Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Elftes Kapitel.

Gottes Finger.

Schuri sah sich nach wenig Augenblicken durch eine geschlossene Menge mit hinweggerissen, die aus den Vorstadtwirtshäusern geströmt war und sich vor der Linie gestaut hatte, um sich von dort über den Boulevard Saint-Jacob zu ergießen. Von weither hörte man, wiewohl es schon heller Tag war, schallende Orchestermusik, denn in keiner Schenke ging es heute still her. Fast alle Männer, auch Weib und Kind trugen Maskenkostüme, und wer sich den Luxus eines Kostüms nicht leisten konnte, hatte doch für allerhand Aufputz, und wenn er sich aus Lumpen und Flitter zusammensetzte, gesorgt. Auf allen durch Ausschweifung und Laster zerstörten Gesichtern leuchtete wilde Freude und nicht zum mindesten hatte sich die frohe Stimmung dadurch schier ins Maßlose gesteigert, daß sich die Kunde von der für den Morgen zu erwartenden Hinrichtung unter der Menge verbreitet hatte.

Schon war ja das Schafott aufgeschlagen worden. Eine unermeßliche Volksmenge – der ekelhafteste Abschaum der Pariser Bevölkerung, aus Räubern, Wegelagerern, Dieben und Gaunern aller erdenklichen Schattierungen bestehend – drängte sich hier, wo sich der äußere Boulevard erheblich verengt.

All seine Riesenkraft half Schuri nichts: er mußte in dieser geschlossenen Masse stehen bleiben, ohne daß er ein Glied rühren konnte. Er fügte sich darein, da ihm für den Augenblick weiter nichts übrig blieb. Wie ihm gesagt worden war, sollte Fürst Rudolf in der zehnten Stunde aus der Rue Plumet abfahren, konnte also vor elf Uhr nicht an der Charentoner Linie sein. Jetzt war es erst etwa sieben Uhr.

Schuri fühlte einen unüberwindlichen Abscheu vor diesem Pöbel, in dessen Mitte er geraten war, wenngleich er früher nur mit den niedrigsten Elementen Umgang gehabt, hatte. Der Menschenstrom schob ihn bis an die Mauer eines der vielen Boulevard-Wirtshäuser, und so wurde er, ohne es zu wollen, Zeuge einer wunderlichen Szene, die sich in einem großen, zum Tanzsaale hergerichteten Schenkraume abspielte.

An demjenigen Saalende, wo die Musik ihren Platz hatte, wo Bänke und Tische mit allerhand Tafelresten, zerbrochenem Geschirr und umgestürzten Flaschen aneinander gerückt standen, erging sich ein Dutzend von halbbetrunkenen kostümierten Männern und Weibern in einem tollen, unzüchtigen Tanze, der in der Regel erst dann unternommen wird, wenn die Polizeistunde geschlagen hat und der betreffende Raum, der dafür ausersehen ist, nach außen hin geschlossen werden kann.

Zwischen den Paaren, die an diesen Saturnalien sich beteiligten, fielen Schuri zwei auf, die durch ihre geradezu empörenden Stellungen und Lieder die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zogen.

Das erste Paar bildeten ein als Bär verkleideter Mann und eine wilde Marketenderin. Die Kopfmaske mochte dem Manne lästig geworden sein, wenigstens hatte er sie durch ein wie eine Kapuze aussehendes Ding ersetzt, das sein ganzes Gesicht verhüllte, bis auf zwei Löcher in der Augengegend und einem breiten Spalte, der dem Munde das Sprechen und Atmen ermöglichte.

Dieser Mensch, der sich unter einer Bärenmaske versteckte, war kein anderer als Niklas Martial, der sich mit Barbillon, seinem Zellengenossen in Bicêtre, und den beiden Mördern, die zu Anfange dieser Erzählung in der Penne zum weißen Kaninchen verhaftet worden waren, nach ihrem gemeinsamen Ausbruch aus dem Gefängnis hier bei diesem Volksfest wieder zusammen gefunden hatte.

