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Im Sprechzimmer des unter dem Namen La Force bekannten Pariser Zuchthauses waren heute allerhand Gefangene versammelt: solche in armseliger Kleidung, die der arbeitenden Klasse, andere in besserer Kleidung, die dem Bürgerstande anzugehören schienen. Den gleichen Unterschied gewahrte man unter den Personen, die die Gefangenen besuchten und die vorwiegend aus Frauen sich zusammensetzten. Am weitesten von dem Platze, wo der die Aufsicht führende Fron saß, hockte auf einer der Bänke, in finsterem Brüten, aber voll rohen Selbstvertrauens, Niklas Martial. Unter den schweren Verbrechern, die in Untersuchungshaft saßen, hatte er die freundlichste Aufnahme gefunden: manche von der rückfälligen Garde hatten seinen Vater, der unter dem Fallbeil verblutet war, gekannt, andere seinen zu den Galeeren verurteilten Bruder. Micou, der Hehler, in dessen Hause Frau von Fermont mit ihrer Tochter, die unglücklichen Opfer Ferrands Habsucht, Unterkunft gesucht hatten, stattete ihm heute Besuch ab, wußte er doch recht gut, daß ihn Niklas, wenn er zornig wurde, anzeigen und in Teufels Küche bringen konnte. Darum hatte er sich nicht nötigen lassen, seiner Aufforderung zu einem Besuche auf der Stelle nachzukommen . . . »Na, wie gehts denn, Vater Micou?« fragte der Räuber. – »Na, wie mans nimmt,« antwortete der Hehler, »die Geschäfte werden immer schlechter, es herrscht gar kein Vertrauen mehr unter den Menschen.« – »So? Na, mir kanns schnuppe sein, wie es um Vertrauen oder Mißtrauen steht. Ich bin ja bald versorgt. Aber den Tabak habt Ihr doch über Eurer Jeremiade nicht vergessen?« – »O bewahre, zwei Pfund vom besten habe ich eben in der Kanzlei deponiert.« – »Und Wurst und Schinken?« – »Für Viktualien ist auch gesorgt, sogar Eier und Käse habe ich Euch mitgebracht.« – »Na, das läßt man sich gefallen! Ihr habt doch auch an den Wein gedacht?« – »Sechs versiegelte Flaschen hab ich vorn mit abgegeben, dazu ein Vierpfundbrot bester Sorte.« . . . »Sagt mal, spielt denn der dicke Lahme Ihren Mietsleuten noch immer Streiche?« – »Nein, den bin ich endlich los! Dieser Tage wird er wohl hier einziehen.« – »Warum hat man ihn eingesteckt?« – »Er hat mit einem, der gerade aus der Haft entlassen worden und die besten Absichten hatte, sich zu bessern, zusammen gemaust. Der Dicke ließ ihm eben keine Ruhe . . . Ich bin auch fest überzeugt, daß niemand als er den beiden Damen das Geld aus ihrem Koffer gemaust hat . . . Man kann es den armen Dingern ja nicht verdenken, daß sie darüber schier aus dem Häuschen gerieten, waren es doch die letzten Goldfüchse, über die sie geboten, aber sich an mich deshalb halten zu wollen, dazu lag doch kein Recht vor, und so etwas mußte ich mir energisch verbitten.« – »Was für Frauen waren denn das?« –,,Ach, die oben im vierten Stock gewohnt haben. Ich fürchte, sie werden wohl jetzt keine Wohnung mehr brauchen, denn die Mutter dürfte wohl schon ins Gras gebissen haben, und die Tochter schärft sich gewiß die Zähne dazu . . . Aber zu ihrem Begräbnisse gebe ich keinen roten Sechser, zumal ich sicher um eine halbe Monatsmiete kommen werde . . . Das ist eines der schlimmsten Jahre, die ich durchgemacht habe.« – »Ach, Micou, wann klaget und jammert Ihr nicht? Und dabei seid Ihr doch steinreich wie ein Krösus! Aber – ich werde wieder abgeholt – unsere Sprechstunde ist hier recht knapp bemessen!«
