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Clemence stützte die Stirn in die Hand. Tränen standen ihr in den Augen. Ihre Wange brannte vor Scham, und sie vermied – so schwer war ihr die Offenbarung ihres tiefen Leides geworden – Rudolfs Blicke . . . Nach langer Pause begann dieser: »O, jetzt errate ich den Grund von Harvilles Traurigkeit, den ich mir bisher nicht erklären konnte.« – »O, beklagen Sie ihn nicht!« erwiderte die Marquise, »denn nie ist ein Verbrechen mit kälterer Grausamkeit verübt worden!« – »Sie haben recht! Ihre Stiefmutter konnte sich auf so entsetzliche Weise rächen, wenn er über seine Krankheit schwieg: und auch das war von ihm ein Verbrechen!« sagte Rudolf, setzte aber nach einer Weile hinzu: »Doch Geduld! Vielleicht werden auch Sie Ihren Rächer finden!« –
Verwundert über den Ton, in welchem Rudolf dies sagte, fragte die Marquise, wie Rudolf das meine? – »Ich habe fast immer,« erklärte er in demselben Tone, der, je länger sie ihn hörte, sie um so schrecklicher berührte, »das Glück gehabt, böse Menschen, die ich kannte, gestraft zu sehen. Was sagte Ihnen Ihr Mann nach dieser Brautnacht?« – »Er teilte mir unbefangen mit,« erwiderte sie, »daß sich sein Verlöbnis mit den beiden Töchtern anderer Familien nur deshalb zerschlagen habe, weil beide rechtzeitig hinter das Geheimnis seiner Krankheit gekommen seien!« – »Schändlich!« – »Um aus dieser gräßlichen Lage herauszukommen, versuchte ich, bei anderen Männern Liebe zu finden; aber – ich gestehe es – ich habe nur Täuschungen erlebt, die grausamsten Täuschungen, und sinke wieder in das jammervolle Leben zurück, das ich an der Seite meines fallsüchtigen Mannes führe . . . Und heute? Wollte mich nicht heute Harville mit dem Leben büßen lassen, daß ich wieder einmal versucht hatte, glücklicher zu sein, als es mir an seiner Seite möglich ist?« Sie holte tief Atem. – »O, seit diesem schrecklichen ersten Beisammensein leben wir getrennt voneinander. Vor der Welt aber nehme ich alle Rücksicht, die die Schicklichkeit fordert, gegen ihn und habe auch, mit dieser einzigen Ausnahme, noch niemand ein einziges Wort von diesem schrecklichen Geheimnisse gesagt.« – »Wenn der Dienst, Frau Marquise, irgendwelche Belohnung verdient hat,« erklärte Rudolf, »dann würde ich mich durch solchen Beweis von Vertrauen Ihrerseits tausendfach belohnt ansehen. Da Sie mich jedoch um Rat befragen, so . . .« – »Ja, Hoheit, ich bitte darum.« – »So erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Sie sich um einen schönen Genuß bringen, wenn Sie eine Ihrer trefflichsten Eigenschaften nicht zur Geltung bringen, um einen Genuß, der nicht bloß ein Bedürfnis Ihres Herzens befriedigen, sondern Ihnen auch allen häuslichen Kummer fernhalten würde . . .«
»Was meinen Hoheit damit?« – »Daß, wenn Sie sich damit Unterhaltung schaffen wollten, daß Sie den Menschen Gutes erwiesen und gewissermaßen die Rolle der Vorsehung spielen wollten!«
Frau von Harville sah Rudolf verwundert an . . . »Daran habe ich allerdings noch nicht gedacht, Wohltaten zu üben in der Absicht, mir damit Unterhaltung zu schaffen.« – »Und doch bleibe ich bei dem Ausdrucke, den ich gewählt habe,« versetzte Rudolf, »denn er bringt das, was ich sagen will, trefflich zum Ausdruck. Würden Sie hingegen mit mir einen Pakt schließen wollen, um ein paar schwarze Ränke zu zerstören, dann würden Sie rasch erkennen, daß, von der edlen Tat abgesehen, oft nichts merkwürdiger, anziehender, seltsamer, ja zuweilen sogar spaßhafter sein kann als dergleichen mildtätige Abenteuer. Sehen Sie, man empfindet dabei etwa dasselbe, was Sie heute morgen fühlten, als Sie sich nach der Rue du Temple begaben. Der einzige Unterschied ist der, daß Sie heute dachten: erkennt man mich, bin ich verloren; beim Wohltun würden Sie denken: erkennt man mich, so wird man mich segnen. Da Sie aber zu Ihren Tugenden auch die Bescheidenheit rechnen dürfen, so würden Sie auch die schlimmste List aufbieten, um solchem Segen zu entgehen.« –
