Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Siebentes Kapitel.

Ein schrecklicher Abend.

Die Gutsdienerschaft saß beim Abendbrote. Vater Chatelain, der älteste, führte den Vorsitz und sprach das Tischgebet, machte nach frommem Brauche das Kreuz über das Brot und schnitt jedem zu, was auf seinen Teil kam. Dann stellte er den Wein auf den Teller, der seinen Platz mitten auf der Tafel erhielt. Da schlugen die Hunde im Hofe an; der alte Schäferhund, der noch das Gnadenbrot bekam und unter dem Ofen lag, knurrte zur Antwort darauf. Im andern Augenblicke wurde draußen geläutet . . . »Es muß jemand am Tore sein,« sagte Vater Chatelain; – »wer kann noch so spät kommen? Sieh doch einmal nach, René!«

Der junge Bursche, dem dieser Name gehörte, ließ mit Bedauern die Suppe im Stiche und ging hinaus . . . »Seit langer Zeit ist es das erste Mal, daß Frau Georges und Jungfer Marie nicht mit uns essen,« sagte Chatelain; »wenn ich auch recht tüchtigen Hunger habe, wirds mir doch nicht halb so gut schmecken, als wenn ich Ihnen gegenüber säße.« – »Frau Georges ist zu Jungfer Marie hinaufgegangen, die sich nicht recht wohl fühlte, als sie von der Pfarrei zurückkam,« sagte Claudine, die Magd, die Marien nach Hause begleitet und so, ohne es zu ahnen, die finsteren Pläne der Eule zu schanden gemacht hatte.

Es verging nur kurze Zeit, so kam René wieder mit der Nachricht, ein armer Blinder mit einem lahmen Jungen stünde draußen, und bäte um ein Obdach für die Nacht. – »Frau Georges ist ja immer so gütig,« sagte Chatelain, »daß sie keinem ein Nachtquartier abschlägt, am wenigsten wohl einem Blinden; aber gesagt werden muß es ihr. Claudine, besorge das!« Dann sagte er zu den Leuten: »Rückt ein bißchen zusammen und stellt noch zwei Teller auf den Tisch: einen für den Blinden und einen für den Lahmen! Es ist doch sicher anzunehmen, daß Frau Georges ihnen die Tür nicht weisen läßt.« – »Bloß über eins wundere ich mich,« sagte René, »daß die Hunde so wütend waren. Besonders Türk war schier außer sich, als die beiden Leute über den Hof geführt wurden. Die Haare bäumten sich bei ihm wie bei einem Igel.«

Claudine kam mit dem Bescheide zurück, daß Vater Chatelain für die beiden armen Leute ein Nachtessen und eine Schlafstelle besorgen solle. Wieder bellten die Hunde draußen, und wieder hörte man Renés Stimme, sie zu beruhigen. Dann ging die Tür auf, und Bakel mit dem lahmen Jungen kam herein . . . »Auf Eure Hunde könntet Ihr aber doch bessere Obacht geben,« sagte Bakel, der vor Schreck an allen Gliedern zitterte; »wenig fehlte, so hätten sie mich zerrissen.« – »Ja, so böse habe ich unsere Hunde noch nie gesehen,« bemerkte René, die Tür hinter sich zumachend, »ob es an der Kälte liegt? Fast wären sie ja mir an den Hals gesprungen!«

Auch den alten Schäferhund mußte Chatelain am Halsbande fassen, denn er war ganz ebenso wild wie die Hunde draußen . . . »Kusch dich, Lysander!« rief Vater Chatelain; »laß die draußen bellen, du aber verhalte dich still!«

Vor Bakels häßlichem Gesicht grauten sich die Leute so, daß sie zum Teil zurückwichen, zum Teil sprachlos stehen blieben. Dem Lahmen entging das natürlich nicht; ihm bereitete es maßlose Freude, da er sich hiervon den besten Erfolg für den geplanten Raub versprach.

