Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Siebentes Kapitel.

Rudolf und Murph.

Rudolf hatte sich aus dem Hause des Notars, wo er dessen grausigem Tode beigewohnt, in der beklommensten Stimmung nach seiner Wohnung verfügt und nach einer endlos langen Nacht Sir Walter Murph zu sich beschieden, um dem alten getreuen Freunde die schreckliche Kunde zu melden, die ihm tags vorher über das junge Mädchen, für das er sich so warm interessierte, zu teil geworden war.

Murph war wie vom Blitze getroffen, denn mehr als sonst jemand war er imstande, den maßlosen Schmerz zu fassen, der das Herz des Fürsten erfüllte.

»Fassen Sie Mut,« hatte er Rudolf zugesprochen, erschüttert von dessen unsäglichem Schmerze, »fassen Sie Mut! Wenn ich auch kaum glauben darf, daß ich ein Linderungsmittel finden werde für Ihren schweren, schweren Kummer!«

»Du hast recht, lieber Murph. Mit meinen heutigen Empfindungen verglichen, sind die gestrigen von verschwindender Bedeutung.« – »Ich glaube es Ihnen, Königliche Hoheit,« erwiderte Murph, »denn gestern wurden Sie durch den furchtbaren Schlag betäubt, und Nachwehen sind ja immer die schlimmsten . . . Aber, Hoheit, fassen Sie Mut!« – »O, Murph, was mir am nächsten gegangen ist, ist die Verachtung, der Abscheu, den mir jenes gräßliche Weib einflößte . . . Aber möge ihr der ewige Gott gnädig sein! . . . Sie steht vor seinem Richterstuhle. Gestern bestürmten mich Eindrücke über Eindrücke, Empfindungen über Empfindungen, Haß, Entsetzen – verzweiflungsvolle Liebe bestürmt mich heute. Gestern konnte ich keine Träne finden, heute möchte ich die Tränen zurückdrängen . . . Ich bin am Ende meiner Kraft . . . Verzeihe mir, Murph, verzeihe mir! Denke, daß es mein Kind ist, dem solch gräßliches Unglück das Leben vergiftet hat in der schönsten Blüte!«

»Lassen Sie den Tränen freien Lauf, königliche Hoheit! Ich kann Ihnen alles nachfühlen, was Ihr Herz erfüllt. Aber Tränen machen die Herzen leicht. Der Verlust, der Sie trifft, ist freilich unersetzlich!« – »Wieviel Herzeleid hätte ich hier heilen können!« klagte Rudolf, »und nun – nun hat sie alles, alles mit in ihr überfrühes Grab genommen!« – »Einen Trost, königliche Hoheit,« wandte Murph ein, »finden Sie doch vielleicht in dem Bewußtsein, daß Sie kaum eine Schuld an all den Fügungen trifft, die den Lebensweg dieser Aermsten ihres Geschlechts geleitet haben . . . und dann wäre der Uebergang aus so niedriger Sphäre in diejenige, auf die sie durch ihre Geburt ein sicheres Anrecht besitzt, doch vielleicht zu kraß, zu schwer zu tragen gewesen.«

