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Frau von Harville, der es, wie schon erwähnt, noch nicht bekannt war, daß Marienblümchen des Fürsten Rudolf Tochter sei, hatte in ihrer ersten Freude über die Auffindung derselben gemeint, sie ihm fast ohne alle Vorbereitung zuführen zu dürfen. Wenn sie das Mädchen hatte unten im Wagen sitzen lassen, war es nur aus dem Grunde geschehen, weil sie nicht wußte, ob Rudolf sich dem Mädchen bekannt geben und ob er sie bei sich aufnehmen wolle.
Als nun Clemence die außerordentliche Veränderung in Rudolfs Zügen wahrnahm, die düstere Verzweiflung, die sich darin ausprägte, ja als sie sogar Tränen in seinen Augen wahrzunehmen meinte, da konnte sie sich nicht verhehlen, daß ihr Freund von einem schweren Unglück heimgesucht worden sei, von einem Unglück, das ihm schwerer noch ankomme als der Tod des Mädchens. Darum vergaß sie den Grund, der sie zu ihm führte, und fragte: »Gerechter Gott, königliche Hoheit! Was ist Ihnen denn passiert?«
»Sollten Sie es nicht schon wissen, Marquise? O, alle Hoffnung ist abgeschnitten. Ihr Verlangen nach einer sofortigen Unterredung rief die Meinung in mir wach . . .« – »Ach! Ich bitte darum im Namen meines Vaters, dem Sie einst das Leben retteten! Ich habe wohl aber ein Recht, Sie nach dem Grunde des Kummers zu fragen, der Ihr Herz zu beherrschen scheint . . . Ihre Niedergeschlagenheit und Blässe erschrecken mich. Aus Mitleid mit meiner Angst, königliche Hoheit, sagen Sie mir, was Ihnen passiert ist!«
»Lassen Sie mich, Marquise, denn meine Wunde ist nicht heilbar.« – »O, wenn Sie wüßten, wie sehr Sie durch solche Reden meine Unruhe steigern! Wenn Sie mir Auskunft weigern, königliche Hoheit, bleibt mir nichts weiter übrig, als mich an Sir Walter Murph, Ihren Freund, zu wenden. Sagen Sie mir, Murph, ich beschwöre Sie, was ist's mit königlicher Hoheit?«
Da nahm Rudolf gelassen das Wort . . . »O, Frau Marquise, nichts weiter ist mit mir vorgegangen, als daß ich, seit ich Ihnen das Abscheiden des Mädchens mitteilte, in Erfahrung gebracht habe, daß dieses Mädchen mein leibliches Kind, meine solange gesuchte Tochter ist.«
»Marienblume – Ihre Tochter?!« rief Clemence in einem Tone aus, der sich unmöglich schildern läßt.
»Ja, und als Sie mir sagen ließen, Sie wünschten mich sogleich zu sehen, um mir eine Nachricht zu bringen, die mich mit großer Freude erfüllen würde – bemitleiden Sie meine Schwachheit; aber ein Vater, den der Schmerz über den Verlust seines Kindes niederbeugt, ist jeder noch so törichten Hoffnung fähig – da glaubte ich einen Augenblick, daß – aber nein, nein, ich sehe es – daß ich mich geirrt hatte. – Verzeihen Sie mir, Frau Marquise, aber ich bin meiner Sinne kaum noch mächtig.«
Er sank auf einen Stuhl und verbarg das Gesicht mit den Händen.
Frau von Harville stand erstaunt und stumm da; sie konnte kein Glied rühren, wagte kaum zu atmen, gab sich bald einer entzückenden Freude, bald der Furcht vor den vielleicht schädlichen Folgen der Entdeckung hin, die sie dem Fürsten zu machen hatte, und dankte begeistert der Vorsehung, die sie – sie in den Stand gesetzt hatte, dem von ihr so hochgeschätzten, ja so innig geliebten Fürsten die Kunde bringen zu können, daß seine Tochter noch lebe, und daß sie ihm dieselbe zuführe! In dem Sturme so verschiedener Gefühle konnte sie keine Worte finden.
Murph, der einen Augenblick die Hoffnung des Fürsten geteilt hatte, war so niedergeschlagen wie dieser . . . Da sank die Marquise, außerstande, ihrem innern Drange zu widerstehen, unbekümmert um Rudolfs und Murphs Anwesenheit, auf die Knie, faltete die Hände und rief im Gefühle inniger Dankbarkeit aus: »Gelobt seist Du, mein Gott! Ich erkenne Deinen allmächtigen Willen und danke Dir, denn Du hast mich erwählt, ihm anzuzeigen, daß seine Tochter gerettet ist.«
Murph und Rudolf hatten die Worte, ob sie gleich leise, wie in inbrünstigem Gebete, gesprochen worden waren, gehört; und der Fürst richtete rasch den Kopf empor, als Clemence sich wieder erhob . . . Blick, Gebärde, Ausdruck seines Gesichtes, als er die Marquise ansah, lassen sich nicht beschreiben.