Der Hehler zuckte die Achseln und ging. Der Fron führte Niklas wieder in seine Zelle. Hinter Micou meldete sich Lachtaube. Der Fron, ein freundlicher Mann in den Vierzigern, der Lachtaube in sein Herz geschlossen hatte, führte sogleich Germain herein, der, als er das frische, reizende Gesicht der Freundin durch das Gitter schimmern sah, lebhaft errötete. Der Fron setzte sich rücksichtsvoll in die äußerste Ecke, so daß sie zusammen ungeniert plaudern konnten . . . »Nun muß ich mich doch erst überzeugen, Herr Germain,« sagte Lachtaube, ihr hübsches Gesicht nahe an das Gitter haltend, »ob sich mit Ihrem Gesicht zufrieden sein läßt. Nur nicht so traurig, sage ich Ihnen, sonst werde ich böse.« – »Ist das lieb und nett von Ihnen zu kommen!« – »Ach, reden Sie nicht! Ich habe doch die gleiche Freude, Sie zu sehen! Aber was ich Ihnen heute bringe, erraten Sie gewiß nicht.« – »Was kann es anderes sein als Gutes, da es von Ihnen kommt?« erwiderte er; »wie soll ich Ihnen alles danken!« – »Da, ein Halstuch aus weißer Wolle, das ich Ihnen gestrickt habe. Ich kann mir denken, wie kalt es hier sein mag in den großen Höfen, und ein klein wenig wärmer hält es Sie doch?« – »Ach! Sie gönnen sich gewiß gar keinen Schlaf, strengen sich um meinetwillen über die Kräfte an . . . Wie soll ich Ihnen das alles bloß danken!« sagte er wieder und wischte sich eine Träne aus den Augen . . . »Was habe ich Ihnen eben gesagt?« rief Lachtaube; »wenn Sie durchaus nicht hören wollen, dann gehe ich auf der Stelle wieder heim, hören Sie? Ich kann mir wohl denken, daß die anderen Gefangenen sich lustig über Sie machen . . . Und wenn Sie durchaus nicht auf den freundlichen Fron hören und Ihr Benehmen ändern wollen, dann wirds doch noch einmal kommen, wie er gesagt hat, man wird Ihnen was zu leide tun!« – »Ich kann mir nicht helfen, liebe Freundin, mit solchen Menschen Gemeinschaft zu haben, ist mir nicht möglich.« – »Ich glaube es Ihnen ja,« sagte Lachtaube, »habe ich doch gelesen, was Sie mir jüngst aufgezeichnet haben, aber was bleibt denn anders übrig als mit den Wölfen zu heulen? Fassen Sie doch Mut! Es werden schon wieder andere Zeiten kommen . . . Ich habe auch anderes noch in Ihren Aufzeichnungen gelesen,« setzte das kluge Mädchen hinzu, »und zwar Dinge, über die ich eigentlich recht böse mit Ihnen sein sollte!«
». . . und die Sie, wenn mich nicht solch herbes Unglück verfolgte, nie erfahren hätten! Das schwöre ich Ihnen . . . Aber verzeihen Sie mir das törichte Zeug und vergessen Sie es . . . Jetzt darf ich mich in solchen Träumen ja doch nicht mehr wiegen.«
Schon zum zweiten Male machte sie den Versuch, Germain ein Geständnis zu entlocken, ohne daß es ihr gelang, ihn dazu zu bringen, denn das Unglück hatte ihn schüchtern und mißtrauisch gemacht. Wie konnte er auch denken, daß ihn, auf dem jetzt solche Anklage lastete, ein Mädchen wie Lachtaube noch lieben könnte! Sie aber, schmerzlich bedrückt, daß sie nicht verstanden wurde, unterdrückte einen Seufzer, noch immer hoffend, daß sich ihr eine Gelegenheit bieten werde, dem Manne ihrer Wahl ihr Herz zu offenbaren. Verlegen antwortete sie deshalb: »Ich sage das doch nur, weil ich meine, Sie sollten sich nicht unnütz in Gefahr begeben.« – »Und ich sage Ihnen meinerseits, daß ich zuweilen versucht habe, mich mit denjenigen Gefangenen zu befassen, die nicht gerade zu den abgefeimten Verbrechern gehören; aber wenn Sie ahnen könnten, welche Sprache die Menschen führen! O, es kann einen schaudern.« – »Sie Aermster! Wie tief beklage ich Sie!« – »Und lebt man an solch schrecklichem Orte, in solch abscheulicher Gemeinschaft, dann,« rief er, »dann kann man sich wirklich denken, daß für jemand, der unschuldig hierher gerät, wenig dazu gehört, als verstockter Sünder den Weg hinaus zu nehmen!« – »Aber nicht Sie, nicht Sie!« rief Lachtaube. – »Ich ebenso gut wie viele andere, die tausendmal besser sind als ich!« – »O sprechen Sie nicht so! Sie tun mir schrecklich weh!