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Unterdessen kamen wir unserem Reiseziel immer näher. Bald mußte die isländische Küste sich zeigen, meinten viele. Immer häufiger wurde an die Matrosen die Frage gerichtet: »Wie weit sind wir noch von Island?«
Leider konnten die Matrosen uns darüber keinen Aufschluß geben.
Einer der Reisenden fragte den Steuermann. Dieser antwortete: »Wenn der Nebel uns nicht so lange aufgehalten hätte, wären wir schon längst im Seydisfjord.«
Ja, der Nebel war schuld daran, daß wir Island noch nicht erreicht hatten.
Schon war der 20. Juni da, und immer waren wir noch nicht in Island.
Da aber, auf einmal, am Vormittag dieses Tages, fing eine lauwarme, sanfte Brise an zu wehen … In einem Nu verzog sich der Nebel, und statt der Düsterheit hatten wir sofort den herrlichsten Sonnenschein.
Das lästige Tuten der Schiffssirene hörte augenblicklich auf – und unten im Maschinenraum wurde es mit einem Mal wieder lebendiger und betriebsamer. Die Maschine gab wieder ihr Möglichstes und trieb das Schiff mit Volldampf voran.
Der ganze Schiffskörper bebte und zitterte in seinen Fugen. Vorn am Bug stieß nun die »Brúarfoß« so kräftig gegen die salzigen Wassermassen, daß der schneeweiße Schaum wieder hoch in die Luft spritzte.
War das ein Jubel, nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei den Erwachsenen!
Auf Befehl des Kapitäns sprang ein junger flinker Matrose mit einem Fernrohr in der Hand nach einer der Strickleitern, welche vom Schiffsrand bis hoch oben nach dem Mastkorb gespannt waren. Geschmeidig wie eine Katze stieg er die vielen Sprossen hinauf.
Als er den Mastkorb erreicht hatte, sprang er hinein, hielt das Fernglas vor die Augen und begann Ausschau zu halten.
Auf einmal riß er das Fernglas von den Augen weg, deutete mit ausgestrecktem Arm nach vorn und rief mit lauter Stimme: » Island in Sicht!« Als er diese Zauberworte hinunterrief, da schien es, wie wenn ein elektrischer Funke durch alle hindurchgefahren wäre.
Die Kinder, die wie gewöhnlich am Laufen und Springen waren, hielten plötzlich still, und mit ihren reinen, durchdringenden, silberhellen Stimmen riefen sie begeistert »Hurra! Hurra!« Und die lebhaften dänischen Kinder fügten noch in ihrer Muttersprache hinzu: » Længe leve Island!« (»Lang lebe Island!«) Kurz, es war allgemeine Begeisterung auf dem ganzen Schiff …
Je weiter wir vorwärts fuhren, desto höher erhob sich der anfänglich kaum unterscheidbare dunkle Streifen aus dem Meere empor. Schließlich veränderte sich für das Auge allmählich seine Gestalt: aus einem geraden Streifen wurde bald eine wellenförmige Linie. Man erkannte Höhen und Vertiefungen: Das waren die Berge und die Täler der Insel, denn, wie bekannt, ist ganz Island gebirgig.
Die Taleinschnitte wurden nach und nach tiefer, und die Berge wuchsen hoch in die Luft hinauf. Ich sah nach langen Jahren mein Heimatland wieder!
Je klarer und deutlicher die seltsame Landschaft sich zeigte, desto weniger sprachen die Passagiere, desto mehr aber und desto aufmerksamer wurde geschaut und beobachtet. Endlich, nach etwa einer Stunde, zeigte sich das Land ganz deutlich unsern Blicken.
Viele von den Reisenden, darunter natürlich mein junger Gefährte, sahen nun zum ersten Mal »das Wunderland im Nordmeer«, die Ultima Thule der alten Chronisten, »Island, die starke Felseninsel im brausenden Meer«, wie Hans Christian Andersen sie nennt.
Und was sah man eigentlich, wenn man seine Blicke nach dem eigenartigen Lande richtete?
An einigen Stellen steile, riesengroße, dunkelbraune, flach abgeschnittene Felswände, die senkrecht aus dem Meere aufstiegen. Daneben erhoben sich mächtige Bergmassen terrassenförmig aus den Fluten empor. Dahinter schoben sich die Bergkuppen wie Titanengebilde in die Luft, immer weiter zurück, und immer höher und höher, zuletzt von blendend weißem ewigen Schnee bedeckt, in weiter Ferne den Blicken entzogen.
»Eine großzügige, eine überwältigende Landschaft!« hörte man den einen und den andern zum Nachbarn sagen.
»Starr und fest«, meinte wiederum einer.
»Ein Riesengötterheim!« sagte ein dänischer Herr zu den ihm am nächsten Stehenden.