Die mit ihm tanzende Marketenderin trug einen Lederhut voll Beulen, der mit zerschlissenen Bändern ausgeputzt war, dazu ein Wams aus verschossenem roten Tuche mit drei Reihen Kupferknöpfen, das an einen Husarendolman erinnerte, einen grünen Oberrock und Beinkleider aus weißem Kattun. Ihr Haar fiel verworren auf die Stirn, und ihr bleiches Gesicht verriet schamlose Frechheit.

Das Vis-a-vis des Paares war nicht minder roh und gemein: Der Mann, fast ein Riese, als Robert Macaire kostümiert, hatte sich das knochige Gesicht bis zur Unkenntlichkeit mit Ruß beschmiert. Eine breite Binde bedeckte das rechte Auge, und das matte Weiß des von diesem Gesichte abstechenden Augapfels verunstaltete es noch mehr. Der untere Teil des Gesichts verschwand in einer hohen Krawatte, die aus einem alten roten Schal gedreht worden war. Auf dem Kopfe trug er, entsprechend der Robert Macaire-Maske, einen grauen, abgeschabten, plattgedrückten, schmutzigen Hut, dem der Boden fehlte. Dazu einen zerrissenen grünen Frack und ein Paar rote, an tausend Stellen geflickte Beinkleider, unten mit Bindfaden zusammengeschnürt, und über stahlblauen Strümpfen ein Paar strohgelbe Sandalen.

In diesem Kostüm spielte sich dieser gefährliche Verbrecher – in welchem der Leser wahrscheinlich schon das »Skelett« wiedererkannt haben dürfte – als der rüpelhafteste aller Chahut-Tänzer auf – Chahut ist der Name des unanständigsten aller obszönen Tänze, die das Paris nach dem letztmaligen Regiment der Bourbonen gekannt hat – warf seine langen, eisenharten Glieder nach rechts und links, bald vor-, bald rückwärts und brachte sie in alle möglichen Formen mit einer Kraft und Elastizität, wie wenn sie aus Stahlfedern bestünden.

Seine Tänzerin war ein großes, gewandtes Geschöpf mit frechem Gesichte, trug eine Soldatenmütze, auf das Ohr gekippt, über einer gefiederten Perücke mit langem Zopfe, eine Jacke und grünsamtne, stark abgeschabte Beinkleider, um die Taille eine orangefarbige Schärpe mit langen Enden, die um sie herflatterten.

Ein dickes, gemeines Weib, die Wirtin aus der Penne »zum weißen Kaninchen«, saß auf einer Bank, über den Knien die karierten Mäntel der Marketenderin und dieses frechsten aller Weibsbilder haltend, die gleich ihrer Kameradin in den frechen Stellungen und wilden Sprüngen mit dem »Skelett« und mit Niklas Martial wetteiferte.

Unter den Tänzern fiel auch ein kleiner, lahmer Wicht auf, der sich als Teufel kostümiert hatte, aber in einem schwarzen Trikot, der ihm viel zu weit und zu groß war, und dazu eine grüne Maske trug. Trotz seinem Gebrechen besaß dieses kleine Ungeheuer eine bewunderungswürdige Gewandtheit. Seine frühreife Verdorbenheit war, wenn nicht größer, doch wenigstens ebenso groß wie die seiner schlimmen Genossen, und er sprang so frech und wild vor einer feisten Weibsperson herum, daß sich jeder, der ihn sah, verwundern mußte, wie sich ein Mensch so zu gebärden vermochte.

Wider den lahmen Jungen Rotbarts war kein Strafverfahren erhoben worden, und sein Vater, der einstweilen in Untersuchungshaft behalten worden war, hatte ihn für diese Zeit dem alten Micou, dem Hehler, der durch keinen seiner Komplizen angezeigt worden war, in Pflege gegeben.

