Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Drittes Kapitel.

Was die Sängerin zu erzählen hatte

»Wir fangen von vorne an,« sagte der Schuri: »wer sind deine Eltern?« – »Die hab ich nicht gekannt,« sagte das Mädchen. – »Schnurrig, Mädel. Da sind wir von gleicher Familie!« – »Du bist auch Waise, Schuri?« – »Jawohl, von der Straße, wie du, mein Kind.« – »Und wer hat dich erzogen?« fragte Rudolf. – »Weiß ich nicht. Kann nicht weiter zurückdenken, als bis zu meinem siebenten oder achten Jahre. Da bin ich bei einem alten Weibe gewesen, das die Eule genannt wurde.« – »Oho!« rief der Bandit. – »Ja, für sie mußte ich auf dem Pont-Neuf Gerstenzucker feil halten. Brachte ich weniger als zehn Sous mit heim, bekam ich Prügel und nichts zu essen.« – »Die Frau war nicht deine Mutter? Das weißt du bestimmt?« fragte Rudolf. – »Ganz bestimmt! Hat mir das Weib doch oft genug vorgeworfen, ich hätte weder Vater noch Mutter, sondern sie hätte mich auf der Straße aufgelesen. Frühmorgens mußte ich nach Montfaucon hinaus, Regenwürmer zum Angeln zu suchen, denn tagsüber trieb das Weib unter der Notre-Dame-Brücke einen Handel mit Angelruten.« – »Na, bis Montfaucon ists ein derber Weg, der dir aber recht gut bekommen zu sein scheint. Bist ja gerade gewachsen wie eine Tanne,« sagte der Bandit; »und die schmale Kost scheint dir auch ganz gut bekommen zu sein, denn sie hat dir eine Wespentaille geschaffen. Hast also keine Ursache zu klagen!« – »Aber es hat Prügel genug gesetzt, und wenn mich das Weib schlug, bin ich immer beim ersten Schlag umgefallen. Dann hat sie mich mit Füßen getreten und geschrien, ich hätte gar keine Bouillon in den Knochen, so rund und fett wie ich sei. Anders als Balg hat sie mich gar nicht gerufen, das war mein Taufname.«

»Na, mir ists ebenso gegangen. Mich hat man nie anders als Hund gerufen! Komisch, Mädel, wie ähnlich die Dinge doch zwischen uns liegen!« – Das Mädchen, das sich vor Rudolf zu schämen schien, rückte näher zu dem Banditen heran, der sie nun fragte, was sie weiter am Tage getrieben, nachdem sie von Montfaucon zurückgekehrt sei. – »Bis gegen Abend mußte ich betteln,« sagte das Mädchen, »und sobald es mir einfiel, etwas Essen zu fordern, bekam ich allemal Prügel, und wenn mich hungerte, schickte sie mich mit einem kleinen Mäßchen voll Gerstenzucker auf den Pont-Neuf. Ob ich dort vor Kälte zitterte wie Espenlaub, das hat sie nie gekümmert.« – »Schon wieder ganz, wie es mir gegangen ist,« sagte der Schuri, »mir ists ebenso gegangen.« – »Dort mußte ich stehen bis gegen elf. Die Passanten haben mir manchmal ein paar Sous in die Hand gedrückt, weil meine Tränen sie rührten. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an die Prügel. Wenn ich nicht weinte, war die Alte immer außer sich, und um sie recht zu ärgern, lachte ich dann immer aus vollem Herzen, sobald sie zum Schlage ausholte. Abends habe ich, statt Gerstenzucker zu verkaufen, immer gesungen wie eine Lerche, wenngleich es mir wahrlich nicht nach Singen zumute war.« – »Glaubs dir,« sagte Rudolf. – »Einmal fielen, als ich mit Regenwürmern von Montfaucon heimging, Gassenjungen über mich her und raubten mir mein Körbchen. Was meiner wartete, wußte ich: Prügel, aber nichts zu essen! Da hat mich die Alte nicht geschlagen, sondern mich anders gemißhandelt, mir an den Schläfen die Haare ausgerissen, wo es bekanntlich am meisten schmerzt.« – »Sackerment! Das geht ins Aschgraue!« rief der Bandit, mit der Faust auf den Tisch schlagend und die Brauen finster zusammenziehend. »Ein Kind prügeln, geht schließlich noch an; aber Kinder mißhandeln, das ist wider alle Moral!«

Rudolf hatte dem Mädchen aufmerksam zugehört. Die Teilnahme, die der Bandit für das Mädchen fühlte, setzte ihn in Verwunderung.