»Wärmen Sie sich nur erst ein bißchen am Ofen,« sagte Vater Chatelain zu Bakel, »und dann setzen Sie sich mit uns zum Essen. Komm, Junge, führ deinen Vater her!« – »Vergelts Euch Gott,« sagte der Junge in heuchlerischem Tone; »Vater, komm, aber sieh dich vor, daß du nicht fehl trittst!«

Der Schäferhund war zu dem Blinden herangekrochen und hatte ihn beschnopert. Während er erst nur geknurrt hatte, fing er jetzt greulich zu heulen an. – »Tod und Teufel!« dachte Bakel bei sich; »die verfluchten Biester wittern doch nicht etwa noch Blut? Als ich den Viehhändler umbrachte, hatte ich die gleichen Hosen an.«

»Daß Lysander heult,« sagte René leise, »bedeutet nichts Gutes.« – Aber Vater Chatelain brachte ihn zur Ruhe und fragte dann Bakel, ob sein Sohn lahm geboren sei oder sich nur verletzt habe . . . »Recht schade,« setzte er hinzu, »daß Sie nicht vor drei Wochen schon hergekommen sind. Da war ein Doktor aus Paris da, ein tüchtiger Mann, aus der Rue des Veuves . . . Aber was ist Ihnen denn?« fragte er Bakel, jäh abbrechend, denn ein heftiges Zittern schüttelte den Blinden wieder, und sein Gesicht verzerrte sich zu einer gräßlichen Fratze.

»Wenn Sie der Weg wieder nach Paris führt,« sagte Vater Chatelain, »dann sollten Sie doch einmal zu dem Herrn gehen. Er soll gegen Arme sehr gütig sein. Also Rue des Veuves Nr. 17, Sie finden ihn aber auch, wenn Sie die Nummer nicht behalten sollten, denn Sie brauchen bloß nach dem schwarzen Arzte zu fragen, denn Herr Dr. David ist nämlich ein Neger.«

Bakels Gesicht war von Narben so zerfetzt, daß man sein Erbleichen nicht bemerken konnte. Aber als er die Hausnummer gehört und gehört hatte, daß es ein Negerarzt sei, der hier gewesen sei, da ahnte er, daß es derselbe sein möchte, der die grausame Strafe an ihm vollzogen hatte, deren Folgen er in jedem Augenblick an sich verspürte . . . Zum ersten Mal in seinem Leben beschlich ihn eine Art abergläubischer Furcht, und er fragte sich, ob wirklich Zufall allein ein so merkwürdiges Zusammentreffen bewirkt haben könne.

»Die Meierei ist nicht so, wie sie durchschnittlich sind,« schwatzte Vater Chatelain weiter, »hier gibts wohl alle Tage tüchtig Arbeit, aber auch alle Tage gutes Essen, ein gutes Gewissen und auch ein gutes Bett. Wir sind unser zwar nur sieben Mann, aber Arbeit verrichten wir für vierzehn, werden aber auch ebensogut bezahlt. Unser Herr hat freilich eine ganz besondere Art, sich zu bereichern, ist auch ein ganz besonderer Herr, dem wir alle mit Leib und Seele ergeben sind.«

»Wenn Sie einen so guten Herrn haben,« sagte der Räuber, »wäre dann nicht vielleicht in einem Winkel ein Plätzchen für mich frei für die kurze Zeit, die mein Leben noch dauern kann?« – Vater Chatelain sah den Frager voll Verwunderung an. – »Dazu kann ich freilich nichts sagen,« antwortete Chatelain, »da müßten Sie sich schon an ›unsere liebe Frau von edler Hilfe‹ selbst wenden.« – »An wen?« – »So nennen wir unsre Herrin; verstehen Sie es, sie für sich einzunehmen, so ist Ihre Sache in Ordnung.« – »Versuchen bei ihr will ich es,« rief der Räuber, dem es allen Ernstes darum zu tun war, sich von der Tyrannei der Eule loszumachen. Aber bei dem lahmen Jungen fand seine Freude keinen Widerhall, denn ihm lag am Leben auf dem Lande gar nichts . . . »Aber, Vater,« fragte der Lahme, »die gute Tante, die dich so pflegt und liebt, wirst du doch nicht im Stich lassen wollen? Die liebe Tante Eule! Die käme doch mit dem Vetter Barbillon gleich her, dich wieder abzuholen!« – »Junge, du irrst dich am Ende doch, wenn du dir einbildest, sie könnte mich nicht missen?« – »Aber, wie könnt Ihr so etwas denken, Vater?« erwiderte der Junge, »nein, nein! Tante Eule wäre auf der Stelle da! Sie hat's mir auf die Seele gebunden, alles für dich zu tun!«