Als Staffage zu diesem Verbrecherbilde, das wir zu zeichnen versucht haben, denke man sich das gemeinste, schändlichste Gesindel dieses raubsüchtigen, blutdürstigen, gottlosen Pöbels, der sich allzeit feindlich gegen die soziale Ordnung auflehnt, und man bekommt eine Lösung für das Rätsel, woher in Tagen der Revolution die schlimmen Gestalten kommen, die dann Leben und Sicherheit auf das schrecklichste gefährden – die wie aus dem Erdboden gewachsen erscheinen und doch jahraus, jahrein die Hefe der großstädtischen Bevölkerung bilden . . .

Alle bei dieser häßlichen Orgie beteiligten Personen, Männer sowohl als Weiber, aufgereizt durch das Gelächter und das Gejohle der an den Fenstern gestauten Volksmenge riefen, ja gröhlten den Musikern zu, den Kehraus zu spielen, und diese, froh, das Ende einer für sie und ihre Lungen so anstrengenden Beschäftigung zu sehen, bequemten sich gern dazu, einen rasenden Galopp zu spielen.

Der wilde Jubel steigerte sich zur bacchantischen Raserei. Alles stellte sich paarweis auf, alles umschlang einander, alle folgten erst hinter dem Skelett und seiner »Dame« her, aber im Nu waren alle Paare zu einem Knäuel verwickelt, der unter wildem Getöse einen richtigen Höllentanz aufführte.

Eine dicke Staubwolke stieg vom Fußboden unter dem wilden Gestampf auf, eine dunkle rötliche Wolke bildend über dem Wirbel der fest ineinander gekeilten, in rasenden Drehungen befindlichen Männer und Weiber . . .

Bald war es nicht mehr Trunkenheit, sondern Wahnsinn, Tollheit, Raserei, die in dem Saale herrschte, alles erhitzte sich am eignen Geschrei, niemand fand Platz genug für sich, eines war dem andern ein Hindernis.

Da schrie das Skelett:

»Achtung! Jeder suche die Türe! Hinaus auf den Boulevard! Dort können wir rasen! Dort hindert uns keine Wand! Hinaus! Hinaus auf den Boulevard!«

»Juchhe! Juchhe! Bravo, bravo!« heulte alles, »hinaus, hinaus! Und im Galopp bis zur Linie Sankt-Jakob!«

»Es muß ja bald mit den beiden Weibern losgehen, die geköpft werden sollen!« schrie einer, »wenn die zur Hölle galoppieren, tanzen wir ihnen den Takt dazu!«

»Da kann der Henker mit Doppelschlag arbeiten!« schrie ein anderer.

»Und wir machen die Klapphornbegleitung dazu!« ein vierter.

»Juchhe, juchhe zum Fallbeil-Galopp! Juchhe, juchhe zur Halspolka!«

»Ich tanze den Galopp mit einem der beiden geköpften Weiber,« gröhlte der kleine Lahme . . . »die Hexen wollen auch noch was haben! Juchhe, juchhe! Zum Schafott! Zum Schafott!«

»Juchhe! Wir wollen ihnen einen lustigen Abschied bereiten!«

»Ich nehme die Witwe!« – »Und die Tochter gehört mir!« – Juchhe! Wird das ein Gaudium sein für den alten Samiel! Wird sich der Henker gecken, wenn er an den Knopf drückt! Wie wird das Beil hinuntersausen, wenn wir den Galopp dazu tanzen!« – »Samiel soll mit seinen beiden Hexen Chahut tanzen auf seinem Podium!« – »Juchhe, juchhe! Den Chahut auf dem Podium! Kinder, wird das ein Fest! wird das ein Fest!«

»Tod allen ehrlichen Lumpen!« schrien Weiberstimmen aus der wilden Menge. »Hoch alle Diebe und Mörder! Hoch alle Diebe und Mörder!«

Dazwischen klangen obszöne Lieder, gräßliches Geschrei und Pfeifen, und als es dem Skelett geglückt war, sich einen Weg durch die vor der Tür gestaute Menge zu bahnen, drängte und stieß alles hinter ihm her, bis alles in einen unentwirrbaren Knäuel verwickelt war, und das Gebrüll, das Fluchen und Johlen von Menschlichem nichts mehr an sich hatte . . .

