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Als ich bei meiner Rückkehr in Landakot mein Zimmer im Bischofshaus betrat, fand ich auf meinem Tisch eine gedruckte Karte, auf der alles stand, was ich über die Fahrt nach Thingvellir wissen mußte. Sie war vom Festkomitee gesandt worden.
Da las ich nun, ich sei höflichst gebeten, kurz vor 9 Uhr abends mich beim Hotel Borg einzufinden, wo ich mein Auto finden werde, es trage die Nummer 371. Der Wagenzug werde kurz nach 9 Uhr aufbrechen. Bei der Ankunft auf dem Festplatz in Thingvellir werde ein Pfadfinder ( Scout-Boy) mir zu Diensten sein und mich nach meinem Zelt in der Abteilung für die Landesgäste führen; es sei mit der Nummer 174 bezeichnet.
»Ist das aber eine erstklassige Organisation!« dachte ich bei mir selber. »Da ist ja alles bis in die kleinsten Einzelheiten sorgfältig vorgesehen.«
Neben dieser Karte lagen mehrere Briefe. Sie kamen alle vom Ausland her: aus Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz.
Da ich bis zur Abfahrt aus Reykjavik noch Zeit hatte, machte ich die Briefe auf. Die meisten kamen von jungen Gymnasiasten und andern Freunden und Bekannten, und zwar fast alle aus den Städten und Orten, wo ich vor meiner Abreise nach Island Vorträge gehalten hatte. Viele meiner Zuhörer hatten mich nämlich um meine isländische Adresse gebeten, da sie sich vorgenommen hatten, mir dorthin zu schreiben.
Der Inhalt der Gymnasiastenbriefe war meist kindlich und einfach.
Einige der jungen Briefschreiber nahmen Bezug auf mein kommendes Buch über die Islandreise. Mehrere andere drückten verschiedene Wünsche aus bezüglich dieses kommenden Buches. Ja einige gaben mir sogar gute Ratschläge betreffs der Dinge, die ich vor allem erzählen solle. Diese wohlgemeinten Ratschläge meiner zukünftigen jungen Leser waren mir durchaus nicht unwillkommen, und ich nahm mir sofort vor, nach Möglichkeit darauf Rücksicht zu nehmen. Es sei mir hier gestattet, ein paar Sätze aus einigen dieser Briefe anzuführen.
Ein kleiner Pariser Junge schrieb:
Paris, le 3 juin.
Mon cher Nonni!
Nous nous ennuyons de vous, depuis que vous êtes parti d'ici; revenez bientôt et racontez-nous des histoires d'Islande. Ici nous souffrons de la chaleur, pendant que vous souffrez sans doute du froid en Islande … Au revoir à bientôt!
Tous les camarades vous envoient leurs meilleures salutations.
Bien vôtre N. N.
P. S. Avez-vous vu des ours blancs?
Ich übersetze den Brief:
»Lieber Nonni!
Wir sehnen uns nach Ihnen, seitdem Sie von hier abgereist sind. Kommen Sie bald wieder zu uns, um uns Geschichten aus Island zu erzählen. Wir leiden hier unter der Hitze, während Sie in Island wohl unter der Kälte leiden. Auf ein baldiges Wiedersehen! – Alle Kameraden senden Ihnen ihre besten Grüße. – Ihr N. N.
P. S. Haben Sie schon Eisbären gesehen?«
Ein anderer kleiner Junge, neunjährig, diesmal ein Österreicher aus Wien, schrieb:
»Lieber Nonni!
Bist Du schon in Island? Bist Du auch Walfischen im Wasser begegnet? Hast Du schon angefangen das Reisebuch zu schreiben? Bitte, schick es mir, wenn es fertig ist. Tue viele Geschichten hinein, wie in dem Buch ›Nonni‹.
Dein Freund N. N.«
Ein etwa vierzehnjähriger, rheinländischer Gymnasiast aus Köln teilt mir seine Wünsche bezüglich des kommenden Reisebuches mit:
»Lieber Herr Svensson!
Es tut mir immer sehr leid, daß ich nicht mit Ihnen nach Island reisen durfte. Mit um so größerer Freude werde ich aber Ihre Beschreibung lesen. Bitte, erzählen Sie darin alle Ihre Erlebnisse zu Wasser und zu Land. Besonders würden mir gefallen Geschichten über Eisbären, wie in dem Buch ›Auf Skipalón‹. Auch Ritte auf den Bergen, mit vielen Gefahren, mit Abgründen und wilden Stieren, wie in der Geschichte von ›Nonni und Manni auf den Bergen‹. Über die Geographie, die Landwirtschaft, den Handel und die Fischerei brauchen Sie uns in Ihrem Buche nicht viel zu erzählen. Darüber hören wir mehr als genug in der Schule.
