Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Drittes Kapitel.

Lachtäubchens erster Kummer

Lachtäubchens Stübchen war wie immer sauber und schmuck. Die in einem hölzernen Gehäuse auf dem Kamine befindliche große Uhr zeigte die vierte Stunde an. Da die Kälte nachgelassen hatte, hatte das sparsame Mädchen es unterlassen, Feuer anzumachen. In ihre Arbeit vertieft, saß sie am Fenster, sang aber nicht mehr, denn sie hatte zum ersten Mal in ihrem jungen Leben einen wirklichen Kummer. François Germain ausgenommen, hatten alle ihre Nachbarn ihr zutrauliches Wesen und die gute Nachbarschaft, die sie hielt, für weiter nichts als ein etwas weitgehendes Entgegenkommen, wenn nicht gar als Aufforderung, sich zu nähern, aufgefaßt, wenn sie auch von diesem Irrtume bald zurückgekommen waren. Der einzige, der sich wirklich in Lachtäubchen verliebt hatte, und zwar ernstlich, war Germain, und er hatte gerade sich ihr am fernsten gehalten, wenigstens nicht gewagt, ihr seine Liebe zu erklären. Über manch frohe Stunde hatten sie miteinander in dem traulichen Stübchen gesessen und fröhlich geplaudert.

Heute saß sie allein, und ihr sonst so frisches rundes Gesicht war bleich, ihre sonst von Lust und Fröhlichkeit strahlenden Augen zeigten einen matten, trüben Schimmer; aus ihren Zügen sprach Abspannung. Kein Wunder, hatte sie doch die Nacht über kaum ein Auge geschlossen. Ihre Augen hafteten auf einem Briefe, der neben ihr auf dem Tische lag, und den ihr Anbeter Germain ihr am Abend vorher aus dem Stadtgefängnisse geschickt hatte . . .

»Liebes Fräulein,« lautete er, »Sie werden sich die Größe meines Unglückes ausmalen können, wenn Sie erfahren, daß ich wegen Diebstahls ins Gefängnis gebracht worden bin. Alle Welt hält mich dieses Verbrechens für schuldig, und dennoch wage ich, an Sie zu schreiben. Ach, es wäre mir schrecklich, wenn ich glauben müßte, daß auch Sie mich solcher Missetat für fähig halten könnten. Lesen Sie erst diesen Brief, ehe Sie so Schlimmes von mir für möglich halten.

»Ich habe einige Zeitlang schon meine frühere Wohnung in der Rue du Temple aufgegeben, bin aber durch Luisen, die unglückliche Tochter des Steinschneiders Morel, über die schreckliche Not, in die ihre Familie geraten war, auf dem Laufenden gehalten worden. Das Mitleid, das ich mit diesen armen Leuten fühle, hat mich in dieses schreckliche Unglück gestürzt. Gestern hatte ich bis in die späte Nacht dringliche Arbeiten in Ferrands Kanzlei zu verrichten. In der Stube, in der ich schreibe, steht ein Sekretär. Darin verschloß der Notar täglich die von mir erledigten Akten. Als ich vorm Weggehen diesen Schrank öffnete, um in Ferrands Abwesenheit die erledigten Akten zu verschließen, fiel mein Auge unwillkürlich auf einen offnen Brief mit der Aufschrift: Hieronymus Morel.

»Ich muß sagen, daß ich von einer unwiderstehlichen Neugierde befallen wurde, mir Kenntnis von dem Inhalte dieses Schriftstücks zu verschaffen. Auf diese Weise wurde mir bekannt, daß der arme Morel am andern Tage wegen einer Wechselschuld an meinen Prinzipal Ferrand ins Schuldgefängnis übergeführt werden sollte. Der Brief rührte von dem Agenten des Notars her. Mir war die Lage von Morel so genau bekannt, daß ich keinen Augenblick im Zweifel darüber war, welch fürchterlichen Schlag die armen Leute dadurch erleiden mußten. Ich war empört über die Schlechtigkeit Ferrands. Leider fiel mein Blick zu gleicher Zeit auf ein offenes Kästchen, das neben dem Briefe in dem Sekretär des Notars stand und worin Gold über Gold, meiner Schätzung nach wenigstens 20 000 Franks, lagen. Da hörte ich Luisen die Treppe hinunterrennen, und ohne mich über die Folgen meines Tuns zu bedenken, nahm ich 1300 Franks von dem Gelde, lief hinter Luisen her und gab ihr die Summe mit den Worten, daß sie nach Hause eilen möchte, da ihr Vater wegen einer Wechselschuld verhaftet werden solle. Ich hatte mir 1500 Franks gespart und hätte ja das Geld bei dem Bankier holen sollen, anstatt es aus dem Sekretär des Notars zu nehmen, aber Morels Verhaftung litt keinerlei Verzug; sollte die Verhaftung umgangen werden, die den Tod der armen Frau Morel herbeiführen konnte, mußte ich Luisen auf der Stelle das Geld geben. Am Vormittage holte ich mir das Geld vom Bankier, kam aber zu spät, denn Ferrand hatte bereits das Manko entdeckt, und nun beschuldigt mich der böse Mann, nicht bloß 1300 Franks in Gold aus dem Sekretär genommen zu haben, sondern auch die zehnfache Summe in Banknoten, die ebenfalls im Sekretär gelegen habe. Das ist eine gemeine Lüge. Ich kann nicht in Abrede stellen, mich an den 1300 Franks vergangen zu haben, kann aber mit dem heiligsten Eide schwören, daß nicht eine einzige Banknote in dem Sekretär gelegen hat.