Zweierlei Vorgänge steigerten indessen den Tumult ins Unglaubliche . . .

Am Ende des Boulevards tauchte der Karren mit den beiden Delinquentinnen auf. Kavallerie-Piketts ritten voraus. Die Pöbelhaufen rannten johlend und tobend ihnen entgegen.

Da erschien vor dem dichten Haufen, im raschen Lauf vom Invaliden-Boulevard her, ein Kurier, der in der Richtung nach der Charentoner Linie entlang galoppierte, in einer hellblauen Jacke mit gelbem Kragen und Treffen auf allen Nähten, schwarzen Beinkleidern zum Zeichen tiefer Trauer, desgleichen die breitbordierte Mütze mit Krepp umschlungen . . .

An dem Zügel kam das großherzogliche Wappen von Gerolstein im schwarzen Relief zum Vorschein . . .

Der Kurier ließ sein Pferd im Schritt gehen, mußte es jedoch bald anhalten, da er mitten in die Pöbelmasse hinein geraten war, und trotzdem er »Achtung! Achtung!« in einem fort schrie, so behutsam und geschickt er sein Pferd lenkte, so wurden doch im Nu Drohungen wider ihn laut.

»Der will wohl mit seinem Biest über unsre Köpfe wegreiten?« – »Hat dieser Himmelhund aber Silber auf seinem Leibe!« rief der lahme Junge. – »Er soll uns nicht wild machen,« schrie ein anderer, »sonst reißen wir ihn von seiner Schindmähre in den Straßendreck!« – »Und schneiden ihm die Tressen von den Lumpen, die Micou schon einschmelzen wird!« gröhlte ein vierter. – »Stoßen dem Lakai ein Eisen in den Leib, wenn er nicht parieren will!« rief das Skelett dem Kurier ins Gesicht, während er sein Pferd am Zügel packte, denn das Gedränge war so stark geworden, daß der Räuber darauf verzichtet hatte, seine Galoppade bis zur Linie Sankt-Jakob fortzusetzen.

Der Kurier war ein kräftiger, entschlossener Mann, der sich nicht besann, seinen Peitschenstiel zu schwingen und dem Skelett zuzurufen:

»Losgelassen, oder ich schlage dir den Peitschenstiel über den Kopf!«

»Hund! Riskiers nur!« schrie das Skelett, ohne der Aufforderung Folge zu leisten . . .

»Platz da!« rief der Kurier wieder, »wer hat hier ein Recht, mich anzuhalten? Hinter mir her kommt der Wagen meines Herrn. Hörst du nicht schon die Peitschen knallen? Platz hier für mich und meinen Herrn!«

»Was geht mich dein Herr an?« rief das Skelett, »tot steche ich ihn, wenns mir einfällt – hab ohnehin noch keinen wirklich großen Herrn kalt gemacht!«

Da rief der lahme Junge: »Herren gibts nicht mehr – wir machens wie unsre Altvordern – wer Herr sein will, muß aufs Schafott! Das Volk ist Justiz! Das Volk ist Justiz!« – Und während er den Vers aus der Marseillaise sang: »En avant, en avant! Marchons contre leur canons!« packte er einen Stiefel des Kuriers und hing sich mit seiner ganzen Last daran, so daß der Kurier im Sattel wankte. Ein derber Schlag mit der Peitsche züchtigte den frechen Bengel, aber im nächsten Augenblick stürzte sich der Pöbel über den Kurier, und wenngleich er seinem Rosse die Sporen einsetzte, gelang es ihm doch nicht, sich durch die Menschenmasse hindurchzuarbeiten, auch nicht, seinen Hirschfänger zu ziehen. Im Nu war er vom Pferde gerissen und wäre gelyncht worden, hätte nicht die Ankunft von Rudolfs Kutsche die Aufmerksamkeit der Menge abgelenkt.