»Schon gut, schon gut,« unterbrach ihn Bakel, »das soll mich nicht hindern, morgen früh mit der guten Dame ein paar Worte zu reden; aber Sie wollten mir sagen, wie die Dame heißt?« – »Ach richtig,« antwortete Vater Chatelain, »und warum sollte ich auch mein Wort nicht halten? Aber wenn Sie einen vornehmen Namen erwartet haben, so sind Sie nun freilich im Irrtum, denn unsre liebe Frau von edler Hilfe führt den schlichten Namen Frau Georges, und unser eigentlicher Gutsherr – denn Frau Georges ist nur Pächterin – heißt Herr Rudolf.«

Wenig fehlte, so wäre Bakel vor Schreck in die Erde gesunken . . . Wie ein Blitzstrahl hatten die beiden Namen ihn getroffen . . . »Meine Frau!« murmelte er entsetzt, »mein Peiniger!« – Daß er durch eine zufällige Uebereinstimmung der beiden Namen getäuscht werde, konnte er nicht annehmen, denn Rudolf hatte, bevor er ihn zu der entsetzlichen Strafe verurteilte, zu deutlich der Teilnahme Worte geliehen, die ihn für Frau Georges erfüllte. Sodann bewies ihm doch die Erwähnung des Negerarztes mehr denn genug, daß er sich nicht irrte . . . Das Entsetzen, das ihn packte, schüttelte ihn so, daß er nach einem Halte suchen mußte. Dann aber suchte er nach der Hand des Lahmen und erhob sich . . . »Komm, Junge,« sagte er, »wir wollen gehen, ich will weg von hier. Führe mich hinaus!«

»Was? Jetzt in der Nacht wollen Sie gehen?« fragte Vater Chatelain, »das kann doch Ihr Ernst nicht sein, armer alter Mann?« Und zu dem Lahmen sagte er leise, man müsse ja fürchten, es sei bei dem Vater nicht richtig im Oberstübchen. – Dann sah der Lahme klug auf, seufzte tief und nickte . . . Dann legte er den Finger an die Stirn, zum Zeichen, daß es beim Vater wirklich so sei, wie der alte Oberknecht dächte, und da er keine Lust verspürte, sich um das warme Nachtlager zu bringen, sagte er: »Aber, Vater, schon wieder der häßliche Anfall? Sei doch bloß ruhiger! Wohin sollen wir denn in der kalten Nacht?« Und zu Vater Chatelain gewandt, sagte er: »Nicht wahr, Sie leiden nicht, daß der arme alte Mann sich jetzt noch auf den Weg macht?«

»Hab keine Bange, Kind,« erwiderte Chatelain, »wir machen deinem Vater nicht auf; da kann er ja nicht weg und wird sich drein finden müssen, die Nacht hier zuzubringen.« – »Ich lasse mich zu nichts zwingen,« erwiderte Bakel; »zudem könnte es auch sein, daß ich, da die Frau Georges nur Pächterin ist, dem Gutsherrn zur Last fiele.« – »Dem Gutsherrn?« erwiderte Chatelain, »o, der ist jetzt nicht hier, sondern kommt erst in fünf bis sechs Tagen. Tragen Sie unserer lieben Frau nur immer Ihre Bitte morgen vor, heute wird sie leider nicht mehr herunterkommen, sonst würde sie Ihnen sicher heute schon sagen, daß Sie auf ein Plätzchen rechnen dürfen, und daß sie es auf sich nehmen wird, den Gutsherrn für Sie freundlich zu stimmen.«

