Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Achtes Kapitel.

Die letzte Toilette vorm Tode.

Es war eine wunderliche, aber dabei höchst grauenvolle Hantierung. Wenn man die Männer mit den langen, dünnen Fesseln, die im Schatten kaum kenntlich waren, beobachtete, wie sie, ohne ein Wort zu sprechen, die Delinquentin geschwind und gewandt banden, da machten sie ganz den Eindruck von Spinnen, die ihr Opfer umschnüren, bevor sie es verzehren.

Ebenso geschwind fesselte der Nachrichter mit dem andern Knechte die alte Frau, aber in ihren Zügen zeigte sich nicht die leiseste Veränderung. Nur hin und wieder ließ sie ein leichtes Hüsteln vernehmen. Sobald die beiden dem Tode verfallenen Geschöpfe außer stand gesetzt waren, ein Glied zu rühren, zog der Henker eine Schere aus der Tasche und schor erst der Witwe das Haar . . . Als sie den Kopf nicht tief genug hielt, bat er sie höflich, sich noch zu bücken. – Sie tat es und antwortete:

»Na, ich dächte, wir wären gar gute Kunden von Ihnen, Herr. Erst haben Sie meinen Mann unter der Schere gehabt, nun komme ich, dann meine Tochter an die Reihe! Wie wird Ihnen denn eigentlich ob solcher Treue zu Mute?«

Ohne die Frau einer Antwort zu würdigen, faßte der Henker ihr Haar mit der linken Hand und schor es ganz kurz, vornehmlich in der Nackengegend.

»O, heut wird mir der Kopf zum dritten Male im Leben frisiert: das erste Mal wars, als ich zur Kommunion nach der Firmelung ging; da wurde mir der Schleier angesteckt. Zum zweiten Male wars bei meiner Hochzeit mit Martial: da wurde mir der Brautkranz aufgesetzt. Nicht wahr, Sie – Todeskandidaten-Friseur?«

Der Nachrichter gab keine Antwort. Das Haar der Delinquentin war starr und hart. Daher kam es, daß die Schur ziemlich viel Zeit in Anspruch nahm, und daß der Henker kaum zur Hälfte fertig war, als der Tochter schon der Kopf ganz kahl rasiert war.

»Was meinen Sie wohl, mein Lieber, was mich jetzt beschäftigt?« fragte die Witwe den Nachrichter, als sie einen Blick auf ihre Tochter geworfen hatte.

Der Nachrichter schwieg wie immer. Nur das Knirschen der Schere war hörbar, zuweilen noch etwas wie Schluchzen oder Röcheln, das hin und wieder die Brust des dem Tode verfallenen Mädchens hob.

Auf dem Gange erschien wieder ein Geistlicher und sprach mit dem Gefängnisdirektor leise ein paar Worte . . . Es galt einen letzten Versuch, die Seele der Witwe ihrer Verstocktheit zu entreißen.

»O, daran denke ich,« fuhr die Witwe fort, ohne sich dadurch, daß ihr keine Antwort zuteil wurde, irritieren zu lassen, »daß mein Mädel vor fünf Jahren noch das allerhübscheste Ding war, das man weit und breit vor Augen kriegen konnte . . . Sie war eine gar niedliche Blondine und hatte ein Gesicht wie Milch und Blut . . . Wer ihr damals wohl gesagt hätte, daß sie Ihnen noch einmal unter die Finger geraten werde!« – Ein paar Augenblicke schwieg sie. Dann setzte sie noch hinzu: »Das Leben ist doch eine – gar zu drollige – Komödie!«

Die letzten Haarbüschel fielen vom Haupte der Verurteilten.

»So! Nun wären wir fertig,« sagte der Henker höflich wie vordem.

»Vielen Dank für die artige Behandlung,« antwortete die Witwe, »und nun erlauben Sie mir wohl, Ihnen recht freundliche Behandlung auch meines Sohnes Niklas anzuempfehlen, der Ihnen doch gewiß auch demnächst unter die Schere kommen wird!«

Da sagte ein Fron dem Nachrichter leise ein paar Worte ins Ohr. Die Witwe jedoch fuhr ihn barsch an . . . »Nein! Auf keinen Fall! Ich habe doch schon wiederholt mich dagegen verwahrt und gesagt, daß ich kein Wort von all dem Salbader hören mag!«

Der Geistliche, zu dessen Ohren die Worte gedrungen waren, schlug die Augen zum Himmel auf und faltete die Hände. Dann entfernte er sich wieder.