Der mit vier Pferden bespannte Wagen des Fürsten fuhr schon eine Zeitlang im Schritt, und zwei von den Dienern, die wegen Sarahs Abscheiden in Trauer gingen, waren klugerweise von ihrem Hinterplatz abgestiegen und gingen, da die Kutsche sehr niedrig war, neben dem Verschlage her. »Achtung!« riefen die Postillone wieder und fuhren mit der größtmöglichen Vorsicht.

Rudolf, wie seine Tochter in Trauer gekleidet, blickte mit inniger Freude in ihr sanftes, liebliches Gesicht, das von einem schwarzen Krepphute umrahmt war, der die blendende Weiße ihres Teints und den Glanz ihres schönen blonden Haars kräftig hervorhob, während in ihren blauen Augen sich das herrliche Blau des Himmels zu spiegeln schien. Zwar zeigte ihr mild lächelndes Gesicht, wenn sie den Blick auf ihren Vater richtete, Glück und Ruhe, wenn aber ihres Vaters Blicke nicht auf ihr ruhten, machte dieser Ausdruck schnell einem melancholischen Anfluge Platz, der sich wie ein Schatten über das Gesicht lagerte.

»Du bist doch nicht ungehalten, liebes Kind,« fragte Rudolf lächelnd, »daß ich dich so zeitig aus deiner Ruhe aufgescheucht habe?«

»Nicht doch, lieber Vater! Wir wollten doch zeitig abreisen, und es ist ja schon so früh hell!«

»Ich dachte, die Reise würde sich besser einrichten lassen,« sagte Rudolf, »wenn wir uns beizeiten auf den Weg machten, auch daß sie dich weniger angreifen möchte. Murph wird dich mit meinem Gefolge, unter dem sich auch deine Bedienung befindet, auf der ersten Raststation treffen!«

»Sie denken immer nur an mich, mein lieber Vater!«

»Kann ich jetzt wohl einen andern Gedanken haben?« erwiderte der Fürst lächelnd, »du bist ja meine einzige Tochter! Komm, neige deine Stirn!«

Marie beugte sich zu ihrem Vater nieder, und Rudolf küßte sie. In diesem Augenblick erreichte der Wagen die Volksmenge und verlangsamte sein Tempo auf höchst auffällige Weise. Erstaunt ließ Rudolf das Kutschfenster herunter und fragte seinen neben dem Schlage hergehenden Diener, was es gebe und was der Lärm zu bedeuten habe?

»Es ist eine solche Volksmenge hier, daß die Pferde nicht weiter können.«

»Und was will das Volk?« fragte Rudolf.

»Es heißt, königliche Hoheit, eine Hinrichtung . . .«

»Das ist ja schrecklich, daß gerade uns so etwas in den Weg kommen muß,« rief Rudolf.

»Was ist Ihnen, Vater?« fragte Marie besorgt.

»O, nichts,« versetzte Rudolf, »nichts, Kind!«

»Aber was ist denn das für Geschrei?« fragte Marie, »hören Sie doch nur! Die Leute drängen näher und näher heran . . . Jesus Christus!« schrie sie auf, »was hat das zu bedeuten?«

»Franz, sage den Kutschern, sie möchten auf der Stelle umdrehen und die Charentoner Straße entlang fahren,« befahl Rudolf.

»Dazu ist es zu spät, königliche Hoheit,« versetzte der Diener, »denn wir sind schon mitten im Gedränge . . . verdächtiges Gesindel hält unsre Pferde an!«

Franz konnte nicht weiter sprechen; die Menge, gereizt durch die wüsten Prahlereien von Niklas und dem Skelett, umringte mit lautem Geschrei den Wagen. Aller Drohungen und Anstrengungen der Postillone ungeachtet, wurden die Pferde zum Stehen gebracht, und überall zeigten sich wilde, drohende Gesichter. Alle übrigen weit überragend, trat jetzt das Skelett an den Wagenschlag.

