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Auf den Schnee, der in der Nacht gefallen war, hatte sich eine empfindliche Kälte eingestellt. Das Pflaster der Straße war fast ganz getrocknet. Das junge Paar schlug den Weg zu dem großen und wunderlichen Kaufhause ein, das schon damals unter dem Namen »Temple« in Paris bestand. Es stand ungefähr in der Mitte der Rue du Temple, unweit von einem Brunnen an der Ecke eines großen Platzes, und bildete ein unregelmäßiges Parallelogramm, das mit einem Schieferdache gedeckt war und durch einen langen Gang, der es in der Mitte und Länge durchschnitt, in zwei ungefähr gleiche Hälften geteilt wurde, die ihrerseits wieder von einer Menge kleiner Seiten- und Quergäßchen nach allen Richtungen hin gequert, aber sämtlich durch das Schieferdach vor eindringendem Regen geschützt wurden. Von neuen Waren war in dem Kaufhause kein Stück zu finden, sondern nur allerhand Altwaren, die von vielen in Kasten streng voneinander geschiedenen Trödlern verkauft wurden. Tuchreste, alte Schuhe, alte Stiefel, Herren- und Damenhüte, Schnuren, Troddeln, Seide, Baumwolle, Zwirn und was sonst von den Frauen zu ihren Handarbeiten gebraucht wird, Herren- und Damen-, auch Kindergarderobe waren auf der einen Hälfte, Wohn- und Wirtschaftsgeräte, Betten, Matratzen, Vorhänge, Ton- und Eisenware auf der andern Seite des Kaufhauses untergebracht.
Kaum hatte das Paar diesen Teil betreten, als es mit allerhand Angeboten sogleich überschüttet wurde. Eine gutmütige, korpulente Verkäuferin sprach sie als junges Ehepaar an. Das gefiel Rudolf, und er sagte zu seiner Begleiterin, daß sie bei Frau Bouvard – so lautete der Name, der auf dem Schilde des Verkaufsstandes stand – die nötige Bettware einkaufen wollten. Lachtaube musterte die ausliegende Ware mit Kennerblicken . . . Frau Bouvard merkte auf der Stelle, daß sie es mit keiner unerfahrenen Person zu tun hätte, und sagte: »Bitte, meine liebe Dame, hier habe ich einen wunderhübschen Gelegenheitskauf: zweimal überzuziehen, ganz funkelnagelneu! Und dann sehen Sie sich doch mal den schönen Wäscheschrank an: ich handle ja in der Regel nicht mit Möbeln, aber die Leute, von denen ich den Schrank habe, mußten ihn aus Not verkaufen, und die Frau mochte sich gerade von dem Schranke gar nicht trennen, der ein altes Erbstück zu sein scheint.«
Rudolf betrachtete den alten Schrank aus Rosenholz jetzt aufmerksamer und gewahrte in der Mitte der mit verschiedenem Holz ausgelegten Klappe einen Namenszug, ein M und ein R mit einer Grafenkrone darüber. Hieraus schloß er, daß der Schrank dereinst einem Gliede der vornehmen Welt gehört haben müsse. Er musterte ihn aufmerksam, zog einen Kasten nach dem andern auf, bis er bei dem letzten sich durch ein zwischen geklemmtes Papier daran behindert sah. Mühsam gelang es ihm endlich, aber nicht wenig erstaunt war er, in dem Hinderungsgegenstande einen Brief folgenden Inhalts zu erkennen:
»Mein Herr! – Nur das allerschwerste Mißgeschick kann mich zu dem Schritte zwingen, den ich jetzt tue. Beim Tode meines Mannes fiel ein Vermögen von annähernd 800 000 Franks an mich, die durch meinen Bruder beim Notar Ferrand hinterlegt wurden. Ich hatte mich mit meiner einzigen Tochter nach Angers begeben. Dorthin sandte mein Bruder mir die Zinsen. Auf welche schreckliche Weise mein Bruder um das Leben kam, ist Ihnen bekannt. Er hatte sich durch unvorsichtige Spekulationen ruiniert und gab sich vor acht Monaten selbst den Tod. Kurz vorher schrieb er mir noch, daß er über die beim Notar Ferrand hinterlegte Summe keine Quittung bekommen habe. Das sei nun einmal bei diesem Notar nicht Brauch, da er auf seinen ehrlichen Ruf sich stütze. Ich würde, sagte mir der Bruder, nur bei dem Manne vorzusprechen brauchen, um alles Geld, was ich brauche, dort abzuheben. Es verging ein Jahr, ehe ich nach Paris kam und mich zu dem Notar verfügte. Sie können wohl denken, daß ich nun mit meinen Mitteln recht knapp war, denn wie schon gesagt, die bei Ferrand hinterlegte Summe bildete mein Gesamtvermögen, und andere Einkünfte hatte ich nicht. Es war indessen nicht früher möglich gewesen, die Reise nach Paris zu unternehmen, und auf Briefe hatte der Notar mir nicht geantwortet. Sie können sich nun meinen Schreck denken, als ich von dem Manne auf meine Frage nach dem Gelde hörte, ich befände mich in einem unentschuldbaren Irrtume, wenn ich meinte, mein Bruder habe bei ihm irgend ein Depot, sondern im Gegenteil bei ihm ein Darlehn von 2000 Franks aufgenommen. Ich war außer mir, fragte, was denn sonst aus der Summe geworden sein könne; der Notar sah mich kalt an und erwiderte, das könne er freilich nicht wissen, da er doch meinen Bruder nicht gehütet habe. Ich war einer Ohnmacht nahe, denn ich wußte mir keinen Ausweg in der gräßlichen Not, in die mich diese Auskunft des Mannes stürzte. Ich erklärte dem Notar, ich könne so etwas von meinem Bruder, der die Redlichkeit selbst gewesen sei, nicht glauben, denn er hätte sich eher selbst alles Geldes entäußert, statt mich und mein einziges Kind in solches Elend zu stürzen. Der Notar blieb bei seiner Behauptung und verwies mich an das Gericht, falls ich in ihn Mißtrauen setzte. Mit dem Tode im Herzen verließ ich den Mann. Was sollte ich wider ihn machen? Ich hatte ja gar nichts in den Händen, weder von ihm, noch von meinem Bruder als dessen Zuschrift, daß er mir das Geld zu sehr hohen Zinsen unterbringen wolle. Geld hatte ich auch nicht mehr, und daß von irgendwelchem Anwalt ohne Geld ein Rat nicht zu haben sei, wußte ich ja doch zur Genüge. Darum mußte ich es lassen, wie es stand und lag, denn einen Prozeß zu führen, war ich nicht imstande, und so blieb mir weiter nichts übrig, als mit meiner Tochter . . .«
Hier brach der Brief ab. Was nun folgte, war so stark durchstrichen, daß es nicht mehr zu entziffern war. Aber unten in der Ecke konnte Rudolf noch die Worte lesen: »an die Herzogin von Lucenay zu schreiben.«
Als er den Brief gelesen hatte, fiel ihm ein, wie niederträchtig sich derselbe Ferrand gegen Morel und dessen Tochter benommen hatte, und es nahm ihn nicht wunder, ihn jetzt auch im Licht eines Betrügers offenbart zu sehen. Anderseits meinte er, daß ihm der Zufall die Spur zu einem Unglück weise, bei dem sich Herz und Phantasie der Marquise von Harville werde betätigen können. Der Brief, den er eben gelesen, und der sicher nicht an die Person abgeschickt worden war, für die er bestimmt gewesen, zeigte auf einen stolzen Charakter, den jedes Ansinnen eines Almosens sicher empören würde. Es galt also hier, List anzuwenden, wenn man Hilfe bringen wollte.