»Ach, liebes Fräulein, wenn Sie wüßten, wie tief unglücklich ich bin! Der Fron, in dessen Abteilung ich schmachte, hat mir versprochen, diese Zeilen an Sie zu besorgen, er hat Mitleid mit mir, denn ich habe ihm alles erzählt, wie es zugegangen; aber er begeht damit eigentlich eine dienstwidrige Handlung, denn eine solche Gefälligkeit Gefangenen zu leisten, ist aufs strengste untersagt. Ich habe nun eine letzte große Bitte an Sie: Beifolgend bekommen Sie ein Schlüsselchen. Damit gehen Sie, bitte, zu dem Pförtner des Hauses, wo ich zuletzt gewohnt habe, Boulevard Saint-Denis Nr. 11. Lassen Sie sich meine Stube aufschließen und schließen Sie dann mit dem Schlüsselchen selbst den Sekretär in meiner Stube auf. Es liegt ein Pack Briefe darin, verschnürt in graues Packpapier. Obenauf liegt ein Schriftstück, an Sie selbst adressiert; verwahren Sie all diese Briefe für mich!

»Es wird sich auch ein bißchen Geld in dem Sekretär finden. Auch das nehmen Sie an sich, ebenso ein kleines Etui, worin sich eine seidne Krawatte befindet, die Sie auf unserm letzten Sonntagsspaziergange getragen haben.

»Lassen Sie das bißchen Mobiliar, das in meiner Stube steht, versteigern. Alle Wäsche aber schicken Sie mir!

»Mag ich verurteilt werden oder nicht, ein längerer Aufenthalt in Paris ist für mich ausgeschlossen. Wohin ich mich wenden werde, wovon ich mein Leben bestreiten werde, weiß ich zurzeit nicht. Aber erweisen Sie, bitte, mir diesen letzten Liebesdienst. Nehmen Sie dafür die Zusicherung hin, daß ich mich zeit meines Lebens mit Liebe Ihrer erinnern werde . . . daß ich niemand anders habe als Sie, an den ich mich in diesem Augenblicke wenden konnte, brauche ich Ihnen nicht zu sagen, denn Sie wissen ja, wie abgeschlossen ich immer gelebt habe.

»Leben Sie wohl, teures Mädchen! Verlassen Sie mich in diesem letzten Augenblicke nicht! Sie allein sind meine Hoffnung!

François Germain.«

In dem durch diese Zuschrift bewirkten Gemütszustande traf Rudolf sie, als er jetzt den Fuß in ihre Stube setzte. Rudolf schlug ihr auf der Stelle vor, zusammen in die Wohnung Germains zu fahren. Nach einer Stunde hielt der Fiaker, der sie dorthin führte, vor dem ärmlichen Hause in der Rue Saint-Denis Nr. 11. Mit lebhaftem Verdruß hörte der Pförtner desselben, daß er einen so guten Mieter, dem die Liebe aller Mitbewohner des Hauses gehörte, verlieren sollte.

Lachtaube stellte das Licht auf einen Tisch. Das Mobiliar war überaus einfach: ein Bett, eine Kommode, ein Schreibsekretär, vier Strohsessel und ein Tisch: das war alles; dazu Vorhänge aus weißem Baumwollzeug an den Fenstern und dem Alkoven, und auf dem Kamine statt aller Nippessachen eine Wasserflasche mit einem Glase.

