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Das junge Mädchen, das an dem Portale des Palastes aus dem Wagen der Marquise gestiegen war, schritt jetzt an Murphs Hand durch ein erstes Vorzimmer, das von Dienern in großer Livree gefüllt war, dann durch ein Wartezimmer, wo sich die Kammerdiener aufhielten, dann durch den Vorsaal, wo der Huissier seinen Platz innehatte, endlich durch das große Gemach, das den Kammerherrn vom Dienste und den Adjutanten zum Aufenthalte diente.
Mag sich der Leser die Verwunderung, das Staunen der armen Schalldirne selber ausmalen, die keinen andern Glanz kannte als das bißchen Wohlstand, das sie in der Meierei Bouqueval angetroffen hatte, und die sich jetzt in Zimmern sah, die von Gold und Spiegeln und den herrlichsten Gemälden geradezu strotzten!
Kaum wurden ihre Schritte hörbar, so eilte die Marquise ihr entgegen, nahm sie bei der Hand, schlang einen Arm um sie, wie um sie zu halten oder zu stützen, und führte sie zu Rudolf, der am Kamine stand und außerstande war, auch nur einen Schritt zu tun. Murph seinerseits retirierte, seiner ebenfalls recht unsicher, hinter einen der großen Fenstervorhänge.
Als Marienblümchen sich angesichts des Mannes sah, in welchem sie nicht bloß ihren Retter aus höchster Not und Pein, sondern ihren »Gott« zu sehen meinte, zitterte sie am ganzen Leibe . . . und doch sah sie, daß sein Auge mit stummer Wonne an ihr hing . . .
»Fassen Sie sich ein Herz, mein teures Kind,« sagte die Marquise zu ihr, »und kommen Sie näher! Ihr Freund, Herr Rudolf, hat Sie mit Ungeduld erwartet, ist tiefbesorgt um Sie gewesen und preist jetzt den allgütigen Gott, daß er schirmend seine Hand über Ihnen gehalten hat.«
»Ja, die liebe Frau spricht wahr,« nahm Rudolf jetzt das Wort – doch auch seine Stimme bebte – und nicht bloß seine Stimme, sondern all seine Glieder bebten, »ja, die liebe Frau spricht wahr,« wiederholte er – und nach einer Weile, einer ziemlich langen Weile sprach er weiter: »ich danke ihm, dem gütigen Gott im Himmel droben, aus tiefstem Herzen, daß er Sie beschützt und mir wiedergegeben hat!« – Trotz seines festen Vorsatzes sah er sich gezwungen, das Gesicht abzuwenden denn die innere Bewegung drohte ihn zu überwältigen . . .
Um die Aufmerksamkeit des Mädchens abzulenken, führte Clemence sie zu einem der vergoldeten Sessel und sprach zu ihr: »Liebes Kind, Sie sind noch immer recht schwach! Es möchte wohl besser sein, wenn Sie sich setzten?«
Das schlichte Mädchen fürchtete sich, auf dem schönen Polster Platz zu nehmen. Ihre Befangenheit nahm mehr und mehr zu, die Stimme versagte ihr, sie war schier trostlos, daß es ihr nicht möglich war, ein einziges Wort des Dankes für ihren Freund und Gönner zu finden.