»O, Hoheit retten mich,« rief Frau von Harville, »wieviel neue Ideen, wieviel trostreiche Hoffnungen wecken Ihre Worte in mir! Ja, Sie haben recht: wenn man sein Herz und seinen Geist damit beschäftigt, daß man sich Armensegen erwirbt, so kommt dies fast auf Liebe heraus, oder es ist mehr als Liebe!« Und nach einer Pause setzte sie hinzu: »Ja, ich trete solch eigenartigem Bunde mit frohem, dankerfülltem Herzen bei und werde, um unsern Roman zu beginnen, schon morgen wieder zu jenen Unglücklichen gehen, denen ich heut morgen nur ein paar Trostworte bringen konnte, denn ein lahmer Junge, der mir auf der Treppe in den Weg lief, benützte meine Unruhe und Herzensangst, mir die Börse zu stehlen, die Sie mir in die Hand gedrückt hatten.«
Rudolf wollte nicht merken lassen, daß ihm die Absicht der Marquise, zu Morels zu gehen, nicht angenehm war, und sagte deshalb vergnügt: »Nun, wenn Sie sich meinem Willen unterordnen wollen, dann bleiben die Morels einstweilen von unseren Plänen ausgeschlossen. Ja, Sie müssen mir versprechen, in dies Haus den Fuß nicht wieder zu setzen, denn ich selbst wohne dort . . .« – »Sie, Hoheit? Aber Sie scherzen!« – »Nein, ich scherze nicht. Es ist freilich bloß eine bescheidene Wohnung zum Preise von nur 200 Franks im Jahr und 6 Franks monatlich für die Reinigung . . . aber meine Nachbarin ist die niedlichste Grisette von ganz Paris, ein Fräulein Lachtaube, und für einen Commis voyageur, der nur 1800 Franks Fixum im Jahre hat, ist das doch keine geringe Annehmlichkeit – nicht?« – »Ihre so unvermutete Anwesenheit in diesem Hause muß mir ja ein Beweis sein, daß Sie die Wahrheit reden. Sicher handeln Sie so aus irgendwelcher guten Absicht, aber welche gute Tat lassen Sie mir? Welche Rolle bestimmen Sie für mich?«
»Die Rolle des tröstenden Engels und – erlauben Sie mir das garstige Wort – die Rolle eines listigen Teufels, denn wie es gewisse Wunden gibt, die nur von weiblicher Hand geheilt werden können, so gibt es auch ein stolzes, mißtrauisches, verstecktes Unglück, das nur durch weiblichen Spürsinn entdeckt werden, durch den unwiderstehlichen Zauber der Weiblichkeit mitteilsam gemacht werden kann.« – »Und wann werden Sie mich in die Lage setzen, diese Eigenschaften zu betätigen?« fragte die Marquise. – »Nach vier Tagen gewähren Sie mir wohl das Vergnügen, Ihnen einen Besuch zu machen?« – »Erst in vier Tagen!« rief Clemence, ohne sich zu verstellen. – »Fassen Sie Mut, Freundin! Ihrem Leben fehlte es bisher an einem Zwecke, Ihnen gebrach es in Ihrem Kummer an einer Zerstreuung. Glauben Sie mir: in der Zukunft werden Sie solche finden, und dann werden Sie vielleicht sogar soviel Trost finden, daß Sie aufhören werden, Ihren Gemahl zu hassen . . . Sie werden mit ihm, wie auch mit Ihrem Kinde Mitleid fühlen lernen. Und was das letztere angeht, so läßt sich wohl, da ich nun den Grund seiner Krankheit kenne, Hoffnung auf Genesung fassen . . .«
»Wäre das möglich?« rief die Marquise gespannt. – »Mein Leibarzt ist zwar unbekannt als Arzt, aber ein sehr gelehrter Mann, der sich lange in Amerika aufgehalten hat. – Ich erinnere mich, von ihm gehört zu haben, daß er verschiedene Sklaven von der schrecklichen Krankheit geheilt hat. Hoffen wir also das Beste!«
Clemence heftete auf Rudolfs edles Antlitz einen Blick unaussprechlichen Dankes; ihr erschien der Mann, der ihr soviel Trost spendete, fast wie ein König.