Himmel stand immerfort wie in Feuer und Flammen, purpurn und golden glänzend.

Professor Craigie und seine Gattin schienen wie ich in staunender Bewunderung zu sein. Sie konnten nicht genug die Herrlichkeit der nordischen Sommernacht bewundern.

Es wurde kaum etwas geredet. Wir fühlten alle, daß wir uns gegenseitig in unsern Betrachtungen nicht stören durften. Es war eine feierliche, weihevolle Stimmung über uns gekommen.

Wir rollten jetzt in die weite Lavalandschaft hinaus, welche die Stadt Reykjavik umgibt. Die Aussicht wurde frei, keine Häuser, keine sonstigen Hindernisse mehr.

Aber welche Landschaft! Nicht Felder, nicht Acker, nicht Wiesen, nicht Gärten … nichts als eine endlose Lavawüste! Überall, wo man hinschaute, nur Lavablöcke, große und kleine, dazwischen Steingeröll … Das war der erste Eindruck.

Wenn man aber genauer zusah, entdeckte man doch schließlich da und dort grüne Flecke mit einer dunkeln oder hellen Masse oder, bei großer Entfernung, einem schwarzen Punkt in der Mitte. Es waren von Gärten oder Wiesen umgebene Ansiedelungen, Bauernhöfe und Landhäuser.

Also konnte doch eine solche vulkanische Wüste in fruchtbares Gelände verwandelt werden.

Professor Craigie wußte genau Bescheid in diesen Dingen.

»Durch richtige Behandlung«, sagte er zu mir, »können die weit ausgedehnten isländischen Lavawüsten zu gutem, fruchtbarem Land gemacht werden. Es ist möglich, daß Island mit der Zeit eines der reichsten Länder Europas wird.«

Frau Professor Craigie starrte in die Wüste hinein, schüttelte den Kopf und sagte zu ihrem Mann:

» I have never seen so many stones in my whole life.« Das war eine richtige und interessante »Beschreibung« des vulkanischen Geländes.

 

Je weiter wir vorankamen, desto wilder und großzügiger wurde die Landschaft. In der Ferne links und rechts sah man bald wild zerklüftete Berge sich hoch in die Lüfte erheben.

Es dauerte nicht lange, da sahen wir vor uns eine gewaltige, große Bergwand, die steil in die Höhe stieg.

Der lange Wagenzug steuerte trotzdem direkt darauf zu.

»Wie werden die Autos da hinaufkommen?« äußerte Frau Professor Craigie.

Ich nahm mein Fernglas und schaute nach vorn. Bald entdeckte ich, daß die Autostraße wie in Serpentinen von Terrasse zu Terrasse in die Höhe geführt war. Bald waren wir am Fuße des Berges angelangt, und nun ging es ohne Schwierigkeit auf die gesagte Weise in die Höhe.

Als wir beträchtlich gestiegen waren, ging der Weg geradeaus an der linken Seite des Berges hin und mündete in eine ausgedehnte Ebene. Wir waren nicht auf einer Bergkuppe, sondern auf einem Hochplateau angelangt.

Auf dem Hochplateau konnte man da und dort Schafe sehen, die sich selbst überlassen waren. Es fehlte hier nicht an Gras. Die starken und kräftigen Tiere konnten also leicht ihr Leben fristen.

Auf einmal merkten wir, daß das Wetter sich geändert hatte. Der bis dahin klare Himmel hatte sich mit Wolken überzogen, und ein feiner Regen fing an langsam auf die Erde niederzuträufeln. Trotzdem war es noch immer hell; nur die zauberhaften Farben waren verschwunden.

»Werden Sie heute nacht in einem Zelt schlafen?« fragte ich zwischenhinein den Herrn Professor.

»Nein«, antwortete er. »Ich werde während der drei Tage in dem Bauernhof Kárastadir wohnen. Der Hof liegt in sehr geringer Entfernung von Thingvellir.«

Gerade während wir davon sprachen, schaute Professor Craigie aus dem Wagenfenster und rief: »Dort vorne liegt Kárastadir. Man kann die Gebäude schon deutlich sehen.«

Auch ich schaute hinaus und sah den Hof. Es waren – nach isländischen Verhältnissen – stattliche Gebäude aus Zementblöcken.

Kurz darauf bog der Chauffeur etwas vom Wege ab, um den Herrn Professor mit Gemahlin aussteigen zu lassen. Auch ich verließ den Wagen. Ein Junge vom Hof, der in der Nähe auf den berühmten Gast wartete, kam herangelaufen, nahm den Reisekoffer in Empfang und bat die Ankömmlinge, ihm zu folgen. Ein schmaler Fußweg führte nach dem Hofe.

Ich nahm herzlich Abschied von meinen beiden Reisegefährten und stieg darauf wieder in den Wagen.

 

Das Auto sauste sofort weiter in rascher Fahrt und reihte sich wieder in den Zug ein. Wir fuhren nun noch eine gute Weile über die Hochebene hin und drangen dann, am jenseitigen Gebirgsabfall wieder hinabsteigend, in die berühmte Felsenkluft »Almannagjá« (»Allmännerschlucht«) ein, die ich 36 Jahre vorher auf meiner damaligen Islandreise zum ersten Male gesehen und auch in meinem Buch »Zwischen Eis und Feuer – Ein Ritt durch Island« beschrieben habe.

