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Bei Tisch sprach man von den Ereignissen des Tages und von den kommenden Festlichkeiten.
»In den nächsten acht Tagen«, sagte der Bischof zu uns, »werden wir nicht viel freie Zeit haben. Morgen erwartet man den König von Dänemark, der ja, wie Sie wissen, auch König von Island ist, und mit ihm seine Gemahlin, dann den Kronprinzen von Schweden nebst größerem Gefolge. Diese Herrschaften kommen auf dem dänischen Kriegsschiff ›Niels Juel‹. Um dieselbe Zeit kommt auch der größte dänische Amerikadampfer ›Hellig Olaf‹ und bringt uns eine Unmenge vornehmer skandinavischer Gäste, auch sehr viele Universitätsstudenten aus den drei skandinavischen Ländern. Man erwartet weiterhin stündlich große Dampfer aus Kanada mit vielen hundert amerikanischen Gästen.«
Nun wandte sich der Bischof speziell an mich und sagte: »Vielleicht kommt mit den Amerikanern Ihr Bruder Fridrik aus Winnipeg.«
»Das wäre aber eine Freude für mich«, gab ich zur Antwort. »Es ist lange her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Mehr als sechzig Jahre. Er war damals ein kleines Kind.«
»Dann ist er wohl als Kind nach Amerika ausgewandert?«
»Ja, hochwürdigster Herr, so ist es. Er hat fast sein ganzes Leben in Amerika zugebracht. Er ist sozusagen ein reiner Amerikaner geworden.«
»Wo hat er seinen Wohnsitz?«
»In Winnipeg in der Provinz Manitoba. Und zwar hat er fast immer da gewohnt.«
»Nun, da wollen wir hoffen, daß er in den nächsten Tagen kommt und daß Sie mit ihm zusammentreffen.«
Bevor wir uns erhoben, erinnerte uns der Bischof an unsern Besuch auf dem französischen Kriegsschiff, bei dem er uns begleiten wollte. »Heute abend spät müssen wir unten an der Landungsstelle sein. Dort wird eine Schaluppe vom Schiff auf uns warten. Und du, Viktor, kommst ja mit. Natürlich ziehst du deine Herdersche Uniform an. Die Franzosen werden Augen machen, wenn sie einen so schmucken deutschen Jungen sehen.«
Als wir uns nachher in meinem Zimmer in bequeme Lehnstühle gesetzt hatten, merkte ich an dem Gesicht des Jungen, daß ihn etwas drückte.
»Bist du nicht gespannt, Viktor, auf unsern Besuch bei den Franzosen?« fragte ich ihn. »Die ›Suffren‹ ist eines der feinsten Schiffe der französischen Kriegsflotte. Da wirst du viel Interessantes sehen können.«
»Ich würde mich schon auf diesen Besuch freuen, aber die Sache hat einen Haken, – wenigstens, was mich angeht.«
»So, und was ist das für ein Haken?«
»Ja, wissen Sie, die Franzosen haben vielfach nicht gerade übermäßig liebevolle Gefühle für uns Deutsche … Wenn nun die vom Schiff erfahren, daß ich ein Deutscher bin, da bin ich in ihren Augen ein ›Boche‹, und Sie wissen, was das bedeutet.«
»Aber, Viktor, ich bitte dich: Du kannst sicher sein, daß die Franzosen dich mit der größten Höflichkeit und Freundlichkeit behandeln werden, auch wenn sie hören, daß du ein Deutscher bist.«
Viktor schaute mich ein wenig ungläubig an. Ich merkte wohl, daß meine Worte ihn nicht ganz beruhigten. Nach einer Pause sagte er:
»Das kann ja sein … Aber so ganz sicher ist es doch nicht.«
Es tat mir leid, daß diese – wie mir schien – ganz unbegründete Furcht die Freude Viktors an dem so interessanten Besuch vermindern oder ihn gar fernhalten würde. Ich suchte deshalb nach besseren Gründen, um ihn zu beruhigen.
Es dauerte nicht lange, da kam mir ein guter Gedanke.
»Hör mal, Viktor«, sagte ich ihm, »ich weiß jetzt schon, was wir tun. – Es ist wahr, die Franzosen werden sehr wahrscheinlich fragen, woher du seist. Aber beruhige dich, und laß mich ihnen auf diese Frage die Antwort geben. Ich werde ihnen sagen: Mon jeune compagnon de voyage est un collégien de Fribourg. Das heißt, wie du schon verstanden hast: Mein junger Reisegefährte ist ein Gymnasiast aus Freiburg. Dann hast du deine Ruhe. Denn die Franzosen werden sofort überzeugt sein, du seiest aus Freiburg in der Schweiz. Sie kennen nämlich mit wenig Ausnahmen nur dieses Freiburg. Also werden sie dich für einen Schweizer Gymnasiasten halten.«
»Sind Sie Ihrer Sache sicher?« fragte Viktor.
»Ganz und gar. Keiner von ihnen wird an das deutsche Freiburg denken. Darauf kannst du dich verlassen.«
Dies beruhigte schließlich den Jungen. Und nun war seine Freude über den bevorstehenden Besuch ebenso groß wie die meinige.
Diese Sache war also glatt. Ich hatte aber auch meinerseits etwas auf dem Herzen, das ich mit Viktor besprechen wollte.
Meine Notizen über unsere Reiseerlebnisse hatten einen beängstigenden Umfang angenommen. Wenn das so weiter ging, würden sie ein zu großes Buch abgeben, und meine Leser würden zuviel Geld dafür ausgeben müssen.
Was sollte ich tun? Diese Frage gehörte in Viktors Fach, und darum wollte ich sie mit ihm zusammen lösen.
»Ich meine«, sagte Viktor nach kurzer Überlegung, als ich ihm die Sache vorgetragen hatte, »das ist so etwas wie mit dem Ei des Kolumbus. Es wird eben einfach nötig sein, daß Sie weiterhin die Notizen und damit den Text des Buches kürzer fassen, mehr wirklich tagebuchartig, und auf das verzichten, was eigentlich nur Wert hätte für uns, die wir es erleben, solchen aber weniger haben wird für eine unbeteiligte Leserwelt. Und was Sie bis jetzt schon niedergeschrieben haben, werden Sie eben kürzenderweise zu Hause überarbeiten müssen, so daß in allem tunlichste Gleichmäßigkeit herrscht.«
»Angenommen mit Dank!« erwiderte ich auf den in seiner Einfachheit überaus plausiblen Rat. »Ich mache den Vorsatz, mich von jetzt ab zu beschränken und mein möglichstes zu tun, damit mein Buch nicht zu teuer wird, und so in recht viele Hände kommen kann.«
Wir saßen schon ziemlich lange im Gespräch beisammen, und es schien an der Zeit, etwas an die Luft zu gehen. Wir waren ja nicht nach Island gekommen, um zwischen vier Wänden zu sitzen. Also die Hüte auf den Kopf und hinaus zu einem erneuten Spaziergang in die Stadt!