Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Sechstes Kapitel.

Die Eule.

Die Eule mit ihrem grün funkelnden Auge, glühend noch von der Mordsucht, kam herbei gelaufen, hinter ihr her der Lahme, der kaum Schritt mit ihr zu halten vermochte . . . »Sind die Martials schon zur Stelle?« – »Noch nicht.« – »Dann kann ich ja noch mit meinem Manne vorher ein paar Worte reden,« sagte die Eule. – »Ein Spiel Karten sollten Sie ihm mit hinunternehmen,« höhnte der Lahme, »denn jetzt sind ihm bloß die Ratten Zeitvertreib, und das muß ihm doch schließlich recht langweilig werden.« – »Geh, du böser Affe,« befahl ihm die Eule, laut lachend, »und hole mir ein Licht, damit ich nicht auf der Treppe noch etwa Hals und Beine breche. Ob es wohl noch einen zweiten solchen Galgenstrick gibt, der schon in solch frühem Alter ein solcher Bösewicht ist?« Und als sich der Junge zum Gehen anschickte, rief sie ihm nach: »Kannst deinem Vater sagen, ich käme gleich wieder, ich sei unten beim Alten und rede mit ihm über das Aufgebot . . . Hähähä! Aber tummle dich! Du kannst auch mit bei der Hochzeit sein.«

Nicht um sich an den Qualen zu weiden, die Bakel unten im Keller leiden mußte, wollte sie sich in den Keller hinunter begeben, sondern nur, um den neuen Schatz zu verbergen, der ihr durch die Ermordung der Gräfin Sarah in die Hände gefallen war. Der lahme Junge trat mit einem Licht in die Tür. Die Eule ging ihm in die niedrige Wirtsstube nach, aus der, wie wir bereits wissen, eine Falltür in den Keller hinunter führte. Die hohle Hand vor das Licht haltend, stieg er langsam die steinernen Stufen hinunter, die zu der wuchtigen Tür führten, die sich fast hinter Rudolf für ewig geschlossen hätte. Den vereinten Anstrengungen der beiden Bösewichte gelang es endlich, sie in ihren Angeln zu bewegen. Aus der finstern Tiefe herauf drang ihnen feuchter Dampf entgegen. Alsbald erklang ein wildes Geschrei, das sich aber schnell zum dumpfen Geknurr verwandelte . . .

»Ei, ei, mein liebes Männchen sagt mir guten Tag?« fragte die Eule spöttisch, ging noch einige Stufen weiter hinunter, um in einer Ecke ihren Handkorb zu verstecken. Der lahme Junge hatte keinen Blick von ihr gelassen . . . Mit zornbebender Stimme schrie Bakel: »Mich hungert . . . soll ich hier sterben wie ein tolles Vieh?« – »So? Dich hungert?« fragte die Eule, wieder mit wildem Gelächter, »ei, so friß dir doch die Finger ab!« – Kettengeklirr antwortete ihr, dann ein Seufzer verhaltener Wut . . . »Aber so bleib doch nur ruhig, Mörderchen,« rief die Eule wieder, »Ring und Kette sind fest, Vater Micou verschleißt doch nur koschere Ware! Was kann ich denn dafür, daß du hier unten moderst? Hättest dich im Schlafe nicht binden lassen sollen! Und warum grollst du all der Sorgfalt, die an dich verschwendet wird? Warum bist du hierher geschafft worden? Doch nur, um dich der Nachwelt zu erhalten, möglichst unversehrt, damit sie dich in deiner vollen Größe zu bewundern vermag! Feuchte Keller konservieren doch die Leichen am allerbesten. Das weißt du so gut wie ich, und darum hast du doch auch seinerzeit den Fächermaler hierher praktiziert!« – Wieder klirrten die Ketten . . . »Du, Mörderchen, guck doch mal her!« sagte die Eule und ließ einen Diamanten in der Hand glitzern. – »Aber er kann doch nicht gucken,« rief der lahme Junge höhnisch, »freilich, deine Schlechtigkeit tränkte er dir gern ein: darauf verlaß dich!« – Und plötzlich packte er sie von hinten und stieß sie mit aller Kraft in den Keller hinunter. »Mörderchen, beiß! Mörderchen, beiß!« rief der Junge, »die Eule kommt geflogen! Sie liegt prall neben dir!« Im nächsten Augenblick hatte er den Handkorb gepackt und rannte die Stufen wieder hinauf.

