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Als ich im Laufe des Vormittags durch das Fenster auf die Stadt, den Hafen und die Reede hinausschaute, bemerkte ich sofort ein wimmelndes Leben überall in den Straßen. Weit draußen auf der großen Reede aber entdeckte ich mitten in dem feinen Morgennebel eine eigentümliche Insel, die ich am Tage zuvor nicht beachtet hatte. Sie war grau und erhob sich merkwürdig steil aus dem Meere empor. Während ich sie betrachtete, hörte ich Schritte hinter mir. Es war Monseigneur Meulenberg.
Nachdem wir uns einen guten Morgen gewünscht hatten, fragte ich den Herrn Bischof, was das für eine Insel sei draußen auf der Reede.
Er schaute hin und lachte dann laut auf. »Ich will Ihnen den Namen dieser Insel nennen«, sagte er immer lachend; »sie heißt ›Rodney‹ und ist ein englischer Dreadnought, das größte Kriegsschiff der ganzen englischen Marine und überhaupt der ganzen Welt. Die englische Regierung hat es hierher geschickt zu Ehren der Tausendjahrfeier. Es brachte auch viele vornehme englische Gäste mit, darunter Mitglieder des englischen Parlaments.«
Jetzt mußte ich ebenfalls lachen, denn ich erkannte bald selber, wie sehr ich mich getäuscht hatte. Das war keine Insel, sondern das ungeheure englische Schlachtschiff »Rodney«. Doch die Täuschung war entschuldbar, denn das Schiff sah wahrhaftig von weitem aus wie eine Insel, und es war ja auch gewissermaßen eine schwimmende Felseninsel aus Eisen und Stahl.
Bald entdeckte ich an einer andern Stelle der Reede eine zweite »Insel«. Sie lag aber nicht so weit von der Küste entfernt wie die »Rodney«. Es war auch ein mächtiges Kriegsschiff, nicht ganz so groß wie das englische, und sah auch, weil es nicht so weit draußen lag, eher einem Schiffe ähnlich als der britische Koloß.
»Das ist«, erklärte mir der Bischof, »eines der größten Schlachtschiffe Frankreichs. Es ist die ›Suffren‹, von der ich Ihnen gestern abend sprach. Wir werden ja heute an Bord dieses Schiffes gehen, um den Kommandanten zu besuchen und das schöne Schiff zu besichtigen. Der Kommandant schreibt, er werde heute nachmittag um 5 Uhr eine der Schiffsschaluppen ans Land schicken, um uns abzuholen.«
»Gut, hochwürdigster Herr, ich werde um 5 Uhr bereit sein, und ich werde auch dafür sorgen, daß Viktor pünktlich da ist. Er kann doch dahin mitgehen?«
»Anstandslos! – Und dann«, sagte der Bischof zum Schluß, »möchte ich Ihnen raten, schon heute vormittag zusammen mit Ihrem jungen Begleiter einen Spaziergang durch die Stadt zu machen. Da wird sicherlich allerlei Interessantes zu sehen sein.«
»Ich hatte mir das selber schon vorgenommen«, erwiderte ich.
»Also viel Vergnügen, und auf Wiedersehen um 12 Uhr beim Mittagessen.« Damit verließ mich der Bischof.
Kurz darauf ging ich zu Viktor. Er saß am Schreibtisch und schrieb Briefe und Postkarten nach Hause.
»Es ist gut, daß Sie kommen«, rief er mir zu, als ich eintrat. »Ich hatte vor, zu Ihnen zu gehen und Sie zu bitten, mit mir einen Spaziergang zu machen. Wir müssen uns doch jetzt die Hauptstadt Ihres Vaterlandes ansehen.«
»Das war auch mein Gedanke, und darum komme ich.«
Er sprang auf, nahm seinen Hut und stellte sich vor mich hin, indem er mich fragte: »Bin ich aber auch gut genug angezogen, um durch die Straßen der isländischen Hauptstadt zu gehen?«
Ich warf einen Blick auf seinen Anzug und sah, daß er die kleidsame Uniform der Herder-Zöglinge angezogen hatte.
»Ob du gut angezogen bist! Das will ich meinen. Fein nimmst du dich aus in deiner Uniform! Wie in Freiburg, so werden auch hier in Reykjavik die Leute die Uniform schön finden. Nur riskierst du, daß der eine oder andere dich für meinen Lakai hält.«
Wir verließen das Haus und schritten den Landakothügel hinunter zur Stadt. Viktor hatte seine Briefe und Postkarten in die Tasche gesteckt und warf sie in den ersten Postkasten, dessen wir auf unserem Wege ansichtig wurden. Nach einigen hundert Schritten befanden wir uns in einer der Hauptstraßen Reykjaviks.