»Nein, nein!« rief der Räuber, wieder von Entsetzen geschüttelt, »ich habe mich anders besonnen. Mein Sohn hat recht. Tante Eule wird sich meiner erbarmen. Komm, Junge, wir wollen zur Tante Eule.«

Aber was half es ihm, gehen zu wollen, wenn ihm der Lahme nicht beistand? Und der mochte nun einmal nichts davon wissen, so spät noch auf die Wanderschaft zu gehen. So sehr sich nun Bakel fürchtete, seine Frau möchte ihn, all der Verstümmelungen, die er an sich vorgenommen, ungeachtet, wiedererkennen, und so sehr es ihn infolgedessen von dannen trieb, so mußte er sich doch fügen und bleiben. Aber damit ihn seine Frau nicht sehe, sagte er zu Chatelain: »Auf Ihre Versicherung hin, daß ich weder Ihrem Herrn noch Ihrer Pächterin zur Last falle, will ich das angebotene Nachtquartier annehmen: da ich aber schrecklich abgespannt bin, will ich mich gleich zu Bett legen, aber morgen in aller Frühe aufbrechen,«

»Ich werde den armen Mann eine Strecke fahren,« sagte René, »denn Madame hat mir gesagt, ich solle vom Notar in Villiers-le-Bel im kleinen Wagen Geld holen.« – »Meinetwegen,« sagte Chatelain, »aber du wirst zu Fuße gehen, denn die gnädige Frau hat sich die Sache anders überlegt und meint, es sei mit dem Gelde Zeit bis zum künftigen Montag. Solange kanns also auch beim Notar bleiben.« Zu dem Räuber und dem Lahmen sich wendend, sagte er: »Folgt mir, ich will Euch in Eure Kammer führen.«

Ueber einen langen Korridor ging er ihnen voraus zu einem Stübchen ebener Erde. Dort setzte er den Leuchter auf einen Tisch und ging mit den Worten: »Na, ich denke, hier werden Sie ganz gut schlafen. Möge der liebe Gott Ihnen eine gute Ruhe bescheren!« – Der Räuber setzte sich, in finsteres Sinnen verloren, auf eine Bettkante. Der Lahme ging Chatelain in dem Gange hinterher . . . »Na, was hast du noch auf dem Herzen?« fragte der Alte. – »Ach, lieber Herr, mein Vater leidet oft an Krämpfen in der Nacht. Allein kann ich nicht helfen. Ob mich wohl jemand hört, wenn ich in der Nacht rufen sollte?«

Der alte Diener wies auf eine Tür nahe der Treppe . . . »Da schläft in jeder Nacht jemand,« sagte er; »du brauchst den Mann also nur zu wecken; er wird gleich bei der Hand sein.« – »Ach, lieber Herr, wenn Sie selbst zur Hand sein könnten?« – »Sei nur ohne Sorge!« antwortete Chatelain, »ich muß im andern Part schlafen, kanns also nicht hören, wenn etwas hier vorgeht; aber Jean René ist ein kräftiger Bursche, der wohl einen Ochsen niederschlagen könnte. Solltest du aber noch jemand anders brauchen, dann wecke nur die alte Köchin, die eine Treppe hoch neben unserer guten Herrin schläft. Im Notfälle gibt die schon eine gute Pflegerin ab.« – »Vielen Dank, lieber Herr! Vielen Dank für das Mitleid, das Sie mit meinem armen Vater haben.« –

Mit diabolischer Schlauheit hatte der schlimme Knabe einen Teil derjenigen Nachrichten erfahren, die er im Interesse der Pläne, die Bakel mit der Eule hier verfolgten, in Erfahrung gebracht: er wußte, daß der Teil des Gebäudes, in welchem er die Nacht zubringen sollte, nur von Frau Georges, Jungfer Marien, einer alten Köchin und einem Knechte bewohnt wurde.