»Ich hab sie, ich hab sie!« rief Bakel aus der Tiefe herauf. – »Na, dann gratuliere ich!« versetzte der Junge lachend, eine Weile auf der obersten Stufe stehenbleibend. – »Hilfe, Hilfe!« schrie die Eule, dem Ersticken nahe. – »Lahmer, ich danke dir,« rief Bakel, »und verzeih dir alles Böse, was du mir angetan . . . Zum Lohne sollst du die Eule schreien hören, das Totenkäuzchen – paß auf, paß auf!«

Der Lahme hielt das Licht hoch, die gräßliche Szene, die sich im Keller abspielen sollte, zu beleuchten; aber die Finsternis war zu dicht, als daß sich etwas hätte erkennen lassen . . . Die beiden Teufel kämpften mit maßloser Wut, aber ohne daß ein Laut hörbar wurde, die lauten Atemzüge ausgenommen, die ja gewaltsame Anstrengungen immer zu begleiten pflegen . . . Noch einmal versuchte die Eule, von dem Lahmen Beistand zu bekommen: es war ihr letztes Mittel – »Rufe deinen Vater, Junge, zum Lohne sollst du meinen Henkelkorb bekommen!« Aber auch dieses Mittel half nicht . . . »Danke bestens, Eule, für die Freigebigkeit!« antwortete er, »aber sie kommt ein bißchen zu spät, denn den Korb habe ich mir schon zugeeignet, weiß auch schon, was für Schätze er birgt . . . nur schade, daß du einen Diamanten mit in den Keller hinunter genommen . . . Hättest ihn auch noch mir lassen können!« – Nach einer kleinen Pause setzte er, höhnisch grinsend, hinzu: »Ich will dir was sagen, Eule, ich hätt' Appetit auf Zwiebelkuchen . . . schaff mir welchen, dann helf ich dir aus der Patsche . . . sonst nicht! sonst ganz gewiß nicht!« – »Junge, laß doch mit dir reden!« bettelte die Eule, aber sie konnte nichts weiter sagen . . . Dann folgte eine neue Pause . . . »So, Kanaille,« hörte der Lahme Bakel sprechen, der dem Weibe einen Knebel zwischen die Lippen gezwängt hatte, »nun sollst du mich durch dein Geschrei nicht mehr belästigen. Daß ich die Geschichte nicht gleich zum Ende bringe, wird dich wohl weiter nicht wundern . . . Du hast mich genug ausstehen lassen, drum Folter gegen Folter! Ehe ich dich umbringe, will ich dir noch ein paar Wörtchen erzählen . . . du sollst deine Freude dran haben, Weib!«

»Mörderchen,« rief ihm der Lahme zu, »spielen darfst du mit ihr, aber umbringen darfst du sie nicht! Das laß dir gesagt sein, hörst du? Ich halte was auf meine Eule, wir haben schon ein paar Stückchen zusammen ausgeführt, und ich bin der Meinung, wir können in Zukunft noch ganz schön miteinander vorwärts kommen. Also laß sie eine Weile zappeln, dann aber laß sie laufen . . . oder ich rufe den Vater herzu!« – »Aengstige dich nicht, Junge,« rief Bakel hinauf, »ihr soll bloß werden, was ihr zukommt, nicht mehr, aber auch nicht weniger! Eine kleine Lehre wird ihr schon heilsam sein, verlaß dich drauf!« – »So ist's recht, Bakelchen! So ist's recht,« rief der Junge, »und nun laß den Tanz losgehen . . . Spiel ihr einen strammen Galopp auf! Rennen kann sie ja wie ein Rebhuhn!« – Er dachte nicht anders als daß Bakel die Eule nur schinden, nicht aber ums Leben bringen werde . . .