»Da sehen Sie!« fuhr die Lachtaube fort, auf das Bett zeigend, »er ist so unruhig gewesen, daß er die Nacht garnicht geschlafen hat. Da liegt ein nasses Taschentuch. Damit hat er sich gewiß die Augen getrocknet. Nun, er hat eine seidne Krawatte behalten, die ich auf einem Spaziergange trug, wo wir recht heiter und guter Dinge waren; ich werde das Taschentuch behalten, das mich beständig an das Unglück erinnern soll, unter dem er jetzt leidet.«

Sie machte, tief ergriffen, eine Pause; dann fuhr sie fort: »Aber nun zu den Aufträgen, die er mir in seinem letzten Briefe gibt. – Zuerst will ich die Wäsche zusammentun, die in der Kommode liegt, und zu ihm ins Gefängnis schaffen; alles andere mag Frau Bouvard zu mir schaffen. Ich will sie morgen herschicken. Aber ehe ich gehe, muß ich doch nachsehen, was im Schreibsekretär an Geld und Papieren liegt . . . Ach! was der arme Mensch da schreibt, Herr Rudolf, ist bittertraurig . . . Hören Sie doch: Falls ich eines gewaltsamen Todes sterben sollte, so soll derjenige, welcher diesen Schreibsekretär hier öffnet, diese Papiere zu Fräulein Lachtaube, Rue du Temple Nr. 17, tragen . . . Das Kuvert kann ich doch abnehmen, Herr Rudolf?« – »Ganz gewiß! Hat Ihnen der junge Mann denn nicht geschrieben, es läge darin ein Brief, der Sie persönlich angeht?«

Lachtaube erbrach das Siegel. Es lagen verschiedene Schriftstücke darin. Eines trug die Aufschrift: »An Fräulein Lachtaube.« Es enthielt die Worte:

»Fräulein! Wenn Sie diesen Brief lesen, dann werde ich nicht mehr unter den Lebenden weilen. Ich fürchte immer, eines gewaltsamen Todes zu sterben, bin ich doch einem Hinterhalte erst wieder vor kurzem entgangen. Aber ein paar Notizen aus meinem Leben dürften wohl auf die Spur meiner Mörder führen« – »Ach, Herr Rudolf, nun wundere ich mich freilich nicht mehr, daß Germain immer so traurig war . . . Wenn ihn solche Gedanken plagten!«

»Beruhigen Sie sich, mein liebes Kind! Ist er erst einmal wieder aus dem Gefängnisse, wird er Freunde finden, und keinen Grund mehr zur Betrübnis haben.« – »Aber des Diebstahls beschuldigt zu sein?« sagte Lachtaube, tief ergriffen. – »Seien Sie überzeugt, der arme Mensch wird freigesprochen werden, hat er doch das Geld nicht gestohlen, sondern am andern Tage sofort von seinem Guthaben auf der Sparkasse wieder ersetzt, und hat er es doch nur genommen, um eine arme Familie von schwerem Unglück zu erlösen. Das Gericht wird ihn höchstens mit einer ganz gelinden Strafe belegen; dafür wird er aber seine Mutter wieder in die Arme schließen, sobald er seine Freiheit wiedergewonnen.«

»Was sagen Sie da? Germain hat noch eine Mutter?« rief Lachtaube. – »Ja. Und sein Mütterchen hat ihn immer für verloren gehalten . . . Nun malen Sie sich die Freude aus, wenn sie ihn wiedersehen wird! Aber sagen Sie ihm noch kein Wort davon, denn es ist besser, er erfährt erst später davon.« – »O, ich will ihm gewiß nichts davon sagen, wenn Sie meinen, daß es besser sei, Schweigen darüber zu wahren.« –

Sie las weiter:

»Mein Leben ist, wie Sie aus meinen Aufzeichnungen ersehen werden, gar nicht glücklich gewesen. Erst als ich Sie gefunden, winkte mir Sonnenschein. Aber daß ich Sie liebe, habe ich Ihnen verschwiegen, und ich sollte es jetzt erst recht, da ich nur eine traurige Erinnerung noch für Sie sein kann, und nichts anderes. Mein Schicksal war so bitter, daß ich immer gemeint habe, es könne Ihnen nur Unglück bringen, wenn Sie sich meiner annehmen.