»Vater, Vater,« rief Marie, »Achtung, Achtung!« – und inbrünstig schlang sie die Arme um ihn.

Der Räuber steckte den häßlichen Kopf zum Wagen herein und fragte, die Zähne fletschend: »So? Sie sind also der Herr des Wagens?«

Wäre nicht Marie an seiner Seite gewesen, so hätte Rudolf sicher seinen aufbrausenden Charakter nicht bändigen können. So aber hielt er an sich und fragte kalt und gemessen: »Was wollt Ihr von mir, und warum haltet Ihr meinen Wagen an?«

»Warum? Weil es uns halt so beliebt!« versetzte das Skelett, die knochigen Fäuste auf den Schlag legend: »es kommt eben jeder an die Reihe . . . Gestern hast du die Kanaille geschurigelt, heute wird sich die Kanaille dafür rächen, sobald du dich mucksen solltest.«

»Vater, Vater,« klagte Marie, »wir sind verloren!«

»Sei nur ruhig, Kind,« erwiderte Rudolf, »ich rate schon, worauf die ganze Komödie hinaus geht . . . Es ist letzter Karnevalstag, die Leute sind im Rausche – ich will sie bald vom Halse haben.«

»Aussteigen, aussteigen!« schrie Niklas, »warum fährt solch ein Kerl mitten ins Volk hinein?«

»Wie es scheint, haben Sie ein paar Maß über den Durst getrunken,« fuhr Rudolf den frechen Wicht an, eine Börse aus der Tasche ziehend und dem Schreier hinwerfend, »da! nehmt das, haltet aber meinen Wagen nicht länger auf!«

Der lahme Wicht fing sie auf . . . »So? Du willst auf die Reise?« rief der Bandit, »hast wohl viel Moos bei dir? Heraus damit, oder ich mache dich kalt! Zu riskieren habe ich nichts, denn ich fordere dir dein Geld am helllichten Tagen ab . . . Also: dein Geld oder dein Leben!« Mit diesen Worten riß der von Wein und Blutdurst völlig berauschte Bandit den Schlag auf . . .

Rudolfs Geduld war zu Ende. Mariens Angst nahm mit jeder Minute zu. Besorgt um sie und in der Meinung, eine Kraftäußerung möchte den Elenden, den er für betrunken hielt, einschüchtern, sprang er aus dem Wagen, den Räuber an der Kehle zu packen. Im ersten Augenblick wich dieser zurück, dann aber riß er ein langes Dolchmesser aus dem Gürtel und stürzte auf Rudolf los . . .

Als Marie den Dolch des Räubers über dem Haupte ihres Vaters sah, stieß sie einen herzzerreißenden Schrei aus, sprang aus dem Wagen und umschlang Rudolf mit den Armen . . .

Hätte sich nicht in diesem Augenblick ein Mann aus der Menge mit übermenschlicher Anstrengung den Weg zu dem Skelett frei gemacht, so wäre es um Rudolf und Marienblümchen geschehen gewesen . . . Der Mann war kein anderer als Schuri . . . Gerade als der Bandit den Fürsten mit dem Messer anfallen wollte, fiel ihm Schuri in den Arm, packte ihn am Kragen und drückte ihn zur Erde nieder . . .

Der Räuber, obgleich unversehens von hinten gepackt, konnte sich umdrehen und erkannte Schuri auf der Stelle . . .

»Ha!« schrie er, »der Mann aus La Force? Der Kerl in der grauen Bluse! Warte, diesmal entgehst du mir nicht!« Und wie rasend stürzte er über Schuri her und rannte ihm das Messer bis ans Heft in die Brust . . .

Schuri wankte wohl, fiel aber nicht – denn die Menge stand so dichtgedrängt, daß kein Platz für einen liegenden Menschen gewesen wäre . . .

»Die Wache! Die Wache!« riefen verschiedene Stimmen.