»So gings noch ein paar Tage. Da kam ich wieder einmal heim mit nur drei Sous Einnahme. Da schrie die Alte: ich fräße alle Tage für sechs Sous, und es fiele ihr nicht ein, mich umsonst noch länger zu füttern. Es war im Winter, und ich hatte bloß eine dünne Leinwandfahne auf dem Leibe, weder Strümpfe noch ein Hemd, bloß Holzschuhe. Die Alte packte mich bei der Hand. Am meisten erschreckte es mich, daß sie nicht fluchte, sondern auf dem ganzen Wege hin bloß zwischen den Zähnen murmelte. In die Rue Mortellerie ging unser Weg nach einem alten, schmutzigen Hause, das eine Schenke hatte. Die Alte ging zu dem Wirte und trank einen halben Liter Schnaps. Das war ihr reguläres Maß. Sie legte sich deshalb auch immer betrunken zu Bette. Ich fiel vor ihr auf die Knie und bat sie flehentlich, mich nicht in schlimmeres Unglück zu bringen. Sie sah mich böse an mit ihrem einen Auge – denn sie war einäugig – und zischte mir giftig zu, sie wollte mir schon zeigen, was man mit solch fauler Kreatur machen müsse, um ihr Lust zur Arbeit zu machen. Sie zerrte mich hinter sich her und eine schmale Stiege hinauf in eine elende Bodenkammer. Dort trat sie zu einem Regale und nahm eine Zange aus einem Fache, womit sie mir – einen Zahn ausreißen wollte, um mich zu quälen und mich häßlich zu machen.« –

Die beiden Männer schrieen so ergrimmt auf, daß die anderen Gäste sich verwundert nach ihnen umdrehten . . . »Und hat sie dir den Zahn wirklich ausgerissen?« fragte Rudolf. – »Freilich,« sagte das Mädchen, »und hat dabei meinen Kopf zwischen ihre Knie genommen und mich festgehalten wie in einem Schraubstocke. Halb mit der Zange, halb mit ihren Krallen von Fingern hat sie ihn ausgerissen und mir dann, um mich recht zu erschrecken, zugeschrieen, sie wolle mir nun, wenn ich weiterhin so faul bliebe, täglich einen weiteren Zahn ausreißen, und wenn ich keinen mehr im Munde hätte, mich in die Seine schmeißen, wo sich die Fische an mir laben sollten.«

Was Rudolf sympathisch berührte, war, daß aus dem Munde des Mädchens kein einziges Wort des Hasses gegen das alte Weib fiel, so Schweres sie auch von ihrer Grausamkeit erduldet hatte.

»Am nächsten Tage,« erzählte das Mädchen weiter, »ging ich nicht auf die Würmersuche nach Montfaucon, sondern flüchtete nach dem Pantheon, und bin den ganzen Tag gelaufen, bloß um recht weit weg von der bösen Frau zu kommen. Ich fürchtete mich zu sehr vor ihr. Die Nacht habe ich unter einem Holzhaufen auf einem Lagerplatze kampiert. Gehungert hats mich schrecklich, ich habe Holzrinde dagegen gekaut, und bin endlich darüber eingeschlafen. Als es Tag wurde und Leute kamen, bin ich tiefer hinein in den Holzstoß gekrochen, wo es ganz hübsch warm war, fast wie in einem Keller. Am andern Tage – ich wagte mich nicht hervor – habe ich wieder Birkenrinde gekaut und wollte wieder einschlafen, als ich Hundegebell vernahm. Ich wurde munter und lauschte. Das Gebell kam immer näher. Dann hörte ich eine Männerstimme. »Es muß doch jemand sich auf dem Hofe versteckt haben. Sonst würde doch mein Hund nicht bellen.« – »Sicher doch Diebe! Wer sonst?« sagte eine andere Stimme. Dann riefen beide Stimmen: »Such, such!« und da ich fürchtete, von dem Hunde gebissen zu werden, fing ich laut zu schreien an. »Höre doch,« sagte die eine Stimme wieder, »das klingt doch ganz, als wenn ein Kind schriee!«

