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41. Beginn der Festfeier. Gottesdienst in der Almannaschlucht. Regen und Kühle verwandeln sich in Sonnenschein. Zug zum Lögberg und feierliche Althingsitzung daselbst. Im Gewühl der zurückflutenden Menge treffe ich Viktor. Nochmals ein literarisches Gespräch.

Ich zog in der trüben Morgenstimmung mein Programmbüchlein aus der Tasche und sah, daß die Feierlichkeiten um 9 Uhr, also erst nach etwa zwei Stunden, ihren Anfang nehmen sollten, und zwar mit einem feierlichen Gottesdienst in der Almannaschlucht. Ich hatte noch Verschiedenes zu tun und freute mich, daß mir genügend Zeit zur Verfügung stand.

Gegen 8 Uhr begab ich mich dann nach dem großen Zelt, wo die Gäste des Landes frühstücken sollten.

Der gefürchtete Schneesturm war noch nicht losgebrochen, und man konnte immer noch auf einen guten Verlauf des Festes hoffen. Der Himmel blieb aber immerfort bewölkt, die Luft war kühl und der feine Regen fiel immer gleichmäßig.

Am Eingang des Zeltes, das nur für die etwa sechshundert Landesgäste bestimmt war, wies ich meine Legitimationskarte vor und trat ein.

Drinnen wimmelte es von Herren und Damen aus allen Ländern der Welt, die meisten waren bereits damit beschäftigt, sich für die Anstrengungen des Vormittags durch ein solides Frühstück vorzubereiten. Die aufwartenden Kellnerinnen, sämtlich junge Isländerinnen, trugen die prächtige altisländische Nationaltracht, die Kellner dagegen die Allerweltskellnerkleidung. Das Zelt machte in seiner Ausstattung dem Lande Ehre und war der Gäste durchaus würdig.

Ich nahm auch Platz an einem der Tische und hatte nach kurzer Zeit alles vor mir stehen, was ich wünschte.

 

Gegen 9 Uhr strömten von allen Seiten die Menschenmassen nach der Felsenschlucht Almannagjá zum Gottesdienst.

Auch wir Landesgäste schlossen uns den Scharen an.

Die Almannagjá ist nach dem Zeugnis aller Islandkenner wohl die seltsamste Felsenschlucht, die es in der Welt gibt.

Der bekannte Literaturhistoriker und Islandreisende Alexander Baumgartner schreibt:

»Als ich in der Almannagjá angekommen war, schien es mir wie ein Traum. Sie ist eine der gewaltigsten Schluchten, die ich je gesehen, ein Steig in die Unterwelt, ganz in Dantes Stil. Wie die Wälle einer urweltlichen Riesenburg türmen sich rechts und links, etwa fünfzehn bis dreißig Meter auseinander, zwei senkrechte Felsmauern auf, nur an ihren Spalten oder Absätzen dürftig mit Moos oder kleinen Büschen bewachsen. Über eine Stunde weit zieht sich diese doppelte Felsmauer am nördlichen Ufer des Thingvallasees entlang.

Bald möchte man glauben, eine wirkliche mittelalterliche Burg vor sich zu haben, bald einen Adlerhorst aus dem Hochgebirge, bald ein Hexennest der alten Sage, die Szenerie zu einer Walpurgisnacht.«

Die Festteilnehmer waren also in diesen großartigen Naturtempel eingetreten.

Auch der König und die Königin von Dänemark als die Herrscher des Landes, und der Kronprinz von Schweden nahmen an dieser und den folgenden Feierlichkeiten teil.

Der erste Festakt war ebenso ergreifend wie einfach.

Das Land, das ganze Volk wollte die dreitägige Feier damit beginnen, daß es in einer allgemeinen Huldigung zum allmächtigen Gott hinaufschaute, um für die Vergangenheit zu danken und sich ihm für die Zukunft zu weihen.

Es wurde zuerst eine sehr schöne religiöse Hymne von der ganzen Versammlung gesungen. Eine Musikkapelle, die oben in einem Einschnitt der Felswand aufgestellt war, begleitete den Gesang.

 

Kaum hatte der erhabene Festakt begonnen, da geschah etwas Wunderbares.

