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In ein kleines Zimmer des Oberstocks von Micous Hause dringt nur mühsam ein bleiches, mattes Licht. Ein Tisch aus weichem Holz, ein Stuhl und eine Bettstelle mit Gurtmatratze sind das einzige Mobiliar. Vor dem Stuhle sitzt die Baronesse von Fermont, auf dem Bett ruht ihre Tochter Klara . . . Frau von Fermont wird 36, Klara knapp 16 Jahre alt sein. Auf dem noch immer schönen Antlitz liegt ein Zug sanfter Schwermut, das edle Profil von Klaras jugendlichem Gesicht tritt auf der grauen, groben Leinwand, auf der ihr Kopf ruht, eindrucksvoll hervor.
Die Mutter steht am Bette ihres Kindes und berührt mit ihrer kalten Hand dessen fieberheißen Arm . . . »Wie sie jetzt friert!« sagt sie, »und vor einer Stunde war sie noch heiß vom Fieber. Zum Glück weiß sie nicht, daß sie Fieber hat . . . Ach, und die Decke ist so dünn! Ich möchte noch mein Schaltuch über sie legen; wenn ich es aber von der Tür nehme, gaffen die betrunkenen Männer wieder, wie gestern, durchs Schlüsselloch . . . Ein grauenhaftes Haus! Hätte ich gewußt, was für Menschen hier hausen, wäre ich nicht eingezogen. Aber ich konnte es ja doch nicht wissen! Und ohne Ausweispapiere wird man in anderen Häusern ja auch nicht zugelassen!« Zornig unterbrach sie sich . . . »Ha! Es ist doch schändlich, wie mich dieser Notar betrogen hat! Und obendrein völlig außerstande zu sein, auch nur das geringste gegen ihn zu unternehmen! . . . Hätte ich wenigstens Geld noch, den Prozeß zu Ende zu führen! So muß ich das Andenken meines armen edlen Bruders in den Schmutz ziehen sehen, muß es mit anhören, daß er seinem Leben ein Ende gemacht habe, weil er finanziell ruiniert gewesen sei! muß den Schimpf auf ihm sitzen lassen, daß er mein und meiner Tochter Vermögen vergeudet habe!, . Aber ich habe nichts in Händen gegen diesen Schurken von Notar und könnte weiter nichts erreichen, als daß ich ihm einen Skandal an den Hals hänge, aus dem aber auch ich nur Schaden ernten könnte! . . . O, durch diesen Schurken in die schlimmste Not gebracht worden zu sein, ist kaum zu ertragen . . . Während ich von guten Zinsen standesgemäß leben könnte, wäre ich ihm nicht in die Hände gefallen, muß ich jetzt Zuflucht zu Almosen nehmen! . . . O, wie oft habe ich schon daran gedacht, in Stellung zu gehen als Dame irgend eines Hauses oder auch in eine solche geringerer Beschaffenheit; wie gern möchte ich an Stelle der Wartefrau der Dame im ersten Stockwerk sein! Mit dem Lohne, den diese Dame bezahlt, könnte ich für meine Tochter sorgen . . . wer weiß, ob meine Tochter nicht durch sie irgend eine standesgemäße Unterkunft fände? O Gott! Wenn du doch bald Hilfe deinen armen Kindern senden möchtest!«
Es wurde dreimal heftig an die Tür geklopft . . . Frau von Fermont fuhr zusammen, und Klara schreckte aus ihrem Halbschlummer auf . . . »Ach Gott, Mama!« rief Klara ängstlich, »wer klopft denn so? Es wird doch nicht wieder der lahme Mensch sein, der uns schon einmal belästigt hat?«
Ihre Angst schwand jedoch, als sie Micous Stimme hörte . . . »Gnädige Frau, mein Neffe kommt von der Post wieder. Es liegt ein Brief da mit einem X und einem Z signiert. Er kommt von weither und kostet 8 Sous. Bestellungsgebühr zugerechnet, sind 20 Sous dafür zu entrichten.«
»Mutter,« rief Klara, »der Brief ist aus der Provinz, sicher von Herrn von Saint-Remy oder von Orbigny . . . Mutter, wir sind gerettet, du brauchst nun nicht länger zu leiden, brauchst dir meinetwegen keine Sorge mehr zu machen, sondern wirst wieder glücklich werden wie in deinem früheren Leben. Siehst du, der liebe Gott ist doch gerecht und allgütig!« Während das junge Mädchen das sagte, erhellte ein Hoffnungsstrahl ihr reizendes Gesicht . . .
»Ach, Herr, ich danke . . . geben Sie her, geben Sie her!« rief Frau von Fermont, rasch den Tisch beiseite schiebend und die Tür halb öffnend . . . »Zwanzig Sous, meine Gnädige,« sagte der Hehler, ihr den ersehnten Brief vor die Augen haltend. – »Ich will's Ihnen gleich geben,« sagte die Frau. – »O, solche Eile hats damit nicht,« erwiderte der Hehler, »ich gehe jetzt auf den Boden. In zehn Minuten werde ich wieder da sein und im Vorbeigehen das Geld mitnehmen.«
Micou gab der Frau den Brief und ging . . . »Sieh, Kind,« sagte Frau von Fermont, »der Brief kommt aus der Normandie. Aubiers lautet der Poststempel, also kommt er von Orbigny.« Ihn eine Weile lang betrachtend, sagte sie dann: »Kind, wir halten unser Glück oder Unglück in der Hand!« aber den Mut, das Siegel zu brechen, fand sie erst nach geraumer Zeit . . .