Bei diesen Worten zerstreute sich die Menge, angesichts des Ermordeten, denn jeder fürchtete für seine Haut – und war wie durch einen Zauberschlag nach allen Seiten hin zerstoben . . . Auch das Skelett, Niklas und der kleine, lahme Wicht waren verschwunden, wie in den Erdboden gesunken . . .

In Begleitung der Wache kam der Kurier des Fürsten, dem es gelungen war, den Weg durch die Menge zu gewinnen und die Wache zu alarmieren. Aber auf dem Schauplatze des traurigen Ereignisses war außer Rudolf, Marien und dem in seinem Blute schwimmenden Schuri niemand mehr zugegen.

Die Diener des Fürsten hatten Schuri an einen Baum gestützt.

Der ganze Vorgang hatte sich weit schneller abgespielt, als es gedauert hat, ihn zu erzählen, und zwar wenige Schritte vor dem Wirtshause, aus welchem das Skelett mit seinem Anhange gekommen war.

Bleich und tiefbewegt hielt der Fürst seine ohnmächtige Tochter umschlungen, während die Postillone sich damit befaßten, das Geschirr ihrer Pferde wieder in Ordnung zu bringen.

»Geschwind!« befahl der Fürst seinen Leuten, »bringt den Unglücklichen ins Gasthaus hinüber. Du aber,« wandte er sich an seinen Kurier, »fahre geschwind nach meinem Palais zurück und hole David, den Doktor, her. Er wollte erst um elf Uhr wegfahren. Du wirst ihn also noch zu Hause antreffen.«

Kurz nachher fuhr der Wagen im Galopp davon. Die beiden Diener trugen Schuri in den niedrigen Saal, in welchem die Orgien gefeiert worden waren, und wo noch einige von den Weibern sich aufhielten, die daran teilgenommen hatten.

»Armes Kind,« sagte Rudolf zu seiner Tochter, »ich werde dich in eine Stube dort bringen, wo du auf mich warten magst, denn ich kann den mutigen Mann auf keinen Fall bloß meinen Leuten überlassen.«

»Ach, mein lieber Vater,« sagte Marie, »lassen Sie mich nicht allein! ich stürbe ja vor Angst . . . nein, nein! Ich will bei Ihnen bleiben, bei Ihnen! bei Ihnen!«

»Aber was du sehen wirst, wird deine Nerven erschüttern, Kind!«

»Verdanke ich nicht diesem Manne das Leben meines Vaters?« fragte Marie tief erschüttert, »so lassen Sie mich also ihm zusammen mit Ihnen danken und ihn pflegen und trösten.«

Der Fürst befand sich in arger Verlegenheit. Er begriff recht gut, daß es für sein Kind schlimme Bedenken hatte, allein in einer Stube solches gemeinen Wirtshauses zu verweilen, und so entschloß er sich zu dem kleineren Uebel und erlaubte ihr, mit in den Saal zu kommen, worin man Schuri gebettet hatte.

Der Wirt war im Verein mit mehreren Mägden eifrig um den Verwundeten bemüht, und suchte das Blut zu stillen, das ihm aus der verwundeten Brust rann. Schuri hatte gerade die Augen aufgeschlagen, als Rudolf eintrat. Das todbleiche Gesicht bekam, als seine Augen den Fürsten erblickten, jäh wieder Leben, und schwach lächelnd, sagte er mit matter Stimme:

»Ach, Herr Rudolf, es war doch wirklich gut, daß ich mit bei der Affäre war!«

»Du bist eben mutig und aufopferungsvoll wie immer . . . und dabei hast du mich ja schon einmal gerettet!« sagte Rudolf in bewegtem Tone zu ihm.