Bis dahin hingen schwere Wolken drohend über Thingvellir. Während man aber die erste Strophe der Festhymne sang, da auf einmal, wie durch einen Zauber, verschwanden die drohenden Wolken, und eine Flut goldenen Sonnenlichtes überströmte die Ebene, drang hinein in die Riesenfesthalle der Almannagjá und verwandelte in einem Augenblick den trüben Morgen in einen strahlenden Sommertag.

Und dieser goldene Sonnenschein hielt fast ohne Unterbrechung alle drei Festtage hindurch an.

Man denke sich das Erstaunen und die Freude aller bei dieser überraschenden Wendung der Dinge.

Als die Hymne zu Ende gesungen war, stieg der evangelische Bischof auf die Kanzel und hielt eine kurze, aber inhaltreiche und schöne Rede an die versammelte Menge. Dank der zahlreich angebrachten Lautsprecher wurde jedes Wort von allen Zuhörern verstanden.

Nach der Rede des Bischofs brausten wiederum die metallenen Töne der Musikinstrumente und die Stimmen der vielen tausend Menschen durch die ehrwürdige Almannaschlucht. Damit schloß der Gottesdienst.

 

Alsbald setzte sich die gewaltige Menge in Bewegung, um sich in feierlichem Zuge zum Althing am Lögberg zu begeben, dem »Gesetzesfelsen«.

Der Lögberg, der an einer andern Stelle in der Riesenschlucht Almannagjá sich befindet, ist die geheiligte Stätte, wo in alter Zeit das Gesetz verkündet. Recht gesprochen und alle wichtigen öffentlichen Angelegenheiten abgemacht wurden. Auch alle wichtigen Reden der Althingsmänner wurden die vielen Jahrhunderte hindurch am Lögberg gesprochen.

Die Einwohner eines jeden Bezirks des ganzen Landes sammelten sich geschlossen um ihre Bezirksfahne und ordneten sich in alphabetischer Reihe zum Zuge.

An der Spitze schritt der Bläserchor, um unter klingendem Spiel die Menge zu führen.

Dann kamen die königlichen Personen: der König und die Königin von Dänemark und Island und mit ihnen der Kronprinz von Schweden. Ihnen schlossen sich die isländische Regierung und die Präsidenten des Althings an, dann folgten die fremden Gäste, die offiziellen Abgesandten der vielen fremden Länder und Parlamente mit den Abgeordneten des isländischen Althings, ferner der Landesbischof von Island nebst den Pfarrern des ganzen Landes. Und nun reihte sich die ungeheure Menge der Einwohner Islands nach Städten und ländlichen Bezirken an.

Um ½11 Uhr erreichte man den Gesetzesfelsen. Die Stätte am Felsen war für die Sitzung des isländischen Althings, die jetzt beginnen sollte, praktisch in der Form einer geräumigen Rotunde hergerichtet worden.

Ein eigenartiges Parlamentsgebäude, von der Natur aus Felsen gebaut, mit dem freien blauen Himmel als Gewölbe!

In diesem Althing»saal« waren Sitze im Halbkreis für die Abgeordneten aufgestellt. Im Scheitelpunkt dieses Halbkreises erhob sich allen sichtbar die Rednerbühne.

Den Althingsabgeordneten und der Rednerbühne gegenüber war ein zweiter Halbkreis gebildet mit den Sitzen für die höchsten Würdenträger, König und Königin von Dänemark nebst Kronprinz Gustav von Schweden in der Mitte, dann nach beiden Seiten anschließend die Sitze für die offiziellen Abgesandten und Parlamentarier der fremden Länder, darunter auch die deutschen Vertreter: ehemaliger Gesandter Karl Hildenbrand, Bürgermeister Emil Berndt und Oberlehrer Hermann Hofmann.

Zuerst wurde die Nationalhymne gesungen, worauf der isländische Ministerpräsident die Rednerbühne bestieg und die Feier durch eine begeisterte Ansprache an die Versammlung eröffnete. Es folgte eine Festkantate, von einem gemischten Chor gesungen unter Begleitung eines Orchesters.

Nach Beendigung der Kantate wurde durch König Christian die Wiedereröffnung der Althingstagung vorgenommen. Darauf hielt der Präsident des Althings die Festrede.

In formgewandten, begeisterten Worten legte er die Bedeutung der Tausendjahrfeier dar. Zum Schluß richtete auch er herzliche Begrüßung und herzlichen Dank an den König und an die fremden Gäste.

Der zweite Teil der Festkantate beschloß diesen ersten Festakt am Lögberg.

