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Mit einem krampfhaften Ruck richtete sich die Tochter in die Höhe. Dann rief sie: »Schon! Schon! Sollte uns der Herrgott noch schärfer strafen wollen, indem er uns die allerletzten Minuten noch verkürzt?« – Und ihr Gesicht begann sich auf grauenhafte Weise zu verzerren . . .
»Ei,« rief höhnisch die Alte, »wenn die Uhr des Henkers vorgeht, desto besser für uns! Mir kann dein Beten und Kopfhängen ja doch nur Schande machen.«
Ein Beifron trat ein und sagte mild: »Frau! Ihr Sohn ist draußen – wollen Sie ihn sprechen?«
Die Witwe rührte kein Glied, sagte aber kurz: »Ja. Ich will ihn sehen.«
Der Fron wandte sich zur Tür . . . »Sie können kommen,« sagte er zu einem draußen stehenden Manne, von dem zunächst nur ein finsterer Schatten zu sehen war.
Jetzt trat der Mann ein: es war Martial.
Der Invalide blieb in der Zelle, ja er ließ zur Erhöhung der Vorsicht die Tür offen stehen. In dem halbdunklen Gange, der durch den anbrechenden Tag und durch eine an der Wand hängende Lampe trübe erhellt wurde, waren, teils umherstehend, teils umherhockend, Soldaten und Gefängnisfrone zu sehen.
Martials Gesicht war so bleich wie das seiner Mutter . . . Auf seinen Zügen lag Angst und Abscheu ausgedrückt, die Kniee zitterten ihm unter dem Leibe. Trotzdem er in seiner Mutter eine schwere Verbrecherin kannte, trotzdem er sich nie verhehlt hatte, daß er ihr nie Liebe hatte abgewinnen können, hatte er doch gemeint, ihrem letzten Willen gehorchen zu müssen.
Die Witwe maß ihn, sobald er den Fuß über die Schwelle des Kerkers gesetzt hatte, mit durchbohrenden Blicken. Dann rief sie ihm, wie um heftigen Haß in seinem Gemüte zu wecken, zornig entgegen:
»Du siehst – was man – mit deiner Mutter – mit deiner Schwester vorhat.«
»O, Mutter!« erwiderte der Sohn mit stockender Stimme, »gewiß ist's schrecklich – aber – hatte ich es dir nicht vorher gesagt?«
Zornig biß die Witwe die Lippen aufeinander. Ihr Sohn begriff nicht, was sie von ihm wollte; trotzig fuhr sie deshalb fort:
»Man wird uns umbringen wie deinen Vater!«
»Ach, und ich kann nichts tun,« rief der Sohn, »kann gar nichts tun! Warum hast du, warum hat die Schwester nicht auf meine Warnungen gehört? Dann wäret Ihr nicht hier –«
»Was du nicht sagst?« versetzte die Mutter mit schneidendem Tone, »du meinst also, es geschähe uns nur recht?«
»Mutter!« rief der Sohn.
»Du bist zufrieden also,« fuhr die Mutter fort, »wirst also, ohne zu lügen, sagen können, deine Mutter sei tot? wirst dich ihrer noch im Grabe schämen?«
»Wäre ich ein schlechter Sohn,« warf Martial ein, »dann stünde ich jetzt wohl nicht hier!«
»Bist wohl aus Neugierde gekommen?« fragte die Mutter ironisch.
Martial verdroß die ungerechte Härte der Mutter, und er antwortete barsch:
»Ich bin hier, weil du gewünscht hast, ich möchte kommen.«
»Ach, Martial,« sagte die Tochter, »hätte ich nur auf dich gehört, statt auf die Mutter, dann wäre ich jetzt nicht hier!« Ihre Stimme hatte einen herzzerreißenden Klang, denn es war ihr nicht möglich, ihre Angst und ihr Entsetzen zu verbergen – »deine Schuld ist's, Mutter, und ich – Mutter – ich – verfluche – dich!«
Mit teuflischem Lächeln sagte die Mutter zu ihrem Sohne: »Hörst du, wie sie bereut? wie sie mich anklagt? Freuts dich nicht – he? Freuts dich nicht?«
Ohne zu antworten, trat Martial zu seiner Schwester, die mit der Todesangst kämpfte, und sagte, von Mitleid erfaßt:
»Arme Schwester – aber – nun ist es – zu spät!«
»Die feige Memme zu spielen, dazu ist es nie zu spät,« erwiderte die Mutter mit verbissenem Grimm, »ist das eine Art und Weise! Ist das eine Familie! Zum Glück ist Niklas ausgebrochen – und Franz und Amandine werden, so hoffe ich, dir auch noch einmal ausreißen! Angesteckt vom Bösen sind sie so wie so, und durch Armut werden sie vollends werden, was sie sollen!«
Das Mädchen aber warf, dumpf aufschreiend, beide Arme dem Bruder entgegen und schrie: »O Martial! Sorge für die beiden Kinder! Wenn du es nicht tust, so enden sie sicher wie ich und die Mutter! Der Kopf wird ihnen abgeschlagen werden! Der Kopf!«
»Mag er nur sorgen!« rief die Witwe, vor wilder Freude in die Hände klatschend, »mag er sorgen! Laster und Armut werden stärker sein als er, und es wird ein Tag kommen, da die Kinder Vater, Schwester und Mutter rächen werden!«
Unwirsch versetzte Martial: »Diese grause Hoffnung wird sich nicht erfüllen, Mutter! Denn hinfort haben die beiden Geschwister so wenig wie ich Not und Armut zu befürchten. Meine Braut hat das junge Mädchen gerettet, das Niklas in der Seine ertränken wollte, und die Verwandten des Mädchens haben uns die Wahl freigestellt zwischen einer größeren Geldsumme als Belohnung oder einer geringeren Geldsumme, dafür aber einer Farm in Algier, die sie schon einem andern Manne, dem sie ebenfalls für große Dienstleistungen zu Dank verpflichtet waren, auf eine gewisse Zeit abgetreten hatten, der sie aber nicht hat übernehmen wollen . . . Dafür haben wir uns aber entschlossen, nach Algier zu gehen, wenngleich eine gewisse Gefahr dabei nicht zu verkennen ist. Aber damit haben wir uns abzufinden, meine Braut und ich. Wir reisen morgen mit Franz und Amandinen weg und werden wohl Europa nicht wiedersehen.«
»Verhält sich das wirklich so?« fragte die Witwe voll zorniger Verwunderung.