»Man versteht«, äußerte ein anderer, »daß die alten nordischen Wikinger, diese starken kriegerischen Recken, sich in einem solchen Lande heimisch fühlten.«
»Das Merkwürdigste von allem«, bemerkte ein Amerikaner, »ist das, was sie hier geistig geleistet haben: als sie nämlich die ganze Insel in Besitz genommen, haben sie das Kriegshandwerk aufgegeben und sich mit ihrer eisernen geistigen Energie auf die Arbeiten des Friedens geworfen und eine Literatur geschaffen, die zu den bedeutendsten der ganzen Welt gehört.«
So wurde hin und her weiter gesprochen vom Lande und von dessen Bewohnern.
Und ich muß es gestehen, ich freute mich, so viele anerkennende Worte zu hören über mein geliebtes Vaterland, das in der großen Welt draußen so wenig bekannt ist.
Unterdessen waren wir der Küste ganz nahe gekommen. Gerade vor uns erhob sich drohend ein gewaltiger Fels aus dem Meere, – das Schiff schien in einem weiten Bogen um ihn herumfahren zu wollen. Da auf einmal, wie durch einen Zauberschlag, tat sich uns ein weiter Einschnitt in die Küste auf. Es war die Mündung eines Fjords.
»Wie heißt dieser Fjord?« fragte man von allen Seiten.
»Es ist der Seydisfjord«, erwiderte ein Matrose.
»Ist das nicht der Fjord, in den wir hineinfahren sollen?« wurde weiter gefragt.
»Gewiß«, belehrte uns ein Isländer, der die Gegend gut kannte. »Und gleich werden wir drinnen sein. Am innern Ende des Fjords liegt dann die Stadt mit gleichem Namen, und dort werden wir anlegen.«
»Werden wir auch ans Land gehen können?«
»O ja. Wir werden sogar wahrscheinlich kleine Ausflüge machen können ins Land hinein, denn das Schiff wird wohl sicher mehrere Stunden dort liegen bleiben.«
Alle waren voller Erwartung, und es wurden sofort Pläne gemacht, um aus dem Aufenthalt in Seydisfjord so viel wie möglich herausschlagen zu können.
Jetzt bog das Schiff vollends um den Felsblock herum und dampfte in den Fjord hinein. Es dauerte nicht lange, da zeigte sich die kleine Küsten- und Handelsstadt Seydisfjord.
Die Stadt war klein, aber ihre Lage prächtig. Sie war am Fuße einer sehr steil ansteigenden grünen Bergeshalde hingelagert, die sich höher oben in Basalt und Dolomit verwandelte und schließlich in eine Bergwand überging, die sich in den Wolken verlor.
Dieser riesige Hintergrund der kleinen Stadt sah so prachtvoll und imposant aus, daß alle ihn lange bewundernd betrachteten.
Er war gebildet von wundervollen, riesengroßen Felspyramiden mit unzähligen Terrassen und Hängen, über die sich eine Menge Sturzbäche hinuntergossen.
Diese Bäche, die in den hellen Sonnenstrahlen wie silberne Bänder glitzerten, bildeten an vielen Stellen, wo sie von einer Terrasse auf die andere hinunterstürzten, niedliche kleine Wasserfälle. Das ganze, überaus schöne Landschaftsbild bekam dadurch ein außerordentlich reizvolles Gepräge.
Nun fuhren wir an die Landungsstelle heran. Das Schiff näherte sich langsam und vorsichtig dem Kai. Dort warteten mehrere kräftige Männer, um die vom Schiffe aus hingeworfenen armdicken Taue aufzufangen und es festzubinden.
Als dies geschehen war, legten die Matrosen die Landungsstege aus.
Es war dies für mich ein feierlicher Augenblick, denn jetzt konnte ich die heimatliche Erde wieder betreten.
Viktor ließ ich mit seinen jungen Freunden auf dem Schiff zurück, da ich wußte, daß er mit ihnen einen Spaziergang plante.
Es war mir so auch lieber, denn ich wünschte mit meinen Gedanken und Gefühlen allein bleiben zu können.
Ich schritt also über die Landungsbrücke und setzte meinen Fuß auf die mir teure Erde.
Wie immer bei der Ankunft eines Schiffes hatten sich viele Leute an der Landungsstelle angesammelt. Ich schritt schweigend durch sie hindurch. Einige grüßten – auch ich zog meinen Hut ab. Alles in Stillschweigen.
Es war mir hier alles fremd, ich kannte keinen Menschen in Seydisfjord.
Ich ging meines Weges und bog in eine kleine Gasse hinein.
Viel war in diesem bescheidenen Städtchen nicht zu sehen: ein paar einfache Häuschen, Läden und Geschäfte, einzelne Passanten, Kinder, die im Freien spielten, – das war alles.