« – »Was soll ich Ihnen aber sagen, wenn Sie sich darüber beschweren, daß ich traurig sei? Andere Gründe zu Betrübnis und Kummer habe ich doch nicht,« sagte er, und wieder standen ihm Tränen in den Augen . . . »Ich kenne nur ein Mittel, mich für Ihr Mitgefühl erkenntlich zu zeigen, und das ist, Ihnen nichts zu verheimlichen. Und so gestehe ich Ihnen mit Grauen, daß ich mich schon jetzt gar nicht wiederkenne. Wenn ich auch die Elenden verachte und fliehe, so wirkt doch ihre Anwesenheit, ihre Berührung niederdrückend, lähmend auf mich. Mir ist zumute, als wohnte ihnen die schlimme Macht inne, die Atmosphäre zu verderben, in der sie leben. Ich fühle, wie das Verbrechen durch all meine Poren eindringt. Und würde ich auch freigesprochen von meinem Fehltritt, den ich doch nur, durch Mitleid getrieben, begangen habe, so wird mich doch immer der Umgang mit ehrlichen Menschen in Verlegenheit setzen und mit Scham erfüllen. Denn in den Augen des Gesetzes gelte ich doch als untreu, wenn es auch minder schlecht ist, aus solcher Absicht, wie sie mich geleitet, sich an fremdem Eigentume zu vergreifen, als um sich zu bereichern. Ein Diebstahl bleibt es immer, was ich getan habe, wenn auch einer unter mildernden Umständen. Mich mit unbescholtenen Menschen auf eine Stufe zu stellen, ist mir verwehrt, ich muß mich vielmehr auf gleicher Stufe ansehen mit den schlechten Subjekten, in deren Gemeinschaft ich jetzt lebe. Und das – ich spüre es recht wohl an mir – verhärtet das Gewissen! Es mag ja wohl ein Trost sein, sich sagen zu können: ich bin nicht minder rechtschaffen als der ehrlichste Mensch auf Erden, bin bei weitem kein solcher Bösewicht wie diejenigen, deren Dach ich jetzt teile; aber das bleibt doch immer ein schlechter Trost!«
Auch dem Mädchen war das Weinen nahe, und in einem rührenden, fast feierlichen Tone, den er noch nie an ihr gekannt, sagte sie: »Hören Sie, was ich Ihnen jetzt sage, Germain! Es ist recht und wahr, wenn ich mich auch nicht so geläufig wie Sie ausdrücken kann . . . Erstlich einmal sind Sie im großen Unrecht, wenn Sie meinen, Sie ständen allein und verlassen da.« – »O, Sie dürfen nicht meinen, daß ich je vergessen könnte, was Sie aus Mitleid für mich getan . . .« – »Sie sollen dies Wort auch nicht gebrauchen! Denn was ich für Sie empfinde, ist nicht Mitleid. Und da Sie es allein nicht verstehen wollen, so muß ich versuchen, es Ihnen klar zu machen . . . Als wir Nachbarn waren, da liebte ich Sie wie einen treuen Kameraden, wie einen Bruder, wie einen braven Freund. Sie erwiesen mir mancherlei Gefälligkeit oder Aufmerksamkeit, und ich bemühte mich, Ihnen alles wett zu machen, soweit ich bei meinen schwachen Kräften dazu imstande war. Wir machten Sonntags gemeinsame Ausflüge, Sie gaben mir Unterricht im Lesen und Schreiben, ließen es auch an allerlei gutem Rat nicht fehlen, waren – mit einem Worte – der getreueste aller Nachbarn, die ich je gehabt habe, und der einzige, der nie Liebesdienste als Entgelt von mir verlangt hat. Und als Sie Ihr Quartier verließen, da gaben Sie mir einen großen Beweis von Vertrauen, indem Sie mir, dem armen Mädchen, ein wichtiges Geheimnis anvertrauten, das machte mich stolz. Und ich dachte hinfort lieber und öfter an Sie als an meine andern Nachbarn.«
»Wirklich? Sie haben mich von andern bevorzugt?«– »Allerdings, und wie hätte ich es nicht gesollt? Ich hätte ja dumm und auch schlecht sein müssen! Ich habe nie anders bei mir gedacht, als: einen besseren Menschen als Germain gibts in ganz Paris nicht, und wenn ich eine Freundin besäße, die ich recht glücklich sehen möchte, dann sagte ich zu ihr: Heirate Germain, denn seine Frau hat einmal den Himmel auf Erden!« – »Sie haben an mich gedacht, weil Sie meinten, ich schwärmte für eine andere?« – »Allerdings, und niemand hätte sich mehr gefreut, Sie glücklich zu sehen, als ich . . . Sie sehen, wie offen ich bin!«