»Nicht doch, nicht doch!« erwiderte Rudolf, abwehrend, »ich hätte sie mit aller Behutsamkeit dazu vorbereitet, hätte ihr die Verhältnisse ihrer Geburt mit der größten Schonung erzählt . . . Es war ja so leicht und einfach! O, wenn es nur das wäre,« setzte der Fürst mit traurigem Lächeln hinzu, »so hätte ich mich frei fühlen können von allem Bedrängnis, wäre vor dem lieben Kinde hingekniet und hätte ihm gesagt: Du hast die schweren, schweren Prüfungen nun hinter dir, mein Herzblatt, und sollst hinfort nichts mehr davon erleiden. Denn du bist mein Fleisch und Blut, bist mein Kind, bist meine Tochter! . . . Nein,« unterbrach sich Rudolf, »nein, nein! Das wäre zu schnell gewesen, zu übereilt! Nein, ich hätte an mich gehalten, hätte ihr lieber gesagt: »Weißt du, Kind! Es ist gelungen, sichere Auskunft über deine Eltern zu finden . . . Deine Mutter ist zwar nicht mehr am Leben, aber dein Vater . . . und, Kind, denke dir, dein Vater . . . nun ja, dein Vater ist niemand anders als ich, ja, Kind, als ich! Du bist meine leibliche Tochter!« Doch nein! Auch das wäre noch zu jäh, zu unvermittelt! Aber an mir liegt es wahrlich nicht, daß mir alles so stürmisch über die Lippen dringt. Es braucht eines zu großen Aufwands von Selbstbeherrschung, um über diese Klippe hinwegzukommen . . . Du wirst es dir wohl denken können! So vor seiner Tochter dazustehen und sich Zwang antun zu müssen! Solchen Zwang!« Von neuem überließ sich Rudolf seiner Verzweiflung . . . »Doch warum all diese unnützen Worte? Was hätte ich ihr sonderlich zu sagen gehabt? Weißt du, ein geradezu gräßlicher Gedanke ist es mir, daß ich sie einen ganzen Tag lang, jenen in Ewigkeit verfluchten und mir doch wieder so heiligen Tag lang, bei mir in Bouqueval hatte – jenen Tag, da sich mir alle Schätze ihrer Engelsseele in all ihrer Reinheit vor mir offenbarten! . . . Ich sah das Erwachen dieser göttlichen Menschenseele und doch hat nichts in meinem Herzen gesprochen: Sie ist dein Fleisch und Blut! ist deine Tochter, deine leibliche Tochter! Nein, keine einzige Regung in meinem Herzen! O, wie verhärtet muß doch mein Herz sein! Wie eingeengt muß all mein Denken sein. Ich verstehe mich nicht, ich begreife mich nicht! O, ich bin nicht wert gewesen, von solchem reinen, lieben Wesen Vater genannt zu werden!«

»Aber, königliche Hoheit!« rief Murph.

»Still,« sagte der Fürst, »war es mir nicht in die Hand gelegt, das Kind zu behalten oder wegzubringen? Was bestimmte mich, es zu der Frau Georges zu führen, statt es um mich zu behalten? . . . Heute brauchte ich nur die Arme zu öffnen, um sie an meine Brust zu drücken . . . Warum habe ich es nicht getan? Weil man das Gute immer nur halb tut, weil man Wunder erst dann recht empfindet, wenn sie bereits vorbei sind – wenn sie auf immer entschwunden sind . . . weil ich unterlassen habe, dieses bewunderungswürdige junge Mädchen, das trotz Armut und Verlassenheit größer und edler vielleicht durch ihren Geist und ihr Herz war, als sie durch Geburts- und Erziehungsvorzüge wohl jemals geworden wäre, gleich auf die ihr gebührende Höhe zu heben, und schon viel für sie zu tun meinte, als ich sie auf ein Landgut, zu guten Menschen brachte . . . aber hätte ich das nicht auch für die erstbeste Bettlerin getan, die mir Interesse abgewann? Nein, nein! Es ist meine Schuld, einzig und allein meine Schuld, lieber Murph, denn hätte ich mich verhalten, wie es meine Pflicht war, so wäre sie heute nicht tot! so weilte sie noch unter den Lebenden . . . Murph, ich bin ein schlechter Sohn gewesen und ein noch schlechterer Vater!«

Murph wußte, daß es für solchen Schmerz keinen Trost gibt, und verhielt sich schweigend. Nach einer ziemlich langen Pause fuhr Rudolf mit bewegter Stimme fort: »Hier bleibe ich nun keine Minute länger! Denn mir ist Paris verhaßt. Schon morgen wende ich ihm den Rücken.« – »Es ist gewiß nur recht von Ihnen, wenn Sie so handeln, königliche Hoheit!« –

