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21. Leben und Weben an Bord. – Die heulende Schiffssirene.

Trotz der stetigen starken Bewegungen des Schiffes war bei mir das unangenehme Gefühl der beginnenden Seekrankheit vollständig verschwunden. Die körperliche Vorsicht, das Gespräch mit dem Maschinisten und die Ablenkung meiner Gedanken auf andere Dinge hatten diesen Wandel bewirkt.

Ich ging jetzt eine Zeit lang auf und ab und fühlte mich immerfort sehr wohl.

Nach und nach kamen die Schläfer aus ihren Kabinen, und der große Speisesaal füllte sich bald mit fröhlich plaudernden Menschen.

 

Das Leben und Treiben an Bord war an diesem und an dem folgenden Tage ähnlich wie am ersten. Immer enger schlossen wir uns zusammen, bis die ganze Reisegesellschaft einer friedlich zusammenlebenden Familie glich. Viktor schloß sich wieder der fröhlichen Kindergesellschaft an, welche ihr munteres Treiben unermüdlich fortsetzte.

Am Nachmittag dieses Tages fing es an, ein wenig düster um uns herum zu werden: ein leichter Nebel senkte sich über uns hernieder. Es wurden trotzdem keine Nebelsignale gegeben, und die Fahrt des Schiffes wurde noch nicht gemäßigt.

Mitten in der folgenden Nacht aber wurde ich plötzlich aus dem Schlaf aufgeschreckt: ein fürchterliches Heulen ertönte oben auf dem Verdeck. Es war ein starker, lang anhaltender Warnungsruf, der von der riesigen Schiffssirene gegeben wurde. Nach zwei Minuten wiederholte sich das fürchterliche Heulen. Also war der Nebel dichter geworden.

Diese starken Warnungsrufe wurden die ganze Nacht hindurch und dann noch den ganzen folgenden Tag wenigstens alle zwei Minuten ausgestoßen. Ich bedauerte sehr diejenigen meiner Mitreisenden, die mit schwachen Nerven bedacht waren. Für solche Menschen konnte von Schlaf und Nachtruhe schwerlich mehr die Rede sein.

Ich selber schlief aber gleich wieder ein, denn ich hatte mich im Verlauf meines Lebens daran gewöhnt, durch solche Dinge meine Nachtruhe nicht stören zu lassen. An Nachtlärm hatte ich mich als kleiner zwölfjähriger Junge vor gut sechzig Jahren ein für allemal gewöhnt, und zwar unter Umständen, die den gegenwärtigen ganz ähnlich waren. Es war auf meiner ersten Reise von Island nach Dänemark, auf dem kleinen »Valdemar von Rönne«. Als ich damals in der Kajüte des Kapitäns Foß in meinem Bette lag, schlugen die Wellen während des ersten, sehr heftigen Sturmes mit mächtigem Getöse an die Schiffseite, so daß mir Sehen und Hören verging. Zwischen ihnen und mir waren ja nur die Planken des Schiffskörpers. Und da sollte ich schlafen! Davon konnte natürlich zunächst keine Rede sein. In meiner Not nahm ich mir endlich fest vor, mir einzubilden, daß das furchtbare Getöse nichts anderes sei als ein sanftes, leises Gemurmel, ein liebliches Wiegenlied, das die Töchter des Meergottes Ägir mir sangen, um mir zum Einschlafen zu helfen. Und, so merkwürdig das auch lautet, diese Autosuggestion half mir tatsächlich voll und ganz, und zwar nicht nur damals, sondern von da an das ganze Leben hindurch, so daß schließlich auch das stärkste Gepolter für gewöhnlich kaum imstande war und ist, meine Nachtruhe zu stören. Und das erreichte ich, wie gesagt, durch eine echte, regelrechte Autosuggestion, obwohl ich damals nicht einmal den Namen dieser eigenartigen Kunst kannte.