Als wir aus der Almannagjá herauskamen, lag das ganze märchenhafte Zeltlager auf Thingvellir vor unsern Blicken da: Tausende von schneeweißen Zelten! Ein wundervoller Anblick! Eine riesige Nomadenstadt, groß genug, um dreißig- bis vierzigtausend Menschen bequem zu beherbergen!

Thingvellir – die Thingebene – ist die berühmte historische Stätte, wo vor tausend Jahren das älteste Thing oder, wie wir heute sagen, Parlament von normannischen Edlen gegründet wurde. Sie ist die ehrwürdigste Stätte Islands, ja eine der ehrwürdigsten Stätten der ganzen germanischen Welt.

Ich dachte an die Märchen von »Tausend und eine Nacht«, während wir uns der weißen Stadt näherten. Es kam mir auch die Erinnerung an das israelitische Volk auf seiner Wanderung durch die Wüste, als es auch in Zelten leben mußte.

Jetzt drang unser Auto durch eine Straße hinein. Überall ein ungeheures Menschengewoge, Männer, Frauen und Kinder. Es war gegen Tagesscheide, aber noch hell wie am Mittag. Wie es schien, hatte sich niemand zur Ruhe begeben. Überall Verkehr und Gedränge, überall Sprechen, Rufen und Lachen. Wir durchfuhren Straßen und überquerten Plätze, bis schließlich das Auto wieder anhielt. Der dritte Reisegefährte, mit dem keine Unterhaltung möglich war, wurde aufgerufen. Ein kräftiger Pfadfinderknabe mit roten Backen und lächelndem Gesicht bemächtigte sich der Reisetasche des Gastes, der stumm nickend hinausging, und führte ihn nach seinem Zelt.

Ich saß jetzt allein im Auto. Wieder setzte sich der Wagen in Bewegung. Neue Gassen und neue Plätze; überall dasselbe Leben und dieselbe Bewegung.

Plötzlich sah ich es im Vorblick von verschiedenen Farben schimmern: Rot, Blau, Weiß, Silber und Gold … Was mochte das sein?

Ich schaute genauer hin und erkannte nun eine größere Anzahl Kinder in den schönen altisländischen Nationaltrachten – Kleider aus roter, blauer und weißer Seide, reich verziert mit goldenen und silbernen Spangen und allerlei Schmuck aus Filigranarbeit.

»Wann werden diese Kinder den nötigen Schlaf bekommen?« fragte ich mich.

Nun, so ein Fest kommt nicht oft vor … Das nächste wird erst wieder nach tausend Jahren gefeiert werden!

Endlich hielt mein Auto endgültig. Der Chauffeur sprang herunter, machte den Wagenschlag auf, und wieder kam ein Pfadfinder auf uns zu – gefolgt von einem zweiten.

»Herr Jón Svensson, nicht wahr?« frägt er.

»Ja«, gebe ich zur Antwort.

Ohne weiteres nimmt er meine Reisetasche in die Hand und gibt mir ein Zeichen, ihm zu folgen.

»Halt! Einen Augenblick noch«, bat ich ihn, und aus alter Gewohnheit vom Festland her holte ich meinen Geldbeutel aus der Tasche, denn der Chauffeur mußte doch sein Trinkgeld haben. Wie ich es ihm hinreiche, machte er eine entschiedene abwehrende Bewegung und sagte: »Hier werden keine Trinkgelder angenommen.«

Ein wenig beschämt steckte ich mein Geld wieder in die Tasche und dankte dem Mann für seine guten Dienste. Dann folge ich dem Jungen. Er führt mich in ein neues Stadtviertel hinein, das aus Hunderten von weißen, kleineren Zelten bestand, alle von derselben Form und derselben Größe.

»Das sind die Einzelzelte, jedes Zelt nur für einen Gast«, erklärte mein kleiner Führer. »Sie sind ausschließlich für die Landesgäste bestimmt.«

Bald blieb er vor einem der Zelte stehen mit den Worten: »Hier ist Ihr Zelt.«

Er schob das Tuch zur Seite, das vor den Eingang gespannt war, und ließ mich eintreten. Er selber kam nach und stellte meine Handtasche auf einen Stuhl nahe beim Eingang. Mit dem ihm angebotenen Trinkgeld machte ich die gleiche Erfahrung wie bei dem Chauffeur, und es blieb mir auch hier nur übrig, für den geleisteten Dienst freundlich zu danken. Doch fragte ich ihn noch, wie viele Pfadfinder bei der Tausendjahrfeier in Tätigkeit seien.

»Wir sind einige hundert«, entgegnete er, »teils in Reykjavik teils hier auf Thingvellir. Wir tun allerlei Dienste und müssen auch der Polizei helfen.«

»Und wieviel Polizisten sind beim Feste tätig?«

»Auch einige hundert.«

Ich wollte ihn nicht länger hinhalten und reichte ihm die Hand zum Abschied mit nochmaligem Dank.


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