Ich blieb vor dem Schaufenster eines kleinen Geschäftes stehen und schaute mir die Sachen an, die zum Verkauf ausgestellt waren. Es lagen dort zierliche kleine Notizbücher, Schreibpapier, Federn und Bleistifte, Gummibälle mit bunten Figuren bemalt, Teller und Tassen und viele andere Kleinigkeiten. In einer Ecke entdeckte ich auch Bonbons, Zuckerplätzchen und allerlei Leckereien in den verschiedensten Aufmachungen.
Da kam mir plötzlich der Gedanke daran, wie gern ich in meiner ersten Jugend diese kleinen Süßigkeiten gehabt hatte. Ich erinnerte mich, wie oft ich damals im Städtchen Akureyri vor solch einem Fenster gestanden und die kleinen bunten Zuckerkügelchen und die Bonbons bewundert hatte, und wie dankbar ich war, wenn ein Erwachsener mir einige schenkte.
Kurz entschlossen trat ich in den Laden hinein, um eine Handvoll davon für die Kinder, denen ich auf meinem Spaziergang begegnen würde, zu kaufen.
Der Kaufmann fragte höflich nach meinem Begehren. Als ich um einige Zuckersachen bat, wie sie die Kinder gerne hätten, wählte er sofort das Richtige aus. Ich bezahlte und wandte mich zur Türe.
Da ging sie gerade von außen her auf, und ein neuer Kunde kam herein. Ich wollte an ihm vorbei ins Freie. Er aber blieb stehen und schaute mich mit großen Augen an. Dann faßte er freundlich meine Hand und sagte:
»Ah, ich kenne Sie!«
»Ich fürchte«, erwiderte ich, »daß Sie mich mit einem andern verwechseln, denn wir haben uns sicher nie im Leben gesehen.«
»Das glaube ich auch, aber dennoch kenne ich Sie – und bin in der Lage, Ihren Namen zu nennen.«
»Das würde mich wundern«, entgegnete ich, »denn ich bin wildfremd hier.«
»Ich getraue es mir aber dennoch«, fuhr der Mann fort. »Ich wette, daß Sie Jón Svensson sind, den alle hier unter dem Namen Nonni kennen.«
»Nun, ich muß Ihnen recht geben«, sagte ich erstaunt. »Aber wie haben Sie mich erkennen können, ohne mich je gesehen zu haben?«
»Das will ich Ihnen verraten: in Ihren Büchern, die ich gelesen habe, steht Ihr Bild. Sie sehen also, daß es unter diesen Umständen kein Kunststück ist, Sie zu erkennen. Und zudem wissen wir auch alle, daß Sie ins Land kommen sollen.«
Wir gaben einander noch einmal die Hand zu herzlicher Begrüßung. Auch die andern Leute, die im Laden waren, gaben mir die Hand und begrüßten mich mit der größten Freundlichkeit.
Aber nicht genug damit; jetzt mußte ich dem Mann, der mich zuerst erkannt hatte, versprechen, gleich mit ihm in sein Haus zu gehen, damit er mich seiner Familie vorstellen könne. Ich nahm diese Einladung an und ließ mich von meinem neuen Freund nach seinem Hause führen.
Mit offenen Armen wurde ich hier von der ganzen Familie empfangen. Ich mußte in der Wohnstube Platz nehmen und auf unzählige Fragen antworten. Dann brachte die gute Hausfrau Kaffee und Kuchen, damit meine Rückkehr in die liebe Heimat würdig gefeiert würde.
Ich kann nicht beschreiben, wie herzlich meine Gastgeber gegen mich waren. Wenigstens eine Stunde behielten sie mich in ihrer Mitte und behandelten mich wie einen Prinzen. Und als ich endlich das gastfreundliche Haus verließ, ging der Hausherr mit mir, um mein Begleiter und Führer auf dem Spaziergange durch das Städtchen zu sein.
Auf diesem Gange begegneten wir auch Viktor, der mit seinen jungen Freunden noch daran war, die »Sehenswürdigkeiten« Seydisfjords sich anzusehen.
Mein Gastherr verließ mich erst, nachdem er mich zum Schiff zurückbegleitet hatte. Hier nahmen wir Abschied. Seine liebenswürdige Gastfreundschaft werde ich aber niemals vergessen.
Kurz nachdem ich das Schiff wieder erreicht hatte, wurde das Zeichen der Abfahrt gegeben.
Die starken, durchdringenden Töne der Schiffspfeife wurden eine Zeit lang als lautes kräftiges Echo von Berg zu Berg geworfen, bis sie endlich in weiter Ferne von den tiefen Tälern und Schluchten des Hinterlandes verschlungen wurden.
Nachdem dann die letzten Gruppen der Passagiere, darunter auch Viktor mit seiner Begleitung, zum Schiff zurückgekehrt waren, wurde es flottgemacht, und nun fuhren wir wieder ins offene Meer hinaus.