»Ich wollte – an die Linie von Charenton – gehen, um Sie – vorbeifahren zu sehen; – zum Glück wurde ich – von dem Gedränge aufgehalten. Uebrigens mußte mir – das begegnen – ich habe es Martial gesagt; ich ahnte es.«

»Ahntest es? Wirklich?«

»Ja, Herr Rudolf, – der Traum vom Feldwebel, den ich heut nacht wieder gehabt habe –«

»Vergiß das und hoffe; die Wunde wird nicht tödlich sein –«

»Ach, das Skelett hat gut gezielt. – Es schadet aber nichts; ja, ich hatte recht, als ich zu Martial sagte, ein Wurm wie ich – könnte auch manchmal einem – großen Herrn – wie Ihnen – nützlich sein – Wir sind nun quitt – Herr Rudolf. – Sie haben mir gesagt, ich hätte ein Herz und Ehre im Leibe, – und diese Worte, sehen Sie – Ach, ich ersticke. – Gnädigster Herr – ohne Ihnen etwas zumuten zu wollen, das Sie nicht tun können oder dürfen – erweisen Sie mir die Ehre – und reichen Sie mir die Hand; – ich fühle, daß es – zu Ende geht.«

»Nein, es kann nicht sein – es kann nicht sein!« rief der Fürst, indem er sich über den Schuri-Mann bog und die kalte Hand des Verwundeten drückte, – »nein, du wirst leben, du wirst leben!«

»Herr Rudolf – sehen Sie, – es gibt – da oben – etwas! – ich habe gemordet – durch einen Messerstich und – ich sterbe – durch einen – Messerstich,« sagte Schuri mit immer schwächer werdender Stimme.

In diesem Augenblick fiel sein Blick auf Marienblume, die er noch nicht bemerkt hatte. – Auf seinem Gesicht malte sich Erstaunen, er machte eine Bewegung und sagte:

»Ach – mein – Gott! – die Schalldirne! Die – Schall – dir – ne!«

»Ja, – sie ist meine Tochter! Sie segnet dich dafür, daß du ihr den Vater erhalten!«

»Sie – Ihre Tochter! – das – erinnert mich daran – wie – wir miteinander – bekannt – wurden – Herr Rudolf – und – an die – Faustschläge – aber – dieser Messerstoß – ist – auch gut. – Ich habe – das Messer gebraucht – und sterbe durch – ein Messer. – Es ist ganz – recht.«

Noch einmal holte er tief Atem; dann ließ er den Kopf zurücksinken. Er verschied.

Draußen hörte man Pferdegetrappel und Wagengerassel; der Kurier war dem Wagen von Murph und David begegnet, die früher abgefahren waren, als bestimmt gewesen.

David und der Squire traten in die Stube.

»David,« sagte Rudolf, seine Tränen trocknend und auf Schuri zeigend, »ist keine Hoffnung mehr?«

»Keine, königliche Hoheit,« sagte der Arzt nach kurzer Untersuchung.

Während dieser Minute hatte eine schreckliche, stumme Szene sich zwischen Marie und der Wirtin vom »weißen Kaninchen« abgespielt, die Rudolf nicht bemerkt hatte.

Als Schuri halblaut den Namen der Schalldirne ausgesprochen, hatte die Wirtin rasch aufgeschaut und das Mädchen erblickt.

Das schreckliche Weib hatte auch bereits Rudolf erkannt: man nannte ihn »gnädigster Herr, königliche Hoheit«, – und er – er nannte die Schalldirne seine Tochter; – solche Verwandlung ging über die Begriffe der Frau, die ihr ehemaliges Opfer unverwandt anstierte.

Marie stand bleich und unbeweglich da und schien durch diesen Blick wie festgebannt zu sein.

Der Tod Schuris und das unerwartete Erscheinen der Wirtin, das die Erinnerung an ihr früheres Leben schmerzlicher als je heraufbeschwor, bedünkte sie eine traurige Vorbedeutung. Sie konnte von diesem Augenblick an eine Ahnung nicht niederkämpfen, und Ahnungen haben oft auf Charaktere gleich dem ihrigen einen unabweislichen Einfluß.


Bald nach diesen traurigen Begebnissen hatte Fürst Rudolf mit seiner Tochter Paris für immer verlassen.



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