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Die Meierei galt in der ganzen Gegend als Musterwirtschaft. An dem Tage, an welchem wir den Leser zum zweiten Male dorthin führen, war Marie, die Schalldirne, – wie sie in der Schenke hieß – mit der Fütterung des Federviehs beschäftigt. Ihr kleines Häubchen ließ die Stirn und das blonde Haar Mariens unbedeckt. Wie es unter der Pariser Landbevölkerung Mode war, hatte sie über das Häubchen ein breites, rotes Tuch gebunden, dessen Zipfel über die Schultern fielen. Ein über dem Busen zusammengelegtes weißes Batisttuch wurde zur Hälfte durch den hohen, breiten Latz ihrer grauen Leinwandschürze verdeckt. Ein Mieder aus dunkelblauem Tuch mit engen Aermeln hob die schlanke Taille hervor, und schneeweiße Strümpfe und Stöckelschuhe, die in kleinen Holzschuhen steckten, ergänzten den schlichten, ländlichen Anzug, der durch Mariens natürliche Reize etwas ungewöhnlich Graziöses erhielt. Aus der an beiden Zipfeln zusammengenommenen Schürze warf sie Körner unter die sie umringende geflügelte Schar.
Unterdes saßen Madame Georges und der Abbé Laporte am Kamin im kleinen Zimmer und unterhielten sich von dem Mädchen, das für sie immer einen interessanten Gesprächsgegenstand bildete.
»Sie haben recht, liebe Frau Georges,« sagte Laporte, »wir müssen das Herrn Rudolf melden. Fragt er sie, dann wird sie ihrem Wohltäter doch vielleicht aus Dankbarkeit sagen, was sie vor uns verborgen hält.« – »Mariens traurige Stimmung, Herr Abbé,« sagte Frau Georges, »läßt sich durch nichts zerstreuen, ja selbst ihr Fleiß beim Unterrichte kann sie nicht davon ablenken.« – »Sie hat wirklich recht gute Fortschritte gemacht,« sagte der Abbé. – »Nicht wahr? Lesen, schreiben und rechnen kann sie ja schon besser als ich, und ich brauche mich um die Bücher in der Meierei schon gar nicht mehr zu kümmern. Ach, und wie lieb hat sie hier jedermann!«
»Sagten Sie nicht,« fragte der Abbé, »daß Mariens Traurigkeit sich besonders zeigt, seitdem Frau Dubreuil, die Pächtersfrau vom Lucenayschen Landgute, hergekommen?«
»Ganz recht,« antwortete Frau Georges, »so kam es mir vor, aber Frau Dubreuil, wie auch ihre Tochter waren von Marien recht begeistert, und noch heute überhäufen sie sie mit Beweisen ihrer Freundschaft, kommen auch in der Regel Sonntags her, aber trotzdem Klara Marien wie eine Schwester liebt, scheint sie nach jedem solchen Besuche trauriger zu werden.«
Da trat Marie in die Stube . . . »Wo warst du, Kind?« fragte Madame Georges. – »In der Obstkammer,« antwortete das Mädchen: »das Obst hat sich recht gut gehalten, es war nur wenig davon angefault.« – »Sie müssen sich einmal von ihr in die Obstkammer führen lassen, Herr Abbé,« sagte Frau Georges, »Sie glauben gar nicht, wie schmuck sie dort alles hergerichtet hat.« – »O, ich habe ja schon die Milchkammer bewundert,« antwortete der Abbé lächelnd, »darum könnte sie jede Hausfrau beneiden. Aber – eben ist die Sonne untergegangen. Es wird Ihnen knapp Zeit bleiben, mich nach Hause zu bringen. Da, nehmen Sie Ihren Mantel! Wir wollen gehen, liebes Kind. Sonst überfällt Sie die Nacht auf dem Heimwege. Aber es ist heut kalt, und darum wohl besser, Sie bleiben hier, und eines von den Leuten bringt mich nach Hause.«
»Aber, Herr Abbé,« sagte Marie, den Geistlichen mit ihren großen blauen Augen ansehend, »ich müßte ja denken, Sie seien gar nicht mehr zufrieden mit mir, wenn ich Sie nicht begleiten dürfte.« Und rasch hatte sie ihren Mantel aus grobem weißen Wollenstoff übergeworfen und faßte den Geistlichen unter.
»Ein Glück nur,« sagte dieser, »daß es nicht weit ist bis zu mir, und daß der Weg nicht unsicher ist. Sonst hätte ich es heute entschieden nicht gelitten, daß mich Marie begleitet.«
Zusammen mit dem Mädchen verließ der Geistliche die Meierei, und nach Verlauf weniger Minuten kamen sie zu dem Hohlwege, in welchem die Eule mit Bakel und dem lahmen Jungen sich versteckt hatte.