»So Kanaille,« nahm Bakel wieder das Wort, aber mit weit größerer Ruhe, als vordem, »nun wollen wir reden! Seitdem ich draußen in Bouqueval im Traume all meine Verbrechen noch einmal durchlebt habe, – wenig fehlte, so hätte ich damals meinen Verstand eingebüßt – seitdem ist eine seltsame Veränderung mit mir vorgegangen. Meine frühere Bosheit macht mich schaudern. Ich wehrte dir, als du die Schalldirne mit Vitriol verbrennen wolltest. Aber seit du mich hierher in diesen Keller gebracht, seitdem du mich Durst und Hunger leiden ließest, seitdem ich allem Grausen vor meinen Gedanken anheimfiel, seitdem ich dasselbe Schicksal litt, das ich dem Manne bereiten wollte, der mich nachher so furchtbar strafte, seitdem verabscheue ich meine früheren Mordtaten, werde aber keine Barmherzigkeit gegen dich üben, hörst du? sondern werde dir dienen, wie du mir gedient hast, im Namen unserer Opfer! . . . Still, Eule! Auch du sollst bereuen lernen!« –

»Bravo, bravo, Blinder! Du spielst deine Rolle wirklich famos, das muß man sagen!« rief der Lahme, und dabei klatschte er wie unsinnig in die Hände . . .

»Im Traume hab ich sie alle wiedergesehen, die durch mich ihr Leben gelassen haben: den kleinen Alten in der Rue du Roule – die ersäufte Frau – den Viehhändler – und über all diesen Gespenstern schwebtest du, Eule! Hören sie auf, all die Gespenster, über den schwarzen Schleier, den ich vor Augen habe, hin und her zu ziehen, dann foltern mich andere Qualen, dann kommen Vergleiche, die mich zu vernichten drohen . . . Dann sage ich zu mir: Wäre ich ein ehrlicher Mann geblieben, dann wäre ich jetzt frei und könnte ruhig und glücklich leben, in Ehren und geliebt von den Meinigen . . . statt daß ich geblendet, gefesselt, meinen Mitschuldigen in die Hände geliefert, hier in diesem Keller hausen muß . . . Sieh, diese Gedanken übten solchen heilsamen Einfluß auf mich, daß mein Grimm verraucht, daß es mir wird, als fände ich die Kraft nicht, den Willen nicht, dich zu bestrafen.«

Er hatte der Eule, während er so sprach, unwillkürlich einige Freiheit gewährt, und die Eule hatte sie benutzt, den Dolch zu fassen, den sie nach Sarahs Ermordung in ihr Leibchen geschoben hatte, und Bakel einen Stich in die Seite zu versetzen, der ihm einen schrillen Schmerzensschrei entlockte . . .

All sein Haß wurde hierdurch wieder wachgerufen . . . »Ha, Schlange!« rief er mit zornbebender Stimme, und packte die Eule in demselben Moment, als sie entweichen wollte, »dazu bist du hergekrochen? Na, warte! ich will dich zermalmen wie einen Wurm . . . Da, sieh die Gespenster! Dort aus dem Dunkel kommen sie hervor, bleiche Gerippe, aber das Blut raucht unter ihnen . . . He? Fürchtest du dich vor ihnen? O, sträube dich nicht! Sei ruhig, Kanaille! Du sollst sie nicht sehen die Gespenster, denn ich will dich blenden, wie er mich blendete! Wie ich, sollst du hinfort keine Augen mehr haben . . . Dann, Eule, stehen wir einander wieder gleich – dann können wir wieder spielen mit gleichen Karten!«