Endlich trat Fürst Rudolf, angespornt durch einen Wink der Marquise, die, auf die Lehne des Sessels gestützt, sich zu Marienblümchen niederbog und eine Hand von ihr in die ihrige nahm, langsamen Schrittes vor und an die andere Seite des Sessels . . . Es war ihm endlich gelungen, die Herrschaft über sich zu gewinnen. Zu dem Kinde, das ihn mit seinem lieben Gesichte ansah, sagte er nun:
»Kind, mein Kind, habe ich dich endlich wieder – O, nie, nie sollst du deine Freunde wieder verlassen! Du sollst vergessen lernen, was du gelitten hast! Gelitten durch meine Schuld!«
»Herr Rudolf hat recht, mein liebes Kind,« nahm die Marquise das Wort, »nicht besser kannst du uns beweisen, daß du uns wirklich liebst, als dadurch, daß du die traurige Vergangenheit vergissest!«
»O, seien Sie versichert, Herr Rudolf und liebe, gnädige Frau,« erwiderte Marienblume, »daß ich mir immer, immer vor die Seele halten werde, daß ich – ohne Sie – doch recht, recht unglücklich gewesen wäre!«
»Wohl, aber wir werden dafür Sorge tragen, daß dir derartige traurige Gedanken nicht mehr kommen werden!« erwiderte Rudolf, »dazu soll dir unsre beiderseitige Liebe keine Zeit mehr lassen! Meine liebe, liebe Marie – denn du weißt wohl, daß ich dir diesen Namen gegeben habe – als du draußen in der Meierei warest –«
»Ja gewiß, Herr Rudolf!« antwortete Marie – wie wir sie hinfort auch nennen wollen – »o, sagen Sie mir, wie geht es der lieben Frau Georges? der guten, lieben Frau, die mir erlaubt hat, sie meine Mutter zu nennen?« – »O, es geht ihr recht gut, recht gut, mein Kind! Aber, Marie, ich habe dir wichtige Nachrichten mitzuteilen.« – »Mir, Herr Rudolf?« – »Jawohl, dir, Kind!« versetzte der Fürst, »denn seit ich dich nicht mehr sah, ist über deine Geburt und über deine Angehörigen viel wertvolle Kunde verlautet.«
»Was sagen Sie? Ueber meine – Familie?« – »Ja, wir wissen jetzt, wer deine Eltern waren, Marie! Man weiß, wer dein Vater ist –«
Rudolf standen die Augen so voller Tränen, als er diese Worte sprach, daß Marie sich ergriffen nach ihm umsah. Zum Glück war es ihm noch rechtzeitig möglich, sein Gesicht abzuwenden.
Ein anderer, bei der allgemeinen Rührseligkeit ein wenig komisch wirkender Vorfall trug auch das seinige bei, Mariens Aufmerksamkeit von Rudolf abzuwenden. Der wackere schottische Squire stand noch immer hinter dem Vorhange und stellte sich, wie wenn er aufmerksam in den Garten hinunter sähe, mußte jetzt aber niesen und sich gleich darauf schnäuzen, denn er weinte wie ein Kind.
»Ja, meine liebe Marie,« sagte nun Clemence, »wir wissen jetzt, wer Ihr Vater ist, und wissen auch, daß er noch am Leben ist . . .«
»Mein Vater noch am Leben!« rief Marie mit einer Stimme, die Rudolfs Mut aufs neue auf eine harte Probe stellte. – Clemence aber fuhr fort: »Sie werden ihn auch bald sehen, liebe Marie, vielleicht sehr bald; dürfen sich aber nicht erschrecken darüber, daß er ein gar vornehmer Herr ist . . . Versprechen Sie mir das?«
»Und meine Mutter?« fragte Marie, heftig erregt, die Frage der Marquise dem Anschein nach überhörend, »werde ich auch meine Mutter sehen?« – »Auf diese Frage wird Ihnen die Antwort Ihr Herr Vater erteilen,« versetzte die Marquise, »Sie würden sich gewiß auch recht innig freuen, sie kennen zu lernen?« – »Ach ja, meine liebe, gute Dame, ach ja!« erwiderte Marie, die Augen niederschlagend. – »Nun, vorerst werden Sie sich begnügen müssen mit dem Vater,« sagte die Marquise tröstend, »und er wird Ihnen, das darf ich aus vollem Herzen sagen, die Mutter ersetzen: so daß Sie sie schwerlich vermissen werden, solange, bis die Zeit es anders fügen wird!«
»Und von dem Tage an, da du deinen Vater um dich hast, wird ein neues Leben für dich beginnen, mein liebes Kind!« setzte der Fürst hinzu – und wieder legte er auf die beiden letzten Worte eine so eigentümlich-innige Betonung, daß alle Anwesenden auf das tiefste ergriffen wurden, und Marie ihm, bangen Zweifels voll, gespannt in die Augen blickte . . .