»Hast du gehört,« flüsterte ihm der Schulmeister zu, als er hereinkam, »die Leute reden von einem großen Posten Geld, der am Montag hier sein solle. Da könnten wir doch unsre Visite wiederholen! Hier bleiben zu wollen, wäre doch sehr dumm, denn bei diesem gutmütigen Bauernvolk hielte ich es in Zeit von acht Tagen nicht mehr aus.« Mit maßloser Wut setzte er hinzu: »Ja, ein guter Fang winkt uns hier, aber wenn es auch nicht der Fall wäre, so käme ich doch wieder, in Gesellschaft der Eule, um mich an dem Weibe zu rächen, das ganz ohne Frage jenen Schurken von Rudolf wider mich gehetzt hat . . . An ihm kann ich mich nicht rächen, aber an meiner Frau kann ich es, und werde ich es! Sie soll mir büßen für alles, und müßte ich Feuer ans Haus legen und mich unter den Trümmern begraben lassen, so täte ich es, täte es auf jeden Fall!«

»Na, was meinen Sie, Alterchen, wenn ich Sie zu der Tür führte, die in ihr Zimmer geht?« fragte der Lahme; »ich weiß, wo es liegt, ja, ich weiß es.« – »Was? Du weißt, wo ihr Zimmer liegt?« rief Bakel mit grimmiger Freude. – »Ja, und noch mehr: die Hauptsache ist, daß hier in dem Haustrakt bloß ein einziger Mann schläft; ich weiß, wo seine Tür ist; der Schlüssel steckt draußen . . . Knack! Den Schlüssel herumgedreht, und der Mann ist eingesperrt!«

»Wer hat dir das alles gesagt?« fragte der Räuber, unwillkürlich aufstehend. – »Ich weiß noch mehr,« sagte der Junge wieder, »neben der Stube Ihrer Frau Gemahlin schläft eine alte Köchin. Wieder knack! Den Schlüssel herumgedreht, und auch die sitzt hinter Schloß und Riegel! Dann sind wir Herren im Hause, haben Ihre Frau und die junge Mamsell im Sack, können sie beide abmurksen oder entführen, ganz wie Euer Gnaden bestimmen.«

Bakel schwieg geraume Zeit. Dann sagte er mit gräßlicher Ruhe und entsetzlicher Aufrichtigkeit: »Höre mich an! Noch habe ich Leben genug in mir. Was sind Gefängnis, Bagno, Guillotine im Vergleich zu dem, was ich heut morgen erlitten! Und so wird es immer um mich stehen. Komm, führe mich zu der Tür, hinter der meine Frau schläft. Ich will sie erstechen. Was frage ich danach, ob ich dadurch mein Leben verwirke? Wenn ich bloß weiß, daß ich meine Rache gekühlt habe! – O, wenn du wüßtest, was ich leide, so hättest selbst du Mitleid mit mir! Ists mir doch, als müßten mir alle Adern im Kopfe springen! – Komm,« bat er den Jungen mit fast flehender Stimme, »führe mich hin zu der Tür, hinter der ich mein Weib finde! Alles, alles was sich dort befindet, soll dir dafür gehören!« – »Altes Ungeheuer!« rief der Lahme mit einem Ausdruck von Verachtung, Unwillen und Abscheu, der seinem frechen Gesicht einen Anstrich von Ernst gab, »ich soll der Stiel zum Beile sein? Nein, lieber ließe ich mich totschlagen, ehe ich Sie zu Ihrem armen Weibe führte.«

»Dann gib das Licht her,« schrie der Räuber, wie von Sinnen, »damit ich ein Feuerchen anstecke, durch das ihr alle zusammen in Flammen aufgeht!« – »Hahaha! Hahaha!« lachte der Lahme, »hätte man dir nicht die Lichter ausgeblasen, dann könntest du sehen, daß wir gar keins da haben!« – Bakel seufzte, stöhnte, streckte die Arme von sich und stürzte seiner vollen Länge nach mit dem Gesicht auf den Boden. Unbeweglich blieb er liegen . . . »O, das ist mir nichts Neues, Alterchen,« rief lachend der Lahme, »du willst mich bloß zu dir locken, damit du mir eins auswischen kannst! Wenns dir zu langweilig wird, platt auf der Erde zu liegen, dann wirst du schon wieder aufstehen.« – Und barfuß, das Licht mit der Hand verdeckt haltend, schlich Rotarms Sohn sich auf den Gang, um von den Schlössern der vier Türen, die auf den Korridor hinausführten, Wachsabdrücke zu nehmen.