»Wir wollen nun aufbrechen,« sagte der Nachrichter, »möchten Sie gar nichts zu sich nehmen?« fragte er noch.

»Nein, vielen Dank!« versetzte die Witwe; »warum soll ich mir den Geschmack an der Erde verderben, womit man mir heute abend den Schnabel schon stopfen wird?«

Sie stand auf. Die Hände waren ihr auf dem Rücken zusammengebunden. Eine ziemlich lose Schnur hielt auch ihr die Füße zusammen, doch so, daß sie gehen konnte. Der Nachrichter und einer seiner Knechte wollten sie stützen, trotzdem ihr Gang fest und sicher war. Aber sie machte eine ungeduldige Bewegung und sagte mit gebieterischer Stimme:

»Laßt mich ungeschoren, nachdem Ihr mich geschoren habt! Ich bin gut zu Fuße und sehe auch noch scharf. Auf dem Schafott wird man sich überzeugen, daß ich auch noch ein gut beschlagenes Mundwerk habe . . . Um Worte der Reue zu reden, dazu werde ich es schwerlich brauchen . . .«

Die Witwe verließ zwischen dem Henker und einem Knechte die Zelle. Die Tochter mußte von zwei anderen Knechten auf dem Sessel hinausgeschleppt werden.

Als man über den langen Gang hinweg war, ging es eine Steintreppe hinauf, die in einen Außenhof führte. Die Sonne übergoß die hohen weißen Mauern, die den Hof einschlossen, mit ihrem warmen, goldnen Lichte. Der Himmel war blau, die Luft war lau und lind. Es war ein prächtiger Frühlingsmorgen . . .

Im Hofe stand ein Gendarmerie-Pikett aufmarschiert. Vor ihnen hielt ein Fiaker, daneben ein langer schmaler Wagen mit gelbem Kasten, mit drei Pferden bespannt, die lustig mit ihren Glöckchen klingelten und hie und da auch lustig wieherten.

Die Delinquentinnen mußten einsteigen. Auf einem Tritt wie in einem Omnibus ging es zum Wagen hinauf. Ein Verschlag wie beim Omnibus wurde aufgeklappt und, als alles eingestiegen war, zugeklappt. Diese ähnliche Beschaffenheit bewog die Witwe zu einem letzten Spotte . . .

»Na, hier wird der Schaffner gewiß nicht sagen, der Wagen sei – voll!« Und als sie es gesagt, kletterte sie so gewandt, wie es die Fesseln ihr erlaubten, den Tritt hinauf . . .

Die Tochter wurde in den Wagen gehoben und der Mutter gegenüber gesetzt. Dann wurde der Verschlag geschlossen . . .

Der Kutscher war eingenickt. Der Henker rüttelte ihn . . .

»O, nichts für ungut,« sagte der Kutscher und sah verschlafen auf, »es ist doch Mittfasten heute. Da hat man die ganze Nacht hindurch zu kutschieren, und wenn man zu dieser Zeit einnickt, kanns einem niemand verdenken . . . Ich habe gerade erst eine fidele Gesellschaft heimgebracht. Sie hatten mich auf Zeit gedungen  . . . und fast wäre ich für Sie überhaupt nicht – gefahren!«

»Schon gut, schon gut!« antwortete der Henker, »fahren Sie hinter dem Wagen dort her! Gerade auf den Boulevard Saint-Jacob!«

»Na, was einem doch nicht alles passiert!« meinte der Kutscher, »vor einer Stunde noch zu Balle, und jetzt zum Papa Gurgelschneider! Es ist gar kurios im Leben, manchmal gar zu kurios!«

Die beiden Wagen, von Gendarmen eskortiert, fuhren im Trabe aus dem Tore von Bicêtre hinaus und im Trabe auf der Straße nach Paris entlang.


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