»Ein neues Leben, Herr Rudolf?« fragte Marie schlicht, »o nein, Herr Rudolf! Hat nicht mein Leben erst begonnen an dem Tage, da Sie sich meiner erbarmten und mich zu der lieben Frau Georges in die Meierei hinaus geleiteten?« – »Aber,« schaltete der Fürst ein, »dein Vater ist dir in inniger Liebe zugetan!« – »Meinen Vater, Herr Rudolf, kenne ich nicht, Ihnen aber verdanke ich alles!« sagte Marie, ihn mit dankerfüllten Blicken betrachtend. – »Also hast du mich ebenso lieb wie deinen Vater, mein Kind? Oder vielleicht lieber noch als ihn?«
»Ich segne und verehre Sie wie den lieben Gott, Herr Rudolf, weil Sie für mich getan haben, was nur Gott allein hätte tun können,« antwortete Marie begeistert und ohne ihre gewöhnliche Schüchternheit. »Als die liebe gute Madame dort im Gefängnis mit mir sprach, habe ich ihr das gesagt, wie überhaupt allen andern auch. Ja, Herr Rudolf, zu Menschen, die so recht unglücklich waren, sagte ich: Hoffet, hoffet; denn ich kenne einen Wohltäter der Unglücklichen, der heißt Herr Rudolf und steht allen Unglücklichen bei. – Zu denen aber, die zwischen Gut und Böse schwankten, sagte ich: Laßt euch nicht von der Sünde locken; denn Herr Rudolf bestraft die Bösen. – Als ich mich dem Tode nahe fühlte, da habe ich bei mir gedacht, Gott wird mich in den Himmel nehmen, denn Herr Rudolf hat mich seiner Güte für wert erachtet.«
Marie hatte ihre Furcht überwunden; eine leichte Röte färbte ihre Wangen, und ihre schönen blauen Augen, die sie wie im Gebet zum Himmel aufschlug, strahlten in mildem Glanze.
Auf Mariens begeisterte Worte folgte eine lange Pause. Alle Anwesenden waren tief ergriffen.
»Ich sehe, mein Kind,« nahm Rudolf endlich das Wort, außerstande, seine Rührung zu verbergen, »daß mir in deinem Herzen die Stelle deines Vaters gehört.«
»Es ist nicht meine Schuld, Herr Rudolf, daß ich meinen Vater nicht kenne,« antwortete Marie und setzte errötend und mit niedergeschlagenen Augen hinzu: »Sie kennen meine Vergangenheit, und dennoch haben Sie mich mit Güte überhäuft. Mein Vater kennt meine Vergangenheit nicht, und vielleicht tut es ihm nachher leid, mich gefunden zu haben,« sagte das unglückliche Kind schaudernd, »denn, wie Madame sagte, ist er ein hochgestellter Herr. Da ist es schon möglich, daß er sich seiner Tochter schämt.«
»Deiner sich schämen?« rief der Fürst, tief ergriffen, »wie kannst du so etwas sprechen? Kind, wie kannst du so sprechen? Nein, nein! Du bist verwandt, blutsverwandt mit Europas Königinnen und wirst hinfort im gleichen Range stehen mit den edelsten Prinzessinnen Europas.«
»Aber, königliche Hoheit!« riefen, wie aus einem Munde, Murph und Clemence, denn beide erschraken über Rudolfs wieder zunehmende Erregung und über die Blässe, die Mariens Gesicht verfärbte.
»Wie kannst du sagen, Kind,« rief Rudolf wieder, noch tiefer ergriffen als vordem, »daß jemand Ursache haben könne, deiner sich zu schämen? O, war ich je stolz auf den mir von Gottesgnaden beschiedenen Rang, habe ich mich je im Bewußtsein, zu den Großen der Erde zu gehören, glücklich gefühlt, so ist dies jetzt der Fall, weil ich dadurch in die Lage gesetzt werde, dich so hoch zu erheben, wie du erniedrigt worden! . . . Hörst du das, mein geliebtes Kind? Begreifst du meiner Worte Sinn, du teure, teure Tochter? Denn ich, Marie, ich bin dein Vater! Ich bin dein Vater!«
Und außerstande, seine Bewegung länger zu verbergen, sank Fürst Rudolf neben dem Mädchen auf die Knie nieder und bedeckte es mit Tränen und Küssen . . .
»Gelobt sei der liebe, liebe Gott!« rief Marie inbrünstig aus, die Hände wie zum Gebet faltend; »nun darf ich meinen Wohltäter so lieben, wie ich ihn immer, immer geliebt habe, so recht innig, so recht von ganzem Herzen! Mein Wohltäter, mein Vater! Ich darf ihn hinfort lieben und verehren wie das gütige Wesen, das aller Menschen Geschicke lenkt! Ich darf ihn verehren und lieben als den gütigen Hüter meines Lebens, der mich bewahrt hat vor dem schlimmsten Elend, vor der schrecklichsten Seelen- und Leibesnot! O du gütiger Gott, wie danke ich dir! wie danke ich dir!«
Aber die Erschütterung war zu stark für das kaum aus schwerer Krankheit genesene Mädchen. Sie hatte kaum das letzte Wort gesprochen, als sie in Ohnmacht sank. Der Fürst fing sie in seinen Armen auf, Murph rannte zur Zimmertür und riß sie auf . . .