»Und ich danke Ihnen dafür vom Grunde meines Herzens.« – »So standen also die Dinge, als Sie von dem herben Unglück heimgesucht wurden, das Sie hierher führte! Da erhielt ich den guten lieben Brief, in dem Sie mich ersuchten, jene Papiere zu holen, aus denen ich erfuhr, daß Sie mich immer geliebt, aber nicht gewagt hatten, mir es zu sagen, jene Papiere, in denen ich las« – und Lachtaube konnte sich der Tränen nicht enthalten – »daß Sie an meine Zukunft gedacht, und mir für den Fall, daß Sie eines gewaltsamen Todes stürben, was Sie damals wohl zu fürchten hatten, das Wenige vermachten, was Sie sich erspart hatten – was ich in jenem Augenblicke, als ich dieses – ich sage es mit tiefer Trauer im Herzen – Testament las, in welchem jede Zeile eine Erinnerung an mich enthielt, empfunden habe, das kann ich Ihnen nicht sagen . . . und doch sollte ich diese Beweise Ihrer Zuneigung erst erfahren, wenn Sie nicht mehr unter den Lebenden wandelten! Wer möchte sich da wundern, daß aus solch edlem Benehmen Liebe erwächst?« – »Mädchen! Was sagen Sie? Sie lieben mich? Ist's wahr, Sie könnten mich lieben?« – »Und warum sollte ich es nicht?« fragte mit triumphierendem Lächeln das Mädchen, »und wenn Sie es mir nicht bekennen wollen, warum sollte ich zurückhalten mit solchem Bekenntnis?«
»Ach, wie unglücklich ich bin!« – rief Germain in Verzweiflung. – »Sie lieben mich – nun, da ich Ihrer nicht mehr wert bin.« – »Meiner nicht mehr wert? Was Sie da sagen, hat weder Sinn noch Verstand; gerade als hätte ich sonst gesagt, ich wäre Ihrer Freundschaft nicht wert, weil ich im Gefängnisse gewesen bin, – denn ich habe doch auch gesessen: bin ich aber deshalb weniger ein braves Mädchen?« – »Ja, aber Sie kamen in das Gefängnis, weil Sie ein armes verlassenes Kind waren, während ich! – mein Gott! welcher Unterschied!« – »Nun, in dieser Hinsicht haben wir uns beide nichts vorzuwerfen. – Und bin ich nicht vielmehr ehrgeizig, denn meinem Stande nach dürfte ich gar nicht daran denken, einen andern Mann als einen Handwerker oder dergleichen zu wählen. – Ich bin ein Findelkind, besitze nichts als mein Stübchen und meinen guten Mut, und doch komme ich keck daher und trage mich Ihnen zur Frau an –«
Mit leidenschaftlicher Trunkenheit fiel Germain ihr ins Wort: »Ja, mein Lieb, ich schlage ein! Ich fühle, daß es zuweilen feige ist, gewisse Opfer nicht anzunehmen, denn man gesteht damit nur ein, daß man ihrer sich nicht für würdig hält. Edles, mutiges Mädchen, ich schlage ein!« – »Wirklich? Ist es Ihnen jetzt ernst?« – »Meinen Schwur darauf!« antwortete Germain feierlich, »und das Glück, dessen Sie mich teilhaftig machen, spornt mich, ein ehrlicher Mensch zu bleiben. Durch das Glück, das mir durch Sie winkt, edles Mädchen, erwächst mir die Kraft, den verderblichen Einflüssen um mich her zu widerstehen. Ich werde hinfort eine zwiefache Aufgabe zu erfüllen haben: die Vergangenheit zu büßen und das Glück, das ich Ihnen verdanke, zu verdienen; deshalb werde ich Gutes tun, denn an Gelegenheit fehlt es nie, wenn man auch arm ist –« – »Ja, wir finden immer Leute, die noch unglücklicher sind als wir.«
Der Aufseher machte in diesem Augenblicke eine Bewegung; er erwachte . . . »Schnell!« sagte leise die Lachtaube mit reizendem Lächeln und züchtiger Zärtlichkeit, »schnell einen Kuß auf die Stirn, – durch das Gitter! Das soll unsre Verlobung sein.«
Sie drückte errötend die Stirn an das eiserne Gitter und Germain berührte, tief bewegt, durch das eiserne Gitter hindurch mit seinen Lippen die reine weiße Stirn, Eine Träne des Gefangenen fiel darauf gleich einer feuchten Perle . . . Ergreifende Taufe dieser keuschen, traurigen, schönen Liebe!