Die Eule schrie so fürchterlich, daß der lahme Junge auf dem Treppenabsatze, auf dem er noch immer kauerte, wie von einer Tarantel gestochen, in die Höhe fuhr . . . »Krächze, Eule, krächze dein Totenlied!« rief Bakel leise, »sei froh, denn nun siehst du sie nicht mehr, die unter unsern Händen verbluteten! den kleinen Alten in der Rue du Roule, die ersäufte Frau, den Viehhändler – keinen mehr siehst du! Aber ich sehe sie! da kommen sie heran im Gänsemarsche, einer immer bluttriefender als der andere . . . O! wie kalt sie sind! wie bleich sie sind!« – In dem Aufschrei des Entsetzens, der sich von seinen Lippen rang, erlosch der letzte Schimmer von Vernunft, der den Geist dieses Bösewichtes noch erhellte . . . Hinfort kam kein Wort mehr über seine Lippen . . . wie ein wildes Tier rannte er in dem Keller umher, nur dem Instinkte der Vernichtung noch gehorchend . . .

Im Keller unten vollzog sich Entsetzliches . . . Ein wildes Stampfen, unterbrochen durch dumpfes Geräusch, wie wenn ein Knochenkasten von einem Steine abprallte, auf dem er zerschmettern soll . . . Dazwischen krampfhaftes Klagegeschrei und teuflisches Gelächter. Zuletzt Todesröcheln . . . Dann wieder Gestampf und dumpfe Schläge . . . Starr vor Grauen hockte der lahme Junge nach wie vor auf dem Treppenabsatze, bis ihn fernes Geräusch von Tritten und Stimmen aufschreckte. Am Treppenhalse wurde Licht sichtbar. Männer kamen die Treppe herunter gerannt. Im nächsten Augenblick füllte der Keller sich mit Polizisten, an ihrer Spitze Detektiv Borel . . . Der lahme Junge wurde gepackt, der Korb der Eule ihm abgenommen. Detektiv Borel stieg an der Spitze einiger Leute in den Keller hinunter. Alle wichen zurück vor dem gräßlichen Anblick, der sich ihnen bot . . . Bakel, der sich von der Kette freigemacht hatte, die seinen Fuß an einen schweren Stein gefesselt hielt, rannte, ein Bild des Grauens, mit starrem Haar, langem Barte, schäumendem Munde, triefend von Blut, den Leichnam der Eule an beiden Beinen hinter sich her schleifend, wie ein wildes Tier in dem Keller herum . . . Nur mit Gewalt konnten ihm die blutigen Ueberreste seiner Kumpanin entwunden werden, und es währte geraume Zeit, bis es gelungen war, ihn zu fesseln. Dann brachte man ihn in die Schenkstube hinauf, wo Niklas Martial, seine Mutter und Schwester und Barbillon bereits gefesselt unter scharfer Bewachung am Boden lagen. Man hatte sie in dem Augenblicke festgenommen, als sie der Diamantenmaklerin den Garaus hatten machen wollen.

Als Rotarm, in dessen Beisein das Haus auf das schärfste durchsucht worden war, von Borel in die Schenkstube geführt wurde, verzerrten sich die Züge der alten Frau Martial unwillkürlich, und ihre kleinen, trüben Augen funkelten wie die einer wütenden Schlange . . . Sie zweifelte keinen Augenblick mehr an Rotarms Verrat und zischte ihm zu: »Daß du meinen Aeltesten nach Toulon gebracht, hab ich schon lange gewußt . . . Jetzt verschacherst du auch uns, Ischarioth! Nun, sei es! Die Welt soll sehen, wie echte Martials zu sterben wissen.«

Schäumend vor Wut, spuckte sie ihm ins Gesicht, als sie an ihm vorbei nach dem Polizeiwagen abgeführt wurde. Mit Barbillon, Niklas und Rotarm wurde sie ins Zuchthaus abgeführt, während Bakel in die Irrenabteilung gebracht wurde.


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