»David, David!« rief er, »auf der Stelle herein zu königlicher Hoheit! Auf der Stelle! Es ist schwere Gefahr im Verzuge!«
»Wehe mir!« rief Rudolf, »Fluch über meine Ungebärdigkeit! Ich habe meine Tochter, mein kaum wiedergefundenes Kind in Todesgefahr gejagt!« Schluchzend sank er ihr zu Fußen und bedeckte sie wieder mit Küssen . . . »Höre mich, Marie, mein Kind! Höre, denn dich ruft dein Vater! Vergib, vergib mir, ich konnte es nicht länger mit mir herumtragen, das schwere Geheimnis, konnte es nicht länger in meinem Herzen verschließen! Herrgott, Herrgott! Wie soll ich Ruhe finden, wenn ich sie in den Tod gejagt hätte!«
»Königliche Hoheit, fassen Sie sich!« bat ihn Clemence, »ich meine nicht, daß Ernstliches zu befürchten sein dürfte . . . sehen Sie doch, die Röte ist ja nicht von den Wangen geschwunden. Es ist nur eine leichte Ohnmacht, die sie umfangen hält.«
»Sie ist aber noch immer recht schwach,« erwiderte Rudolf, »und wird es doch vielleicht nicht überstehen! Und dann, dann wehe, wehe über mich!«
Da kam David, der Neger-Arzt, herbeigeeilt mit einem Kästchen voll Phiolen und einem Papiere, das er Murph behändigte.
»David, David,« rief der Fürst, »mein Kind, meine Tochter stirbt! Dir rettete ich einst das Leben. Trage nun deine Schuld ab und rette mein Kind!«
Der Arzt, höchlich verwundert über diese Rede seines Herrn und Gebieters, trat zu dem Mädchen, das in den Armen der Marquise ruhte, befühlte ihren Puls, legte die Hand auf ihre Stirn, drehte sich dann zu Rudolf herum, der bleich und erschrocken auf seinen Ausspruch wartete, und sagte: »Königliche Hoheit! Es ist keine Gefahr vorhanden – Sie dürfen beruhigt sein.« – »David! Sprichst du die Wahrheit?« – »Ein paar Tropfen Aether, königliche Hoheit, und der Anfall wird überwunden sein.« – »David, mein wackrer David, ich danke dir von ganzem Herzen, von ganzem Herzen!« Dann sich zu der Marquise wendend, sprach er weiter: »Clemence, sie lebt – unsre Tochter lebt! Unsre Marie wird uns erhalten bleiben!«
Inzwischen hatte Murph das Papier gelesen, das ihm von David beim Eintritt in die Hand gedrückt worden war. Heftig zusammenzuckend, blickte er den Fürsten entgeistert an . . . »Ja, mein alter wackerer Murph,« wandte Rudolf sich zu ihm, »nicht lange mehr, und meine liebe Marie wird zur Frau Marquise von Harville Mutter sagen dürfen.«
Murph zitterte am ganzen Leibe . . . »Königliche Hoheit,« sprach er, »die Nachricht von gestern bestätigt sich nicht.« – »Welche Nachricht?« fragte der Fürst gespannt. – »Daß Gräfin Sarah tot sei,« erwiderte stockend der schottische Squire, »es war nur eine heftige Krisis, auf die eine Ohnmacht folgte . . . aber der Tod ist nicht eingetreten.«
»Was sprichst du? Die Gräfin . . .«
»Der Arzt hofft, sie zu erretten,« erwiderte Murph, wieder mit stockender Stimme. – »O Gott! O Gott!« rief Rudolf, wie von einem Blitze getroffen. Frau von Harville sah ihn betroffen an.
David, mit Marien beschäftigt, sagte, zur Balkontür tretend und sie öffnend: »Es ist von keiner Gefahr mehr die Rede. Freie Luft wird ihr gut tun. Wir wollen den Sessel auf die Terrasse hinaus schaffen. Dann wird der Ohnmachtsanfall auf der Stelle gehoben sein.«
Murph riß die Tür auf, die auf den terrassenartigen Balkon hinausführte, und rollte zusammen mit dem Arzte den Sessel, auf dem Marie ruhte, hinaus.
Rudolf blieb mit Clemence allein.