»Gnädige Frau,« las sie dann mit bewegter Stimme. »Herr von Orbigny ist geraume Zeit schon krank und hat Ihnen, solange ich vom Schlosse abwesend war, nicht antworten können. Ich bin nun erst heute früh in Paris angekommen und beeile mich, Ihnen zu schreiben, nachdem ich Herrn von Orbigny Kenntnis von Ihrer Zuschrift gegeben. Er erinnert sich nur unbestimmt noch der Beziehungen, in denen er zu Ihrem verstorbenen Herrn Bruder gestanden haben soll. Der Name Ihres Herrn Gemahls ist dem Herrn Grafen nicht unbekannt, er kann sich jedoch nicht mehr entsinnen, bei welcher Gelegenheit er ihn hat nennen hören. Was Sie über Herrn Notar Ferrand zu schreiben belieben, erscheint dem Grafen als schmähliche Verleumdung, denn Herr Ferrand ist auch sein Notar. Er meint, Sie müßten arg verblendet sein, einen Mann von solcher Frömmigkeit und Rechtschaffenheit derartig zu beschuldigen. Es tut dem Herrn Grafen außerordentlich leid, Sie in einer so prekären Lage zu wissen; da er aber außerstande ist, Einblick in Ihre Verhältnisse sich zu verschaffen, ist es ihm unmöglich, Ihnen irgendwelche Hilfe angedeihen zu lassen . . . Mit der Versicherung unseres aufrichtigen Mitgefühls und meiner besonderen Hochachtung Gräfin von Orbigny,«
Mutter und Tochter sahen einander tiefbetroffen an. Keine der beiden Frauen konnte ein Wort über die Lippen bringen . . . Da klopfte Micou an die Tür und rief: »Darf ich um die 20 Sous bitten, gnädige Frau?« – »Gewiß, gewiß, solche frohe Kunde ist wohl wert, daß man dafür gibt, wovon man zwei Tage lang leben kann,« sagte Frau von Fermont, zu dem alten Koffer herantretend, dem das Schloß fehlte, und bückte sich, ihn zu öffnen . . .
Kaum hatte sie einen Blick hineingetan, als sie entsetzt in die Höhe fuhr und ausrief: »Klara, Klara, wir sind bestohlen! Es ist kein Geld mehr in dem Koffer!« – Und mit blitzenden Augen, die Wangen von tiefer Glut übergossen, rannte sie zur Tür hin und schrie dem Hehler zu: »Herr Micou! In dem Koffer hat ein Beutel mit Gold gelegen. Er ist mir gestohlen worden. Sicher vorgestern, als ich mit meinem Kinde einen kurzen Ausgang machte. Das Geld muß wieder zur Stelle. Es war mein letztes! Sie sind mir verantwortlich dafür!«
»Was faseln Sie?« rief Micou . . . »bestohlen wollen Sie sein? Hier in meinem Hause? Sie sagen das nur, weil Sie sich um die 20 Sous drücken wollen, die Sie mir schuldig sind!« – »Wenn ich mein Geld nicht wiederbekomme,« rief Frau von Fermont, »so zeige ich Sie auf der Polizei an . . . wer außer Ihnen hat hier noch einen Schlüssel zu den Zimmern im Hause?« – »So? Auf die Polizei wollen Sie gehen? Nun, das wird sich sehr schön ausnehmen,« erwiderte Micou, »aber Sie vergessen wohl ganz, daß Sie gar keine Ausweispapiere über Ihre Person haben?« –
Die arme Frau stand wie vom Blitze getroffen . . . Die Kraft, die sie solange geheuchelt hatte, wich endlich von ihr . . . Klara rief entsetzt: »Mutter, Mutter! Was ist dir denn?« – Micou, trotz seiner fünfzig Jahre noch ein rüstiger Mann, konnte dem Mitleid, das ihn ergriff, nicht widerstehen und faßte die Frau, die von einer Ohnmacht umnachtet wurde, unter die Arme, schob mit dem Knie die Tür zu dem Kabinett auf, wo Klara auf dem Bette ruhte, und sagte: »Entschuldigen Sie, liebes Fräulein, daß ich hier eintrete, während Sie noch im Bett liegen; aber die Frau Mama ist ja ganz von Sinnen . . . Gott gebs, daß es nicht schlimmer mit ihr werde!« Mit diesen Worten setzte er die Ohnmächtige auf den Schemel neben dem Bette und ging, ließ aber die Tür angelehnt, da der dicke Lahme das Schloß davon losgerissen hatte .
Kurz nach dieser letzten Erschütterung kam die Krankheit zum Ausbruch, die schon lange im Körper der Frau keimte. Ein hitziges Fieber befiel sie, sie redete irre, und während sie so lange ihre kranke Tochter gepflegt hatte, sah sich nun diese genötigt, nach fremder Hilfe Ausschau zu halten, und befand sich dabei in der schrecklichsten Angst, jeden Augenblick den Banditen hereinbrechen zu sehen, der in der Stube nebenan hauste . . .