»Ich lüge niemals,« antwortete Martial barsch.
»Aber heute tust du es, um mich in meiner letzten Lebensstunde noch zu ärgern,« rief die Witwe.
»Mutter! Laß doch jetzt solche Reden!«
»Aus jungen Wölfen werden Lämmer gemacht, nicht wahr? Deines Vaters, deiner Mutter, deiner Schwester Blut soll ungerochen bleiben an denen, die es jetzt vergießen – He? Ist das dein Ernst, du feige Memme?«
»Mutter! Nicht solche Worte in deiner letzten Stunde!« rief Martial, beide Hände wie zum Schwure erhebend.
»Wer Blut vergießt, des Blut soll wieder vergossen werden,« rief die Mutter – »gut dann! Bin ich geköpft, so bin ich quitt mit der menschlichen Sippe.«
»Mutter – kennst du – gar keine – Reue?« rief Martial wieder.
Wild auf lachte die Alte . . . »Reue? Und hätte ich darum dreißig Jahre im Schoße des Verbrechens gelebt? Ist's denn denen, die mich richten, ernst mit Reue? Warum lassen sie mir bloß drei Tage Zeit dazu? . . . Nein, nein! Wenn mein Kopf unterm Fallbeile fällt, soll mein Gesicht noch Wut und Haß ausdrücken.«
Der Schwester Gedanken schienen sich zu verwirren . . . Angstvoll zu dem Bruder aufschauend, murmelte sie: »Bruder – Bruder – hilf mir – führe mich weg von hier – Niklas hat ja auch den Weg zur Freiheit aus diesem Kerker gefunden – hilf mir und führe mich weg! Die Henker kommen! Die Henker kommen!«
Ueber diese Schwäche ihrer Tochter ergrimmt, schrie die Witwe: »Willst du dein jämmerliches Maul halten? Soll ich mich deiner in der letzten Stunde noch schämen? He, du ungeratener Wicht! Rede ihr zu, daß sie mir die Stange hält, wie es sich für sie gehört . . . Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen! Wie will sie sich beikommen lassen, wider den Strom zu schwimmen? Und werden wir nicht gehangen, so werden wir geköpft . . . es kommt doch alles auf eins hinaus . . . und vorbei ist's so oder so in knapp drei Minuten!«
Erschüttert von diesem Auftritte, rief Martial wieder: »Mutter! Mutter! Warum hast du mich hierher bestellt?«
»Weil ich dachte, ich könnte dir noch Haß einimpfen gegen die Menschheit! Weil ich dachte, ich könnte deiner feigen Seele noch Mut einimpfen! . . . Aber bei dir ist nun einmal – das sehe ich ein – für alle Zeit Hopfen und Malz verloren!«
»Mutter! Mutter!« rief Martial, erschreckt über diese maßlose Verstocktheit der Frau, der er das Leben verdankte . . .
»Feiger Hund! Hinweg aus meinen Augen!« zischte die Alte.
In diesem Augenblicke hörte man draußen auf dem Gange Tritte . . . Der Invalide nahm die Uhr aus der Tasche, sah nach, wieviel es an der Zeit sei, und erhob sich . . .
Draußen ging mit hellem Glanze die Sonne auf, einen Strom goldnen Lichtes durch das schmale Fenster im Gange gegenüber der Kerkertür werfend . . .
Die Tür wurde weit geöffnet. Der Eingang war hell beleuchtet . . . Frone brachten Stühle herein. Dann kam der Gerichtsschreiber und sprach mit bewegter Stimme zu den beiden Delinquentinnen:
»Die Zeit ist da!«