Die Marquise, in deren reizenden Zügen sich eine himmlische Freude malte, stützte sich mit der einen Hand auf den Marmor einer Konsole, hielt mit der andern den hochwallenden Busen nieder und antwortete durch ein bejahendes Nicken dem Blicke Rudolfs.
»Und – wo ist sie?« fragte der Fürst, zitternd wie ein Espenblatt. – »Unten in meinem Wagen.«
Hätte nicht Murph ihn zurückgehalten, so wäre der Fürst auf der Stelle vor das Haus gerannt.
»Königliche Hoheit, es wäre ja des Kindes sicherer Tod!« warf der schottische Squire ein. – Clemence ihrerseits bemerkte: »Sie befindet sich seit gestern im Stadium der Genesung: ich muß Sie beschwören, teurer Fürst, bloß jetzt keine Unvorsichtigkeit!«
Rudolf vermochte sich kaum zu beherrschen . . . »Sie sprechen die Wahrheit,« sagte er nach einer Weile, »ich muß mich zur Ruhe zwingen, und Gott gebe es, daß ich es könne!« Er schritt ein paarmal in dem Zimmer auf und ab. Endlich blieb er vor Murph stehen und sagte: »Gut! Ich will sie noch nicht sehen, sondern will warten, bis sich meine Aufregung gelegt haben wird. Aber, ich versichere dir, du mein einziger Freund, es geht fast über meine Kräfte . . . es ist wirklich der Anstrengung zuviel für einen Tag!«.– Dann trat er zu der Marquise von Harville und reichte ihr die Hand . . . »ich habe durch Sie, teuerste der Frauen, Vergebung gefunden von schwerer Sünde, und Sie, Sie Edle, sind es gewesen, die mir Vergebung vermittelten!«
»Königliche Hoheit,« antwortete nicht minder ergriffen die Marquise, »Sie haben mir den Vater wiedergegeben, und der allgütige Gott hat es in seiner Gnade gefügt, daß ich Ihnen Ihr Kind zuführte! Aber verzeihen Sie, edler Fürst, auch mir meine Schwäche, mich hat diese unvermutete Entdeckung aufs tiefste erschüttert. Ich muß Ihnen sagen, daß ich wohl kaum den Mut fände, unsre süße Marienblume herzuholen . . . müßte ich doch fürchten, sie durch meine Aufregung, meine Unruhe aufs tiefste zu erschrecken!«
»Aber wie ihr die Rettung geworden, das können Sie mir doch sagen, Fürstin,« drang Rudolf in sie; »wer ist der Wackere gewesen, der sie errettete? – Da sehen Sie, wie undankbar ich bin! Nicht einmal diese Frage habe ich Ihnen bislang gestellt!« – »Ein tapferes Mädchen hat sie im Augenblicke des Ertrinkens aus der Seine gerissen!«
»Kennen Sie diese brave Person?« fragte der Fürst.
»Meines Wissens wird sie morgen hierher kommen.«
»Ich bin ihr zu unermeßlichem Danke verpflichtet,« rief der Fürst, »aber – ich werde alles tun, die Schuld, in der ich zu ihr stehe, wettzumachen.«
»Wie gut,« sprach die Marquise jetzt zu Murph, »daß wir das liebe Kind nicht gleich mit heraufnahmen! Ein so ergreifender Auftritt hätte leicht die allerschlimmsten Folgen haben können!« – »Gewiß, gnädige Frau,« pflichtete Murph bei, »es war ein glücklicher Gedanke von Ihnen, sie unten zu lassen!« –
Die Marquise wandte sich wieder zu dem Fürsten, der eine Weile, wie abwesend, vor sich hingestiert hatte. – »Ich konnte doch nicht wissen, königliche Hoheit, ob Sie sich ihr zu erkennen geben wollten, und ohne von Ihnen dazu ermächtigt zu sein, sie Ihnen zuzuführen, durfte ich es doch nicht wagen . . .«
Es gelang Rudolf, seine Erregung niederzukämpfen. Sein Gesicht hatte einen fast ruhigen Ausdruck wiedergefunden, und sich zusammenraffend, erwiderte er: »Frau Marquise, ich bin jetzt Herr meiner selbst, und will meine Tochter sehen. Murph,« wandte er sich an den treuesten seiner Freunde, »bitte, hole mir mein Kind!« – Der Ton, den er auf diese beiden letzten Worte: Mein Kind! legte, klang in innigstem Empfinden.
Clemence fragte ihn, ob auch wirklich für ihn selbst nichts zu befürchten sein möchte? – »O, keine Sorge! keine Sorge!« erwiderte er, »ich kenne die Gefahr, der ich mein Kind aussetzen möchte, wenn ich nicht vollständig Herr über mich wäre! Glauben Sie mir, ich werde wissen, mich zu bemeistern, um sie zu schonen! Also bitte, Murph, geh hinunter und hole sie!«
»Ja, gnädige Frau Marquise,« sagte nun seinerseits Murph, der seinen Herrn und Freund die letzte Zeit über aufmerksam beobachtet hatte, »wir dürfen sie heraufholen. Königliche Hoheit wird sich zu beherrschen wissen. Wir brauchen nichts zu befürchten. Ich hole sie. Sie kann jetzt kommen.«
»Eile, eile, guter Murph!« rief ihm der Fürst nach. – »Gewiß, Hoheit, ganz gewiß,« versetzte der wackre Diener, »aber um ein paar Minuten Verzug muß ich jetzt doch auch für mich bitten,« – und dabei fuhr er sich mit der Hand über die Augen – »ich möchte sie lieber nicht sehen lassen, daß auch mir die Tränen nahe gewesen sind.« –
»Biedre Seele!« sagte der Fürst, Murph die Hand drückend.
