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Der Leser möge dessen eingedenk bleiben, daß sich die Ereignisse, von denen hier die Rede ist, im Jahre 1838 zutrugen. Als eine Figur dieser Zeit mag er sich auch den Mann vorstellen, mit dem wir uns jetzt befassen müssen. Ernst und bedächtig tritt er in die Stube herein, der Mann mit der Riesennase, dem Riesenschmerbauch und dem Pachuner-Gesicht, das an die alten Nußknacker Alt-Nürnbergs erinnert, der den Namen Pipelet trägt und nun wohl an sechzig Jahre zählen mag. Sein Haupt ist bedeckt mit einem breitkrempigen Hute, den das hohe Alter rostrot gefärbt hat. Der alte grüne Frack, den er trägt, hat ein paar Riesenschöße, die vor Speck glänzen, und Klappen, die so starr von Schmutz geworden sind, daß sie richtig vom Leibe abstehen.
Der Mann grüßte Rudolf zwar freundlich, aber in die Freundlichkeit war herber Wermut gemischt. – »Du, Alfred,« sagte die Frau, »der Herr will die Stube mit dem Kabinett oben im vierten Stock mieten, wir haben auf dich gewartet und unterdes ein Gläschen von dem Besten da genippt.« – Diese Liberalität gewann Rudolf das Herz des Biedermanns auf der Stelle. Die Rechte an den Vorderrand seines rostfarbenen Hutes legend, sagte er mit einer eines Schulkantors nicht unwürdigen Baßstimme: »Sie dürfen sich darauf verlassen, daß wir alles zur vollsten Zufriedenheit verrichten werden, was unsers Amtes als Pförtner des Hauses ist, in welches Sie als Mieter einzuziehen die löbliche Absicht haben.« Darauf machte er eine Pause und setzte hinzu: »Bloß eins muß ich mir ausbedingen: Maler dürfen Sie nicht sein.« – »Warum nicht? Haben Sie schon mal einen Maler im Hause gehabt?« – »Leider, leider,« erwiderte Pipelet, »obendrein einen, der Cabrion hieß, der mir zugesetzt hat wie – na, wie ein Henker! Aber jetzt – jetzt gehört ihm meine Verachtung, meine maßlose Verachtung.« Und Pipelet ballte bei der Erinnerung an den Menschen, der ihn aufs Blut drangsaliert hatte, beide Fäuste.
»War es der letzte Mieter der Wohnung, um die wir beide handeln?« fragte Rudolf. – »Nein. Nach ihm hat ein netter Mensch in der Wohnung gehaust: ein junges Kerlchen namens Germain, François Germain, und vor Germain hat Cabrion drin gewohnt. Aber an den, Herr, denke ich, so lange ich lebe. Das war ein Kerl, der einen ins Narrenhaus bringen konnte.« – Und in heftiger Erregung lief Pipelet auf und ab. – »Denken Sie nur, Herr Rotarm hat ihm, bloß um ihn loszuwerden, den Zins auf ein halbes Jahr wieder herausgezahlt! Sie wissen doch wohl schon, daß Rotarm alle Mieten kassiert, den Oberverwalter spielt, usw. Nein! von den gräßlichen Streichen, die er uns allen im Hause gespielt hat, dieser Cabrion, meine ich, hat niemand eine Ahnung. Der Kerl spielte alle nur erdenklichen Blasinstrumente, um uns zu ärgern! Pfeife, Fagott, Harmonika, Posaune, Trompete und – schrecklich! sogar – zwei Flöten, sage ich! Alle Kater und Katzen rannten über die Dächer auf und davon, und was war die Folge? Scharen von Ratten und Mäusen hielten bei uns Einzug!« – »Na, da kann man sich freilich denken, daß Sie von Malern nichts mehr wissen mögen,« meinte Rudolf, »aber desto zufriedener waren Sie mit seinem Nachfolger, dem Herrn Germain?