Als er damit fertig war und wieder in die Stube zurücktrat, lag Bakel noch immer auf den Dielen. Nun wurde der Junge doch ängstlich und legte das Ohr auf den Rücken des Räubers. Noch atmete er, und darum glaubte der Lahme, der Räuber brüte noch immer über einer List. Aber nur ein Zufall hatte Bakel vorm Tode bewahrt: der Zufall, daß er auf das Gesicht und auf die Nase gestürzt war und infolgedessen stark geblutet hatte. Jetzt versank er in jenen Zustand, halb Schlaf, halb Wahnsinn, der häufig auf epileptische Anfälle folgt, und hatte einen seltsamen, gräßlichen Traum:

Er sah sich wieder in dem Hause der Allée des Veuves, und Rudolf vor sich, sah sich wieder in dem Zimmer, worin er die gräßliche Strafe erlitten hatte, und in dem Zimmer war nichts verändert: Rudolf saß an dem Tische, rechts von ihm stand der Neger, links, vor Bestürzung ganz außer sich, Schuri. Wie Raubvögel unbeweglich über dem Opfer schweben, es gleichsam durch einen Zauber bannend, bevor sie es zerreißen, so schwebt auch über ihm eine riesige Eule mit dem Kopfe der Einäugigen, die ihr rundes, grünlich schillerndes Auge nicht von ihm wendet . . . Wie man im Dunkel, wenn man sich daran gewöhnt, langsam die Gegenstände unterscheiden lernt, die man zuerst kaum gesehen, so erkennt auch Bakel, daß ihn ein großer Blutsee von dem Tische trennt, an dem Rudolf sitzt . . .

Dieser starre Richter wächst langsam zu Riesengröße, mit ihm der Neger und Schuri. Bis zur Zimmerdecke hinauf wachsen sie, die sich im selben Verhältnis hebt, wie sie wachsen . . .

Bald aber verwischt sich dieses Bild. Aus der bewegten Oberfläche steigt, wie mephitischer Dunst aus einem Sumpfe, bleicher Nebel auf, und mitten darin sieht Bakel bleiche Gespenster und Mordszenen auftauchen, bei denen er selbst die führende Rolle spielt.

Zuerst sieht er einen kleinen Greis mit kahlem Scheitel, der einen braunen Rock anhat und über den Augen einen grünen Schirm trägt. Er sitzt in einer Stube an einem Tische und zählt beim Schein einer Lampe Goldstücke, die er zu Häufchen formt. Durch das von einem bleichen Mondstrahl erhellte Fenster, vor dem sich die Wipfel von Bäumen schaukeln, erblickt Bakel sich selbst, sein böses Gesicht an die Scheiben pressend. Jeder Bewegung des kleinen Greises folgt er mit blitzenden Augen. Dann drückt er eine Scheibe ein, reißt ein Fenster auf, stürzt sich auf sein Opfer und stößt ihm ein langes Messer tief in den Rücken zwischen den Schultern . . . so rasch, so sicher, daß die Leiche des Alten auf dem Stuhle sitzen bleibt, ohne sich im geringsten zu rühren . . .

Er will das Messer zurückziehen. Es widersteht allen Anstrengungen. Und wie die Klinge seines Dolches im Leibe seines Opfers festsitzt, so sitzt auch seine Hand fest am Griffe des Dolches. Da hört er auf den Fliesen des Nebenzimmers Sporen klingen und Säbel klirren . . . Näher, und näher kommt das Geräusch. Der Schlüssel wird im Schlosse herumgedreht. Die Tür geht auf . . . Und darauf verschwindet die Vision, aber über ihm schwebt die Eule, schlägt mit den Fittichen und kreischt: »Der alte Richard in der Rue du Roule . . . dein erster Mord! Mörderchen! Mörderchen! Mörderchen!«