»Wir machen den Umweg über Bouqueval, lieber Murph. Zuvor will ich eine Zeitlang in dem Zimmer verweilen, wo meine Tochter die einzigen frohen Tage ihres jungen Lebens zugebracht hat. Ich will alles zusammentragen, was mich an sie erinnern kann: die Bücher, in denen sie gelesen, die Hefte, in denen sie Schreibübungen gemacht, die Kleider, die sie getragen . . . ja auch von den Tapeten will ich mir eine Zeichnung abnehmen, vom ganzen Zimmer . . . In Gerolstein werde ich neben dem Mausoleum, das ich für meinen seligen Vater errichten ließ zur Erinnerung an die Kränkung, die ich ihm angetan, einen Gedenkpavillon errichten lassen, worin sich dies ganze Zimmer wiederfinden soll, worin mein Kind in meiner nächsten Nähe wohnte, ohne daß sich in meinem Herzen auch nur eine Fiber regte, in ihr mein Kind zu ahnen! Das Mausoleum soll mich erinnern an das Vergehen, das ich mir meinem Vater gegenüber zu schulden kommen ließ, der Pavillon an die Strafe, die mich in meinem Kinde getroffen hat!« . . . Wieder trat eine lange Pause ein. Dann befahl Rudolf mit kurzen Worten, alles für morgen in Bereitschaft zu halten. –

Murph wollte seinem Gebieter und Freunde die trüben Gedanken verscheuchen. »Es soll alles geschehen, wie königliche Hoheit befehlen, Sie vergessen jedoch, daß morgen in Bouqueval der Sohn unserer lieben Frau Georges mit Fräulein Lachtaube Hochzeit hält, denn Sie haben ja nicht bloß Herrn Germains Zukunft sichergestellt, seiner Braut eine brillante Ausstattung gekauft, sondern auch versprochen, dem Hochzeitsfeste beizuwohnen, sollen sie doch den wahren Namen ihres Wohltäters erst jetzt erfahren!«

»Das habe ich freilich versprochen,« erwiderte Rudolf, »nach Bouqueval kann ich also morgen nur fahren, wenn ich der Hochzeit beiwohne . . . aber ich besitze hierzu in der Tat den Mut nicht . . .« – »Vielleicht vermöchte aber gerade das Glück dieses jungen Paares Ihren Kummer zu lindern, königliche Hoheit?« – »Nicht doch, mein lieber Murph! Ist Schmerz nicht immer selbstisch und sucht die Einsamkeit? Vertritt du morgen in Bouqueval meine Stelle und bitte Frau Georges, alles, was meinem Kinde dort gehörte, zusammenzutun und mir zu übermitteln, auch von dem Stübchen, worin sie dort gewohnt, wünsche ich eine genaue Zeichnung, die sie mir nach Gerolstein nachsenden mag.«

»Königliche Hoheit,« wandte Murph ein, »Sie werden doch nicht abreisen wollen, ohne die Frau Marquise von Harville noch einmal gesehen zu haben?« –

Rudolf zuckte, als er diesen Namen hörte, heftig zusammen; noch immer lebte aufrichtige Liebe zu ihr im Herzen, in diesem Augenblicke aber war sein Herz von wildem Schmerze erfüllt. Nur die zärtliche Liebe dieser Frau – das fühlte er – konnte ihn in dem Unglück, das ihn betroffen hatte, aufrecht halten, und doch machte er sich Vorwürfe um dieses Gedankens willen, denn eine innere Stimme regte sich doch in ihm, daß sich solche Gedanken mit seinem tiefen Vaterschmerze wahrlich recht schlecht vertrügen.

»Ja, ich werde abreisen, ohne Frau von Harville noch einmal zu sehen,« sagte er, »vor wenigen Tagen schilderte ich ihr den Schmerz, den mir Marienblümchens Tod bereitet, und wenn sie nun gar erst hört, daß dieses Mädchen mein leibliches Kind ist, dann wird ihr recht wohl begreiflich sein, daß ich abreise, ohne sie wieder gesehen zu haben. Sie wird sich eben sagen, daß der Mensch den Mut finden muß, gewisse Schmerzen, zumal wenn sie als Strafen gelten, allein zu tragen, damit sie für ihn zur Buße werden.«


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