Das erste, was uns auffiel, war das gewaltige Menschengedränge in der verhältnismäßig kleinen Stadt. Es wimmelte überall von neu angekommenen Fremden, die wie wir sich die Stadt ansehen wollten.
Nicht nur die Straßen waren überfüllt, auch alle Läden waren von eifrigen Käufern eingenommen. Die Reykjaviker Kaufleute hatten sich gut mit Waren vorgesehen. Da war alles zu haben, was ein Fremder sich nur wünschen konnte. Am meisten waren es isländische »Souvenirs«, Erinnerungsartikel aller Art. Der Absatz von solchen muß riesig groß gewesen sein. Denn auf sie ging meistens das Verlangen der Fremden.
»Hier blüht aber der Handel!« meinte Viktor.
»Ja wahrhaftig. Hast du vielleicht auch Lust, etwas zu kaufen?«
»Ja, das hätte ich schon«, erwiderte der Junge. »Ich möchte mir ein paar Kleinigkeiten kaufen, aber eigentlich nur, um zu sehen, wie es in einem isländischen Kaufladen zugeht, und dann, um zu probieren, ob ich auch allein mit meinem Isländisch durchkommen kann.«
»Gut. Dann gehen wir irgendwo hinein. Ich glaube, du wirst die Probe schon bestehen. Aber was willst du kaufen?«
»Vorläufig nur Ansichtskarten. Und dann vielleicht auch ein Paar isländische Gummischuhe.«
Es dauerte nicht lange, so standen wir vor einem prächtigen Schuhwarenladen. Wir traten ein. Der Laden war voll von Menschen, meist Ausländern. Wir stellten uns bescheiden am Ladentisch auf und warteten.
Es war höchst interessant, zu hören, wie und was dort gesprochen wurde: Dänisch, Englisch, Deutsch, Französisch und noch andere Sprachen. Es wurde viel gelacht, denn an Mißverständnissen fehlte es nicht.
Da war unter andern ein bejahrter Schotte aus Edinburg. Er wollte als Andenken kleine isländische Pantoffeln kaufen.
» All right, Sir!« sagte das dienstfertige isländische Ladenmädchen. Sie verschwand und kam bald zurück mit mächtigen isländischen Holzschuhen.
» Bless me!« (»Gott bewahre!«), rief der Schotte entsetzt aus. »Wird das da hier im Lande als Pantoffeln gebraucht?«
Alles lachte. Das arme Mädchen stand hilflos da und wußte sich nicht zu helfen. Sie meinte noch immer, er wolle Holzschuhe haben und wiederholte: » Yes, Sir! Sure; Sir! Icelandic, Sir!«
» To big! To big!« rief immer wieder der Schotte. Schließlich kam einer der Dabeistehenden zu Hilfe, und nun wurde ein Paar zierliche Pantoffeln gebracht.
» Icelandic?« fragte der Schotte.
» No«, sagte treuherzig das Mädchen, » Danish.«
»Das ist aber zum Davonlaufen«, rief der Schotte zornig aus. »Ich will isländische Andenken und keine dänischen.« Er nahm seinen Hut und ging aus dem Laden hinaus.
Endlich kam Viktor an die Reihe.
In einem etwas zweifelhaften, aber doch verständlichen Isländisch verlangte er ein Paar » islenzkir gummiskór«.
» Islenzka haben wir nicht«, sagte das Mädchen. »Wir haben nur svenska.«
Und so mußte Viktor sich mit ein paar schwedischen Gummischuhen begnügen.
Nun gingen wir auf die Suche nach einem Postkartenladen, und bald war einer gefunden, denn ihre Zahl war natürlich groß. Hier herrschte noch viel mehr Leben, Lachen und Fröhlichkeit als beim Schuhhändler. Die Käuferschaft war ganz international. Es wurde Deutsch, Englisch, Französisch, Schwedisch, Dänisch und Isländisch durcheinander gesprochen. Jeder Käufer wählte sich die Ansichtskarten selber aus, die er haben wollte; wenn es aber ans Bezahlen ging, gab jeder die Münzen seines eigenen Landes hin und wollte wissen, wie viele Mark, Kronen, Shilling, Franken usw. er bezahlen sollte.
Da mußten wir die Geschicklichkeit des Kassenfräuleins bewundern: ohne Schwierigkeit und ohne Zaudern verwandelte es sofort die isländischen Preise in die betreffenden fremden Geldsorten, und so ging der Handel mit größter Schnelligkeit und Sicherheit vonstatten.
Bald hatten wir unsern kleinen Einkauf getätigt, wobei sich Viktor wiederum mit seinem Isländisch wacker hielt.