Der Nebel zerteilt sich. Ein ander Bild! . . . Der Tag will grauen. Tot am Wege liegt ein Viehhändler. Die zertretene Erde, der aufgerissene Rasen lassen erkennen, daß das Opfer verzweifelten Widerstand geleistet hat. Der Mann hat fünf Wunden in der Brust. Er ist schon tot, und noch immer pfeift er seinen Hunden und ruft laut: »Hierher, Karo, Flink, hierher!« – Und wieder schlägt die Eule, über ihm schwebend, mit den Fittichen, äfft das Röcheln des Sterbenden nach, lacht wieder fünf Mal grell hintereinander und krächzt:

»Der Viehhändler aus Poissy – dein zweiter Mord! – Mörderchen! Mörderchen! Mörderchen!«

Abermals deckt sich die Oberfläche des Blutsees mit Nebel: diesmal ist er grünlich und transparent, scheint einem mit Wasser gefüllten Kanale ähnlich zu sehen . . . Zuerst sieht man das Kanalbett mit dickem Schlamme bedeckt, der aus unzähligen, mit bloßem Auge nicht unterscheidbaren Reptilien besteht, die sich aber, wie unter einem Mikroskope, vergrößern und entsetzliche Gestalten annehmen, die zu riesenhaften Verhältnissen anwachsen.

Ein Körper plumpst ins Wasser, das ihm ins Gesicht spritzt . . . Aus einer unendlichen Menge von Blasen, die an die Wasserfläche emporsteigen, sieht er jäh eine Frau aufsteigen, die sich gegens Ertrinken wehrt . . . Dann sieht er sich selbst und die Eule, ein Kästchen in schwarzer Leinwand schleppend, vom Kanale hinwegrennen: aber den Todeskampf des Opfers, das er und die Eule in den Kanal geworfen haben, erblickt er von Phase zu Phase . . .

Und wieder schwebt über ihm die Eule und flattert mit den Flügeln, und wieder kreischt sie ihm zu: »Die Frau aus dem Kanale Saint-Martin! – Dein dritter Mord! – Mörderchen! Mörderchen! Mörderchen!«

Eine kräftige, feierliche Stimme ertönt: die Stimme Rudolfs. Bakel erbebt vor Entsetzen. Er lauscht. Die Stimme ist nicht mehr zornig, sondern traurig . . . »Armer Elender,« sagte er zu Bakel, »für dich hat die Stunde der Reue noch nicht geschlagen; wann sie schlagen wird, weiß Gott allein. Noch ist das Maß deiner Verbrechen nicht voll, die Strafe für deine Verbrechen nicht voll. Du magst gelitten haben, hast aber nicht gebüßt. Das Werk der Gerechtigkeit wird durch das Schicksal vollendet. Die deine Mitschuldigen waren, sind deine Quäler geworden, denn ein Weib und ein Kind demütigen dich und foltern dich. Durch neue Missetat wolltest du dich betäuben. In greulichem Blutdurst gehst du mit dem Plane um, dein Eheweib zu ermorden. Sie weilt hier, unter dem gleichen Dache mit dir, schläft ohne Schutz in einer Stube, nur wenige Schritte entfernt: du kannst ohne Hindernis zu ihr gelangen, nichts kann sie deiner Wut entreißen, nichts als deine Ohnmacht, deine Blindheit. Was du eben geträumt, könnte, sollte dir eine Lehre sein, könnte dir zur Rettung sein. Was deiner wartet,« schloß Rudolf, »ist ein Schicksal so entsetzlicher Art, daß sich keine schwerere Strafe aussinnen ließe, und wenn du büßen solltest für alle Verbrechen aller Menschen! Wehe, wehe über dich! Das Fatum will, daß du die gräßliche Strafe vernimmst, die deiner wartet, ohne daß du das Geringste tun kannst, ihr zu entgehen . . . Vernimm also deine Zukunft . . .«

Da war es dem Räuber und Mörder, als hätte er das Licht seiner Augen wiedererlangt . . . er schlug die Augen auf . . . er sah . . .

Doch was er sah, machte auf ihn einen so furchtbaren Eindruck, daß er einen schrillen Schrei ausstieß und aus dem entsetzlichen Traume auffuhr, der ihn verfolgte . . .


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