Und nun hörte ich, wie der Hund zurückgerufen wurde. Dann sah ich Laternenschein. Ich kroch aus dem Holzstoße heraus. Ein dicker Mann mit einem Jungen stand vor mir. »Was willst du auf meinem Hofe, Spitzbübin?« fragte er mich. – Ich erzählte ihm, wie schlecht es mir gegangen; er aber rief: »Papperlapap! Ich lasse mir nichts weismachen. Du willst mich bemausen!« Dann befahl er dem Jungen, auf die Polizei zu gehen, besann sich aber und sagte, er wolle mich gleich lieber selbst hinschaffen. Dort sagte ich, daß ich weder Heimat noch Eltern hätte. Ich wurde in ein Besserungshaus gebracht, wegen Vagabondierens, und war den Richtern aus tiefstem Herzen dafür dankbar, denn im Gefängnisse bekam ich zu essen und keine Prügel, lernte auch nähen, war aber faul und sang lieber, statt zu arbeiten.«

»Weil du eben eine geborene Nachtigall bist,« erwiderte Rudolf lächelnd. – »O, Sie sind recht artig gegen mich, Herr Rudolf,« sagte das Mädchen, »und seitdem heiße ich nun die Schalldirne, statt Balg, wie mich die alte Hexe immer nannte. Mit meinem sechzehnten Jahre wurde ich aus der Besserungsanstalt entlassen. An der Tür traf ich die Wirtin mit ein paar andern alten Frauen, die früher schon in der Besserungsanstalt gewesen waren und mit den Mädchen, die mit mir dort waren, auf recht gutem Fuße standen. Sie sagte mir, sie hätte gute Arbeit für mich, wenn ich zu ihr ziehen wollte. Ich dachte aber, du kannst ja nähen, bist jung und willst auch das Leben ein bißchen genießen. In der Besserungsanstalt hatte ich doch soviel gearbeitet, daß ich beim Austritt bare 300 Francs ausgezahlt bekam, und das kam mir vor wie ein Vermögen. Aber das Geld war bald zu Ende. Ich hatte mir ein Stübchen gemietet. Ich bin eine große Blumenfreundin und hatte mir mehrere Stöckchen gekauft, brauchte auch ein besseres Kleid und einen Schal und bin ein paarmal ins Boulogner Wäldchen hinaus auf einem Esel geritten. Als ich noch etwa fünfzig Francs übrig hatte, versuchte ich es mit Näharbeit; aber überall wies man mir die Tür. Drei Tage darauf begegnete ich zufällig wieder der Wirtin und einer alten Frau. Sie hatten mich wohl, seit ich aus der Besserungsanstalt gegangen war, nicht aus den Augen gelassen, ich hatte es wahrscheinlich nur nicht bemerkt. Jetzt wußte ich nicht, wovon ich mein Leben fristen sollte, und so ging ich mit den Weibern mit. Ich bekam nun Schnaps von ihnen zu trinken, und bin so geworden, was ich jetzt bin.«

»Ich verstehe,« sagte der Bandit, »und kenne dich nun.« – »Dir scheint es gar nicht recht zu sein, daß du uns deinen Lebenslauf erzählt hast?« fragte Rudolf. – »Ich habs zum ersten Male in meinem Leben getan,« sagte die Sängerin, »und ein Rückblick in meine Vergangenheit muß mich ja trüb stimmen. Ach, wie schön mag es sein, als ehrlicher Mensch dazustehen.« – »Ehrlich? ehrlich?« rief Schuri, »dann spiele die Posse, versuchs, und du wirst sehen, wie weit du damit kommst.« – »Ehrlich?« sagte das Mädchen, »aber wie soll ich es sein können? Was ich auf dem Leibe trage, gehört meiner Wirtin. Wohnung und Essen bin ich ihr schuldig. Weg von hier kann ich nicht, sie ließe mich auf der Stelle als Diebin festnehmen. So lange ich mich nicht auslösen kann, gehöre ich ihr mit Leib und Seele.« – Ein Schauder überrieselte sie, als sie diese Worte sprach. Dann wandte sie sich zum Schuri und bat um einen Schluck zu trinken . . . »Nein, keinen Wein,« sagte sie, als er ihr das Glas hinhielt, »Schnaps, Schnaps, den kann ich besser vertragen, wenigstens betäubt er schnell.«


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