»Und nun, Hoheit,« sagte Murph, »nun gehe ich! Jetzt bin auch ich Herr über mich. Aber gleich einer büßenden Magdalene durch die Räume zu schleichen, hätte sich doch kaum für mich geschickt!« – Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg, blieb aber an der Tür noch einmal stehen und sagte: »Aber – aber – was soll ich ihr denn nun sagen?« – »Ja, was soll er zu ihr sagen?« fragte der Fürst die Marquise. – »Weiter nichts, als daß Herr Rudolf sie zu sehen wünscht – das genügt nach meiner Ansicht.« – »Sie haben recht. Herr – Rudolf wünsche sie zu sehen. Weiter nichts. Nun geh.«
»Das ist sicherlich das beste, was man ihr sagen kann,« meinte der Squire. »Wenn ich ihr einfach sage, Herr Rudolf wünsche sie zu sehen, so kann sie sich dabei nichts Besonderes denken. Sie wird nichts ahnen und nichts erwarten. Ja, es ist das Klügste so.« – Doch noch immer rührte Murph sich nicht von der Stelle.
»Sir Walter,« sagte Clemence lächelnd zu ihm, »Sie fürchten sich doch nicht etwa –?« – »Sie haben recht, Frau Marquise,« antwortete der Squire, »so alt ich bin, so kann ich mich doch einer gewissen Rührung noch immer nicht erwehren.« – »Lieber Freund, nimm dich in Acht,« sagte der Fürst zu ihm. »Wenn du deiner Sache noch nicht gewiß bist, so warte lieber noch einen Augenblick!«
»Jetzt bin ich fertig,« sagte der Squire, nachdem er sich mit seinen herkulischen Fäusten über die Augen gefahren war. »In meinem Alter ist solch eine Schwäche wirklich albern – fürchten Sie nichts, königliche Hoheit.« Und festen Schrittes ging er hinaus.
Es folgte eine Pause. Clemence fiel nun ein, daß sie sich in Rudolfs Wohnung befände und allein mit ihm sei. Tiefe Röte bedeckte ihre Wangen. Der Fürst trat zu ihr und sagte, ein wenig beklommen:
»Wenn ich diesen Tag wähle, diesen Augenblick dazu benutze, Ihnen ein Herzensgeständnis abzulegen, so wird die Feierlichkeit von Tag und Augenblick den Ernst meiner Worte noch erhöhen. Seit ich Sie gesehen habe, liebe ich Sie. Solange ich diese Liebe verbergen mußte, habe ich sie für mich behalten. Jetzt aber sind Sie frei – Sie haben mir meine Tochter wiedergegeben, wollen Sie nun deren Mutter sein?«
»Königliche Hoheit!« rief Clemence. »Was sind das für Worte – zu mir – zu mir –?!« – »Ja, zu Ihnen, Clemence, und ich beschwöre Sie, schlagen Sie meine Bitte nicht ab. Lassen Sie diesen Tag entscheiden über das Glück meines ganzen Lebens!«
Auch Clemence liebte den Fürsten längst mit Leidenschaft. Sie glaubte zu träumen. Sein Geständnis, so schlicht ausgesprochen, und doch so ernst und innig, beglückte sie im höchsten Maße, und zögernd antwortete sie: »Ich muß Sie, Hoheit, an den Abstand erinnern, der uns trennt, an die Interessen Ihres fürstlichen Hauses –«
»Denken Sie vor allem an die Interessen meines Herzens und an die meiner Tochter!« unterbrach sie Rudolf, »und machen Sie uns beide glücklich – sie und mich! Machen Sie, daß ich, eben noch ohne Familie, sagen kann: Meine Gattin – mein Kind! daß das arme Wesen, bislang noch ohne Eltern, sagen kann: Mein Vater – meine Mutter – meine Schwester – denn Sie haben ja auch eine kleine Tochter, die dann auch mein Kind sein wird.«
»O, königliche Hoheit, gibt es auf so edle Worte eine andere Antwort als Tränen des Dankes?« erwiderte Clemence. Dann bezwang sie sich und setzte rasch hinzu: »Man kommt – es ist – Ihre Tochter.« – »Versagen Sie mir doch nicht die Erfüllung meiner Bitte!« sagte Rudolf mit bewegter Stimme. »Im Namen meiner Liebe! sagen Sie: unsere Tochter!« – »Nun denn,« antwortete Clemence flüsternd, »unsere Tochter.«
Im selben Augenblick öffnete Murph die Tür und führte Marienblume herein.