« – »O, das war ein netter Mensch, dienstwillig, treu wie Gold, gar nicht stolz, aber recht fidel, das heißt auf seine Art, ohne jemand beschwerlich zu werden, wie dieser Cabrion, den ich lebendig in die Hölle wünsche.« – »Na, mein lieber Pipelet,« redete Rudolf ihm zu, »denken Sie nur nicht mehr an ihn! Sagen Sie mir lieber, welchen Hausbesitzer hat denn dieses Juwel von Mieter, wie man sich Herrn Germain nach Ihrer Beschreibung vorstellen muß, beglückt?« – »Kanns nicht sagen,« antwortete Pipelet, »kein Mensch weiß es und kein Mensch soll es wissen, wo sich Herr Germain aufhält, allein ausgenommen unsere Lachtaube.« – »Wer ist denn das?« fragte Rudolf. – »Eine Näherin, die auch in unserm vierten Stocke wohnt,« erklärte der Pförtner, »eine andere Perle, aber im besten Sinne gemeint, denn sie bezahlt ihre Miete immer pünktlich voraus und hält auf große Reinlichkeit in ihrem Stübchen, ist auch gegen jedermann so artig und nett, ist fleißig und bringt es oft über zwei Franks den Tag.«
»Das interessiert mich weniger,« sagte Rudolf, »als wie es kommt, daß Fräulein Lachtaube Herrn Germains Wohnung kennt?« – »Hm, als er auszog,« erklärte die Frau, »sagte Germain zu uns: Briefe erwarte ich keine mehr; sollte aber noch einer kommen, dann geben Sie ihn nur dem Fräulein Lachtaube.« – »Ja,« bemerkte Pipelet, »gegen das Mädchen ließe sich gar nichts sagen, wenn sie nicht die Torheit begangen hätte, sich von diesem Scheusal von Cabrion die Kur machen zu lassen.« – »Ach, schwatz doch kein dummes Zeug!« sagte die Frau, »das liegt doch bloß daran, daß die beiden Leutchen oben zusammen im vierten Stock wohnten. Daß es dem Mädchen nicht ernst darum zu tun war, weißt du ja ebensogut wie ich.« – »Herr Germain hat sich wohl auch mit dem Mädchen ganz gut vertragen?« fragte Rudolf mit einem spöttischen Seitenblicke. – »O, der erst recht,« antwortete eifrig die Frau, »die beiden sind ja ohnehin wie füreinander geschaffen, sind beide hübsch und jung und« . . . – »Germain hat das Mädchen also nicht wiedergesehen, seit er aus dem Haus ausgezogen ist?« – »Nein, höchstens einmal Sonntags, was ich natürlich nicht wissen kann. In der Woche nimmt sich das Mädchen keine Zeit, sich mit Liebhabern zu befassen. Zwischen 5 und 6 Uhr ist sie schon auf den Beinen, bis um 10 Uhr arbeitet sie, manchmal sogar bis nach 11, und geht niemals aus ihrer Stube, außer wenn sie Einkäufe zu besorgen hat. Sie ist auch recht gut und mildtätig. Bei den armen Leuten oben unterm Dache, die wahrscheinlich in den nächsten Tagen exmittiert werden dürften, hat sie mit Herrn Germain mehr denn eine Nacht die kranken Kinder gewartet und gepflegt.«