»Wie beschränkt Ihre Einkünfte sind, weiß ich; auch, wie notwendig es Ihnen wäre, für schlimme Tage ein bißchen Geld auf hoher Kante zu haben. Mehr als die 1500 ersparten Franks, die ich bei einem Bankier deponiert hatte, besitze ich nicht. In meinem Testamente vermache ich Ihnen das Geld, Denken Sie, es käme von einem Bruder, der Sie recht lieb gehabt hat und der nicht mehr am Leben ist . . . Ach, Herr Rudolf,« rief Lachtäubchen, während ihr die hellen Tränen über die Wangen flossen, »so etwas tut doch recht bitter weh: der Herr Germain hat ein vortreffliches Herz, wie man es nur bei wenig Menschen findet. Er ist ein gar lieber, guter Mensch! ein wackrer, edler Freund!«

»Ja, er ist brav und gut,« pflichtete Rudolf bei, »aber er ist, Gott sei gedankt, noch nicht tot, und sein Testament hat zunächst nur den Nutzen, daß es Ihnen offenbart, wie innig er Ihnen zugetan ist.«

Es wurde an die Tür geklopft. Auf Rudolfs Frage, wer da sei, fragte eine heisere Stimme nach Frau Mathieu. Der Klang weckte in Rudolfs Herzen seltsame Erinnerungen. Als er mit dem Lichte zur Tür trat, sah er sich einem Stammgaste der Kaschemme »Zum weißen Kaninchen« gegenüber, dessen vom Laster gezeichnetes Gesicht ihm sofort wieder einfiel. Es war kein anderer als Barbillon, der sich als Fiakerkutscher auszugeben pflegte und der Bakel mit der Eule nach Bouqueval gefahren und vor dem Hohlwege gewartet hatte, der Mörder des Mannes jener unglücklichen Milchfrau, die in Arnouville die Arbeiter gegen Marienblümchen oder – wie sie auch hieß – die Schalldirne aufgehetzt hatte. Rudolf, den er nur ein einziges Mal in der Kaschemme gesehen, erkannte er nicht wieder, mochte er ihn nun vergessen haben oder der andere Anzug ihn unkenntlich machen.

Barbillon sagte, er habe einen Brief für Frau Mathieu, den er ihr nur persönlich abgeben dürfe. Rudolf sagte, die Frau wohne nicht hier, sondern gegenüber. Barbillon klopfte an der andern Tür. Sie wurde augenblicklich geöffnet, und eine korpulente Frau im Alter von annähernd fünfzig Jahren trat mit einem Lichte in der Hand auf die Schwelle. Auf Barbillons Befragen erklärte sie, die Gesuchte zu sein. Barbillon gab ihr den Brief mit dem Bescheide, daß er sofort Antwort bringen solle. Er wollte sie in die Stube hineindrängen, die Frau winkte ihm aber, draußen zu bleiben, öffnete den Brief und las im Schein der Treppenlampe das ihr übergebene Zettelchen. Dann sagte sie mit sichtlicher Befriedigung: »Bestellen Sie nur, es sei alles in Ordnung, und ich würde bringen, was verlangt würde, zur gewöhnlichen Zeit, wie sonst. Bestellen Sie meine allerbesten Empfehlungen an die Dame . . .«

Darauf schloß sie die Tür, und Rudolf trat in Germains Zimmer zurück, von wo aus er Barbillon schnellen Schrittes über den Boulevard eilen sah, zu einem Menschen höchst schäbigen Aussehens, der vor einem Ladenschaufenster auf ihn wartete. Ohne auf die in der Nähe befindlichen Leute zu achten, die ihn hören mußten, rief er dem andern, allem Anschein nach in sehr vergnügter Stimmung zu: »He, Niklas, Schnaps her! Die Alte geht auf den Leim und kommt zur Eule. Mutter Martial wird bei der Sache helfen.« Rudolf erschrak, entschuldigte sich bei dem in seiner Begleitung befindlichen Mädchen und versprach ihr, eine Zutrittskarte zum Gefängnis, in welches Germain gebracht worden war, zu schicken. Mit dem Versprechen, sie bald wieder zu besuchen, ging er, bestieg den nächsten Fiaker und ließ sich nach der Rue Plumet bringen, wo ihn Murph bereits erwartete. Dort schrieb er ohne Verzug an Clemence die folgenden Zeilen:

»Teuerste Frau! – Soeben höre ich von dem unvermuteten Unglück, das Sie betroffen hat. Ich will nicht versuchen, Ihnen das Grauen zu schildern, das mich befallen hat, auch nicht den Kummer, der mich noch erfüllt. Ich muß Ihnen von Dingen Mitteilung machen, die dem schmerzlichen Ereignisse fremd sind, das die Pariser Welt jetzt wie mit einem Alpe bedrückt . . . Eben hörte ich, daß Ihre Stiefmutter, die wohl seit ein paar Tagen in Paris weilt, mit Polidori heut abend nach der Normandie abreisen will. Ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, welche Gefahr hierdurch für Ihren Vater erwächst. Lassen Sie mich zu einem Schritte raten, der sich als nützlich und heilbringend erweisen wird: Jedermann wird es begreiflich finden, daß Sie nach dem schweren Unglück, das über Sie hereingebrochen, eine Zeitlang Paris den Rücken wenden. Reisen Sie also unverzüglich nach Aubiers, um wenn irgend möglich noch vor Ihrer Stiefmutter dort zu sein. Im übrigen verhalten Sie sich ruhig, vor allen Dingen keine Befürchtungen! Halten Sie sich versichert, daß ich über Sie wache, ob Sie mir fern sind oder nah . . . Ihre Stiefmutter soll ihre schändlichen Pläne nicht durchführen . . . Leben Sie wohl, gnädige Frau! Ich schreibe in der höchsten Eile. Wenn ich an gestern Abend denke, droht mir das Herz zu brechen; verließ ich den Toten nicht in einer so ruhigen, fröhlichen Stimmung, wie kaum je vorher?

Rudolf.«

Drei Stunden später befand sich Frau von Harville, Rudolfs Rate gemäß, auf der Fahrt nach der Normandie, in Gesellschaft ihrer Tochter. Aus Rudolfs Palais fuhr zur gleichen Zeit auf der gleichen Straße eine Extrapostkutsche. In der übergroßen Hast ihrer Abreise hatte Frau von Harville unglücklicherweise vergessen, Rudolf davon in Kenntnis zu setzen, daß sie in dem Gefängnisse von Saint-Lazare Marienblümchen gefunden habe. Nun hatte aber Jakob Ferrand, in Sorge darum, daß sein Verbrechen an den Tag kommen könne, alle Ursache, für schnelles Verschwinden des Mädchens, das ihn am schlimmsten bloßstellen konnte, zu sorgen. Bradamanti aber, der ein größeres Interesse hatte, die Frau von Orbigny nach ihrem Landgute zu begleiten, ließ sich durch die Rücksicht auf Ferrand nicht abhalten, mit ihr nach der Normandie zu fahren, sogar, ohne zuvor noch einmal mit Frau Seraphim zu sprechen.

So schien sich das Wetter dräuend über Ferrands Haupte zusammenzuziehen, denn tagsüber war die Eule wiedergekommen, um ihre Drohungen wieder auszustoßen, ja sie hatte zum Beweise dafür, daß sie ernstlich gemeint waren, Ferrand erklärt, daß sich das Mädchen, das einst durch Frau Seraphim an sie verkuppelt worden, unter dem Spitznamen Schalldirne im Weibergefängnisse Saint-Lazare befände, und daß, sofern er nicht binnen drei Tagen 10 000 Franks ausfolge, sie in den Besitz von Papieren gesetzt werden solle, die ihr allen Aufschluß über ihre Geburt, ihre Eltern und Kindheit geben würden.

Ferrand stellte nach seiner Gewohnheit alles in Abrede und jagte das Weib als freche Lügnerin von seiner Schwelle, trotzdem er von den Drohungen sich des Schlimmsten versehen mußte. Es gelang ihm, zufolge der guten Beziehungen, die er zu den Verwaltungskreisen hatte, tagsüber in Erfahrung zu bringen, daß ein Mädchen unter dem Namen Schalldirne wirklich in Saint-Lazare eingeliefert worden sei, sich aber durch ein so mustergültiges Verhalten hervortue, daß ihre Entlassung tagtäglich zu erwarten stände. Daraufhin hatte er sich einen teuflischen Plan zurechtgelegt, den er jedoch ohne Bradamantis Hilfe nicht ausführen konnte, und deshalb hatte Frau Seraphim wiederholt versucht, den Scharlatan zu finden. Als nun abends bei Ferrand über Bradamantis Verschwinden kein Zweifel mehr bestand, besann er sich auf die Familie Martial, die sogenannten Süßwasser-Piraten bei der Brücke von Asnières und wollte nun mit ihrem Beistande das ihm verhaßte und gefährliche Mädchen um die Ecke bringen lassen, und Frau Seraphim mußte sich in seinem Auftrage dorthin begeben.


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