 

Wie bei einem Dammbruch die Wassermassen in das Land hineinfluten, so fluteten jetzt die gewaltigen Menschenmassen von den felsigen Höhen der Almannagjá hinunter nach der Zeltstadt hin.

Es war 12 Uhr vorbei. Die Festteilnehmer hatten nun eine Pause von beinahe drei Stunden, um Mittag zu halten und sich auszuruhen bis zu den Festlichkeiten des Nachmittags.

Um 3 Uhr sollten in einer zweiten Versammlung am Lögberg die Vertreter der fremden Parlamente Ansprachen an das isländische Volk halten. Die Spannung darauf war groß. Was würden sie dem isländischen Volk zu sagen haben? Würden sie in der altehrwürdigen isländischen Sprache reden oder in der eigenen?

Ich schloß mich dem hinunterfließenden Menschenstrom an und ließ mich sozusagen von ihm forttragen nach der Ebene.

Auf dem Wege schaute ich nach allen Seiten um, in der Hoffnung, daß ich möglicherweise Viktor in dem Gedränge entdecken würde. Ich wußte, daß auch er auf dem Wege nach der Zeltstadt sein mußte. Nur wohnte er nicht in demselben Stadtteil wie ich. Er hatte ja seine Unterkunft im Bischofszelt, und wo das lag, wußte ich nicht. Meine Hoffnung war daher gering.

Doch während ich nach allen Seiten ausschauend vorwärtsgeschoben wurde, entdeckte ich plötzlich zur linken Hand, aber in einer ziemlich großen Entfernung, einen jungen Menschen mit hellgrauem Rücken und einem grünen Kragenstreifen darüber. Das glich Viktors Uniform.

Ich bemühte mich schneller vorwärts zu kommen. Da sah ich, daß der Junge den Kopf zur Seite wendete, so daß ich sein Profil unterscheiden konnte. Richtig! Er war's.

Ich drängte mich vorwärts mit einigen Schübsen und hatte ihn bald erreicht. Er drehte sich mit einem Ruck um, als ich meine Hand auf seine Schulter legte, und schaute mich groß an.

»Ja, ich bin's, Viktor! Ich komme vom Lögberg wie du auch. Ich habe dich schon von weitem an deiner Uniform und dann an deinem Kopf erkannt. Wie geht es dir? Wie gefällt dir das Fest?«

»Fabelhaft!« war seine einzige, aber vielsagende Antwort.

»Und wie gefällt dir denn das Bischofszelt?«

»Oh! Großartig! Da fehlt es mir an nichts.«

»Kannst du auch im Zelt gut schlafen?«

»Nein, das kann ich leider nicht. Ich will Ihnen aber gleich den Grund sagen. Der Bischof hat für sich und seine Begleitung ein Zelt nur tagsüber gemietet. Wir sind erst heute morgen, aber in aller Frühe, im Auto von Reykjavik hierher gefahren, und heute abend spät fahren wir wieder zurück. Und so werden wir es alle drei Festtage machen.«

»Ah! Das wußte ich nicht.«

»Aber jetzt eine andere Frage«, fuhr er fort: »Wie geht es mit Ihrem Tagebuch?«

»Ich hatte auch vor, mit dir bei der ersten Gelegenheit darüber ein paar Worte zu sprechen. Ich sehe ein, daß es mir doch nicht möglich ist, unsere Erlebnisse nur in gedrängter Tagebuchform niederzuschreiben, wie ich mir bei unserer letzten Besprechung darüber vorgenommen habe. Es würde zu ärmlich, zu nüchtern, zu wenig anschaulich wirken. Ich muß mit der anfänglichen Ausführlichkeit und mit der anfänglichen Art der Schilderung weiterfahren. An meinem Schreibtisch zu Hause, wenn die Reise hinter uns liegt, kann ich dann alles noch einmal überarbeiten und kürzer fassen, um den buchhändlerischen Wünschen entgegenzukommen.«

»So wird es gut sein; nur lassen Sie nicht zuviel stehen über die Festveranstaltungen mit den Reden und Gesängen und Versammlungen. Das lesen wir Jungen nicht gerade gern.«

Ich merkte mir diese Warnung Viktors.

Jetzt hatten wir die ersten Zelte erreicht und mußten uns trennen. Wir gingen auseinander, indem wir einander aufs neue viel Vergnügen wünschten.


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