Herzliche Grüße von Ihrem begeisterten Leser
N. N.«
Als ich diesen letzteren Brief gelesen hatte, ging ich zu Viktor und las ihm denselben vor. Er mußte laut lachen, als er die Ratschläge des kleinen Rheinländers hörte.
»Der nimmt kein Blatt vor den Mund«, bemerkte er. Dann aber fügte er hinzu: »Ich meine aber, der Junge hat ganz recht. Wenn Sie wollen, daß Ihr Buch unter der Jugend stark verbreitet werde, dann müssen Sie den Ratschlägen folgen und nicht viel über Geographie, Handel und Wirtschaft schreiben, um so mehr aber über unsere Erlebnisse. Denn das ist es, was uns Jungen am meisten interessiert.«
Ich machte diese Auffassung zu der meinigen und war entschlossen, beim Schreiben meines Buches mich danach zu richten.
»Wann geht die Fahrt nach Thingvellir los?« fragte jetzt Viktor.
»Kurz nach 9 Uhr vom Hotel Borg aus. Ich habe mein bestimmtes Auto zugewiesen. Schau her!« Und ich zeigte ihm die Karte, die ich auf meinem Tisch vorgefunden hatte.
»Und ich«, sagte Viktor, »ich soll mit dem Herrn Bischof und seinen Herren hinfahren. Im Zeltlager haben wir ein großes Zelt für uns und werden die drei Tage darin wohnen.«
»Es ist eigentlich schade«, erwiderte ich ihm, »daß wir die drei Festtage voneinander getrennt sind. Aber daran ist leider nichts zu ändern. Für mich als Eingeladenen und Gast des Landes wird von der Regierung eigens gesorgt. Ich werde mein kleines Zelt für mich allein haben, und die Mahlzeiten soll ich in dem großen Zelt der Landesgäste einnehmen. Es seien ungefähr sechshundert im ganzen.«
Wir nahmen also für die drei Tage Abschied voneinander und wünschten uns gegenseitig viel Freude. Ich ging auf mein Zimmer und packte die nötigen Gegenstände in eine Handtasche. Dann verabschiedete ich mich von meinem hohen Gastgeber und wünschte auch ihm freudige Festtage.
»Das gleiche Ihnen«, erwiderte er. »Es ist wahrscheinlich, daß wir uns während der drei Tage nicht sehen werden. Denn in der großen Menschenmenge draußen verschwinden die einzelnen leicht. Aber nach dem Feste werden wir uns alle hier im Hause wieder treffen.«
Daraufhin verließ ich das Haus und begab mich mit meiner kleinen Reisetasche in der Hand nach dem Hotel Borg. Dort angelangt, sah ich eine ungeheure Anzahl nagelneuer und blitzblanker Autos, die in endloser Reihe hintereinander standen. In jedem Auto saß beim Steuer ein Chauffeur, und jedes trug eine deutlich sichtbare Nummer. Überall in der Nähe der Wagenreihe waren Ordner und Helfer. Jetzt galt es für mich, meinen Wagen zu finden. Ich schaute noch einmal die Nummer der Karte nach. Da stand ja 371.
Ich ging nun bis zur Wagenreihe hin, um die Nummer zu suchen. Da trat aber sofort ein freundlicher junger Mann auf mich zu und fragte:
»Der Herr gehört wohl zu den Landesgästen?«
»Gewiß.«
»Darf ich um Ihre Karte bitten?«
Ich zeigte sie ihm.
»Ja natürlich«, sagte er lächelnd, »Sie sind ja der Nonni. Das hatte ich mir gleich gedacht. Willkommen in Island! Gehen Sie jetzt, bitte, mit; ich zeige Ihnen Ihren Wagen.«
Er nahm mir die Tasche ab und führte mich einen langen Weg an der Wagenreihe entlang.
»Das ist Ihr Wagen«, sagte er auf einmal. »Ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt und fröhliche Festtage.« Damit reichte er mir die Hand.
Ich dankte ihm für seine freundlichen Dienste, worauf er sich rasch entfernte, um andern Gästen behilflich zu sein.
Der Name »Nonni« ist zwar ein Knabenname. Er wurde aber oft in Island, genau wie auch im Auslande, mir gegenüber freundschaftlicherweise gebraucht. Das geschah wegen meiner Bücher, die ja die gemeinschaftliche Benennung »Nonnibücher« erhalten haben.
Ich warf einen flüchtigen Blick in den Wagen hinein. Er war noch leer, nur der Chauffeur saß in seinem Verschlag. Er grüßte fröhlich mit einer Handbewegung nach seiner Mütze, als er sah, daß ich einer seiner Fahrgäste sei. Ich legte meine Handtasche auf einen der Sitze und blieb draußen stehen.
Von allen Seiten kamen Herren und Damen heran und suchten gerade wie ich nach ihren Wagen.
Es war schon 9 Uhr vorbei, aber natürlich immer noch heller Tag. Der westliche Himmel flammte, leuchtete und glitzerte in den herrlichsten Farben, zumeist Purpur und Gold.