Durch das Sirenengeheul wurde ich zwar diese Nacht in meinem Schlafe nicht mehr gestört; aber auf einmal wurde ich durch ein wiederholtes Rütteln an der Schulter aus meinem tiefen Schlummer herausgerissen.

»Was gibt's?« rief ich, während ich mir den Schlaf aus den Augen rieb.

»Ich bin es nur«, antwortete eine etwas ängstliche Knabenstimme neben meinem Bette.

Ich riß vollends die Augen auf. Das elektrische Licht war schon angezündet, und mitten in der Kabine stand Viktor. Als er sah, daß ich endlich wach geworden war, sagte er aufgeregt:

»Aber wie können Sie bei einem solchen Lärm noch schlafen? Das ist mir unverständlich. Hören Sie denn die fortwährenden Sturmzeichen nicht?«

»Doch, Viktor, jetzt höre ich sie, und ich bin in der Nacht schon einmal darüber aufgewacht. Aber Sturmzeichen sind das nun gerade nicht.«

»Was für Zeichen sind es dann?«

»Das sind einfach die gewöhnlichen Warnungsrufe, die alle Schiffe geben müssen, wenn sie draußen auf dem Meere von Nebel umgeben sind. Und gleichzeitig müssen sie langsamer fahren. Die Signale werden gegeben, um andere Schiffe, die vielleicht in der Nähe sind, zu warnen und dadurch die furchtbare Gefahr eines Zusammenstoßes zu vermeiden.«

»Ah, so ist die Sache! Aber ich möchte wissen, wer bei einem solchen fürchterlichen Spektakel noch schlafen kann.«

»Ja, das wird wohl für einige schwer sein. Da muß aber jeder sehen, wie er fertig wird. Eigentlich sollte man sich durch den Lärm nicht stören lassen.«

Viktor lachte laut auf und fragte: »Aber wie soll man das anfangen?«

»Das will ich dir klarmachen.«

siehe Bildunterschrift

Trocknen der Klippfische

siehe Bildunterschrift

Versandfertige Salzheringe

siehe Bildunterschrift

Ausgang der Almannaschlucht

Und nun erzählte ich ihm, wie ich es auf dem kleinen dänischen Segler im Sturm gemacht hatte, als ich im Jahre 1870 von Island nach Dänemark fuhr. »Damals war der Lärm noch viel größer als jetzt«, so schloß ich, »als das kleine Schiff von den wütenden Wellen wie eine Nußschale umhergestoßen und umhergeworfen wurde. Und doch ist es mir gelungen, in diesen Schrecken ganz ruhig zu schlafen.«

»Damals waren Sie noch jung. Da mag so was wohl leichter gewesen sein. Daß es Ihnen aber auch jetzt gelingt, ist mir unverständlich.«

»Ich kann dir versichern, Viktor, daß es mir jetzt ebenso gut gelingt wie damals.«

»Nun, dann will ich es ebenfalls versuchen nach Ihrem Rezept«, sagte Viktor, indem er wieder in sein Bett hinaufkletterte.

Ich lag noch eine Weile wach, ohne mich zu rühren. Auch Viktor verhielt sich still.

Bald mußte ich aber vor mich hin lachen; denn obwohl das entsetzliche Sirenengeheul an Stärke und Häufigkeit nicht nachließ, hörte ich Viktor halb schlaftrunken in seinem Bett die Worte vor sich hinmurmeln: »Leise, sanfte, melodische Töne!«

»Bravo, Viktor!« rief ich ihm zu. »Fahre nur fort, dann wirst du bald herrlich schlafen.«

Und merkwürdig! Kaum waren fünf Minuten vergangen, da hörte ich von oben her ein tiefes, regelmäßiges Atmen, das sich bald in ein regelrechtes, sanftes Schnarchen verwandelte.

Auch ich schlief bald wieder ein – und von da an schliefen wir beide bis tief in den folgenden Tag, ohne weiter von der Sirene gestört zu werden. Wohl aber weckte uns schließlich der Oberkellner.


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