»Was Sie sagen! Also arme Leute wohnen auch hier?« fragte Rudolf. – »Ja,« versetzte die Pförtnerin, »und recht, recht armes Volk! Fünf kleine Kinderchen, die Mutter auf den Tod krank, die Großmutter altersschwach, und der Mann kaum imstande, das trockne Brot zu verdienen.« – »Das sind ja schreckliche Zustände,« sagte Rudolf, »und hilft denn niemand diesen armen Menschen?« – »O, was wir tun können, geschieht ja,« sagte Pipelet, »aber mehr als in unsern Kräften steht, können wir eben auch nicht tun. Seit uns der junge Herr, der Kommandant – wie wir ihn nennen – zwölf Mark im Monat für die Aufwartung gibt, habe ich ja einmal in der Woche Fleisch gekocht und den armen Leuten ein paar Teller Brühe hinaufgetragen. Der arme Germain hat ihnen hin und wieder eine Flasche Wein geschenkt, dabei immer sich so gestellt, als wenn er Wein von seinen Eltern bekäme. Morel – so heißt der arme Mensch, der kaum das trockne Brot verdient, hat dann ein paar kräftige Schlucke genommen und darüber den Hunger vergessen, der ihm die Eingeweide zerriß.«
»Was ist denn der Mann?« – »Er ist Steinschneider und soll in imitierten Waren ein Meister sein, hat sich aber bei dem lungenmörderischen Handwerk vollständig ruiniert. Na, Sie werden ihn ja sehen und sich dann überzeugen, daß ich nicht zuviel gesagt habe. Für sieben Menschen Brot schaffen, ist freilich keine Kleinigkeit. Da heißts sich rühren. Die älteste Tochter geht ihm ja tüchtig zur Hand, aber was ein Mädchen verdienen kann, wenns ehrlich bleiben will, na, das weiß man doch.« – »Wie alt ist das Mädchen?« – »Siebzehn Jahre und bildschön, o, mehr als bildschön! und in Dienst bei einem Notar Ferrand.« – »Was? Beim alten, reichen Ferrand in der Rue du Sentier?« rief Rudolf, über dies neue Zusammentreffen fast mehr noch verwundert als über das frühere, denn eben bei diesem Notar und seiner Wirtschafterin sollte er sich ja doch Auskunft über das unter dem Namen Schalldirne bekannte Mädchen holen.
»Ach, richtig!« sagte die Pförtnerin. »Sie kennen ihn doch nicht etwa?« – »O doch! Er wird von dem Handelshause beschäftigt, in welchem ich angestellt bin,« erklärte Rudolf. – »Nun, dann werden Sie ja wissen, daß er ein arger Geizhals ist? Und was Luise angeht, die Tochter des Steinschneiders oben,« setzte die Frau hinzu, »so mögen es wohl anderthalb Jahre her sein, daß sie bei ihm im Dienst ist. Es ist ein lammfrommes Ding und über die Maßen emsig und fleißig, trotzdem sie einen gar knappen Lohn bekommt, keinen Sou über achtzehn Franks. Sechs braucht sie natürlich für ihren Unterhalt, die andern zwölf aber gibt sie den Ihrigen. Ein Mädel, Herr, wie es ihrer viele sicherlich nicht gibt! Ein Vierteljahr ist der Vater bettlägerig gewesen, die Mutter hat infolge der angestrengten Pflege all ihr bißchen Gesundheit eingebüßt und liegt jetzt auf den Tod krank darnieder; in diesem Vierteljahr haben die sieben Personen von den zwölf Franks des Mädchens gelebt; einiges mögen sie wohl bei der Burette versetzt haben, und ein paar Taler mag ihnen die Geschäftsfrau vorgeschossen haben, für die der arme Mann arbeitet: die Inhaberin des Ladens, meine ich, in welchem die falschen Edelsteine verkauft werden, die der Arme schneidet. Aber wir wollen nicht weiter davon sprechen, denn es kann einem alle Lust am Leben vergehen, wenn man sich mit den Menschen da oben befaßt. Na, ein Glück wenigstens, daß Herr Rotarm ihnen die Wege weisen wird! Es ist ja bedauerlich, daß es den Menschen so traurig geht; aber ein anständiges Haus darf doch nicht unter solchem armen Volke leiden! Na, da will ich Ihnen jetzt Ihre Wohnung zeigen. Kommen Sie, wenn ich bitten darf.«