In meinem Wagen vorn auf seinem Sitze saß unbeweglich der Chauffeur.
»Wann werden wir aufbrechen?« fragte ich ihn. Er sah mich lächelnd an wie einen alten Bekannten und erwiderte:
»Eigentlich sollten wir jetzt abfahren. Aber wir müssen uns nach den Gästen richten und warten, bis alle da sind. Es sind nicht alle so pünktlich.«
»Sie sind wohl Isländer?« fragte ich ihn dann, um etwas zu reden.
»Jawohl. Ich bin ein Landsmann von Ihnen.«
»Woher wissen Sie, daß ich ein Isländer bin?«
»Ich habe Sie gleich erkannt.«
»Darf ich Sie auch nach Ihrem Namen fragen?«
»Ich habe denselben Namen wie Ihr Verwandter, der Sie das Flötenspielen gelehrt hat. Ich kenne den Namen aus Ihrer Geschichte ›Nonni und Manni‹.«
»Und wie hieß er?«
»Arngrim – und so heiße ich auch.«
»Sie haben also ›Nonni und Manni‹ gelesen?«
»Ja. Und auch noch andere Ihrer Bücher.«
Ich richtete noch einige weitere Fragen an den jungen Mann und blieb im übrigen in der Nähe meines Wagens. Langweilig wurde es mir nicht. Ich schaute mir die Landesgäste an, die nun in immer größeren Scharen herankamen. Es waren alles Fremde aus den verschiedensten Ländern. Aber ich konnte nicht einen einzigen Isländer unter ihnen entdecken.
Ich hörte da eine Menge fremder Sprachen, von denen ich einige verstand, andere aber klangen in meinen Ohren wie Chinesisch. Am meisten schien mir Englisch gesprochen zu werden.
Es waren also viele Leute aus den englisch sprechenden Ländern zu dem Feste eingeladen, Engländer, Kanadier und Amerikaner aus den Vereinigten Staaten. Alle sprachen sich über die großartigen Vorbereitungen zu der Tausendjahrfeier lobend aus. Einige äußerten ihre Verwunderung über die Menge der Autos.
»Und alles nagelneue, erstklassige Wagen!« hörte ich einen Amerikaner sagen. Andere schauten sich die Fabrikmarken der Autos an und riefen dann aus:
»Aber es sind ja alle aus Amerika!«
Und darüber freuten sie sich mächtig.
Doch nicht nur die englische Weltsprache wurde hier viel gesprochen, sondern auch Deutsch, Französisch, Dänisch, Schwedisch, Norwegisch und Holländisch. Dann waren auch Gäste aus Finnland, aus der Tschechoslowakei und aus verschiedenen andern Ländern da, deren Sprache ich nicht kannte.
Es war schon 10 Uhr vorbei – und immer kamen neue Gäste hinzu. Endlich zwischen 10 und 11 Uhr schienen die meisten Wagen besetzt zu sein. Ordner und Helfer forderten höflich zum Einsteigen auf.
Auch ich ging wieder zu meinem Wagen hin und stieg ein. Ein Mitreisender saß schon drinnen. Ich grüßte ihn auf englisch, dann auf französisch, zuletzt auf deutsch. Er schien aber keine der Sprachen zu verstehen, denn er erwiderte meine Grüße mit Worten, die mir gänzlich fremd und unverständlich waren. An ein Gespräch war also nicht zu denken.
Nachdem wir eine gute Weile schweigend im Wagen gesessen hatten, kam ein anderer, sehr freundlich aussehender Herr mit seiner Frau herein. Er schaute nach der Nummer des Wagens und sagte dann im reinsten Englisch: »Hier; da müssen wir hinein.«
Ich stieg rasch aus dem Wagen heraus, damit sich die beiden leichter ihre Plätze wählen könnten. Der Engländer dankte verbindlich. Als der Herr und die Dame ihre Plätze eingenommen hatten, stieg auch ich ein.
Der Herr wendete sich sofort zu mir hin und stellte sich vor. Wie angenehm war ich überrascht, als ich hörte, daß mein Mitreisender kein Geringerer war als der Universitätsprofessor W. A. Craigie aus Chicago, der große englische Sprachforscher und langjähriges Mitglied der isländischen Literaturgesellschaft.
Ich hatte ihn nie gesehen. Seinen Namen kannte ich aber längst und hatte schon vieles über ihn und seine wissenschaftlichen Arbeiten gehört und gelesen. Er war mit seiner Gattin auf besondere Einladung hin nach Island gekommen.
Wir unterhielten uns auf das angenehmste zusammen, und zwar auf isländisch, denn er war in meiner Muttersprache noch besser bewandert als ich selber.
Wir hatten gemeint, daß das Zeichen zur Abfahrt schon gegeben worden sei. Es dauerte aber noch eine Weile, bis die lange Wagenreihe anfing, sich in Bewegung zu setzen.