Lachtäubchen riß Rudolf aus seinem Sinnen durch die Worte: »Nun, mein Lieber, ich denke, unsre Schützlinge können zufrieden mit der Einrichtung sein, die wir ihnen besorgen. Jetzt handelt es sich nur noch darum, zu bezahlen, was wir für sie eingekauft haben.« – »Daran solls nicht fehlen, meine Liebe,« erwiderte Rudolf, »aber da fällt mir ein, während ich die Rechnung bei Frau Bouvard abmache, könntest du eigentlich Garderobe für Frau Morel und für die Kinder aussuchen. Was du einkaufst, laß doch hierher bringen. Dann kann ja alles miteinander zu ihnen geschafft werden.« – »Gewiß, gewiß! Du hast ja immer recht! Warte also hier ein bißchen, lange bleibe ich ja nicht; ich kenne zwei Verkaufsstände, wo ich schon wiederholt gekauft habe und immer gut bedient worden bin. Dort finde ich auch alles, was sich für Morels eignet.«
Als sie hinweggeeilt war, meinte Frau Bouvard zu Rudolf: »Das muß man sagen, lieber Herr! Eine recht niedliche Hausgesponsin haben Sie sich ausgesucht. Die versteht ja ihre Sache aus dem ff.« – »Nicht wahr?« erwiderte Rudolf, »ich fühle mich auch wirklich recht glücklich, liebe Frau.« – »Na, und die Gesponsin gewiß auch!« – »Sie mögen recht haben, aber ich möchte nun doch auch wissen, was ich Ihnen schuldig bin,« sagte Rudolf. – »Hm, bis auf 330 Franks hat mich Ihre kleine Madame heruntergedrückt. Was verdiene ich an der Sache dabei noch? Keine fünfzehn Franks! So billig kauft man nämlich heute doch nicht mehr ein, wie es allgemein heißt, trotzdem die Leutchen, von denen ich die Sachen hier gekauft habe, in rechte großer Not waren.« –
»Den Schrank haben Sie wohl auch von ihnen?« fragte Rudolf. – »Allerdings, Herr. Wirklich, wenn man bloß daran denkt, könnte sich einem das Herz im Leibe herumdrehen. Kommt da vorgestern eine junge, hübsche Dame her, aber so bleich und hager, daß man es ihr auf den ersten Blick ansah, daß sie das liebe Leben nicht hatte. Ihre Garderobe war ja sauber, aber stark mitgenommen, aus allem guckte verschämte Armut hervor; sie fragte mich, während ihr die Röte auf die Wangen trat, ob ich zwei vollständige Betten und einen alten Wäscheschrank kaufen wolle, und als ich sagte, ich müßte mir die Sachen doch erst ansehen, bat sie mich, gleich mitzukommen, sie wohne auf der andern Boulevard-Seite, am Kanale des Saint-Martins-Kai. Es war ein gar armseliges Haus, wohin sie mich nun führte; bis in den vierten Stock hinauf! Dort klopfte sie an eine wurmstichige Tür, ein Mädchen von etwa vierzehn Jahren machte auf, die auch so bleich und hager war und ebenso in Trauerkleidern ging wie die ältere Dame. Ich merkte gleich, daß ich Mutter und Tochter vor mir hatte, wenn auch kein Wort zwischen den beiden Frauen gewechselt wurde. Alles, was in der Wohnung vorhanden war, beschränkte sich außer den beiden Betten und dem Wäscheschrank auf ein paar Stühle, einen alten Koffer, eine Kommode und auf ein Paket, das in ein Tuch eingewickelt war. Die ältere Dame bat mich, Matratzen, Betten, Decken und Vorhänge redlich abzuschätzen, und als ich die Tränen in den Augen des jungen Mädchens sah, konnte ich es nicht über das Herz bringen, mein eigenes Interesse scharf wahrzunehmen, sondern tat, wie ich auf Treu und Glauben versichere, mein übriges, und ob ich sonst keine Möbel kaufe, nahm ich doch den alten Sekretär auch mit und habe ihn, wie Sie mir glauben können, über den Wert bezahlt.«
»Nun, liebe Frau, den Schrank kaufe ich Ihnen ab,« antwortete Rudolf. – »Mir solls recht sein, lieber Herr,« sagte die Frau »denn sonst bleibt er mir vielleicht gar auf dem Halse. Als wir handelseins waren, sagte sie zu ihrer Tochter: ›So, Klara! Nun nimm das Paket!‹ . . . Ja, Klara war der Name: ich besinne mich ganz genau. – Dann gab sie mir den Schlüssel zu dem Sekretär, ich sah in ihren Augen eine Träne stehen; mir kam es vor, als ob ihr das Herz dabei blute, sich von dem alten Möbel trennen zu müssen: aber sie tat sich Zwang an, ihre Würde vor mir zu bewahren; ich zählte ihr das Geld auf den Tisch, zusammen 115 Franks, und ging, nachdem ich die Sachen weggeschafft hatte. Seitdem habe ich die Leutchen nicht wiedergesehen.«
»Wie hieß die Dame?« – »Ja, das kann ich nicht sagen.« – »Und wo wohnt sie?« – »Auch das kann ich nicht sagen,« sagte die Frau. – »In der früheren Wohnung muß sie aber doch bekannt gewesen sein?« – »Doch nicht, Herr! Als ich beim Torwart vorbeiging, sagte der: »Ach! Sie haben wohl oben im vierten Stock eingekauft? Na, wenn die armen Menschen sich nicht nur noch ein Leid antun! Vor einer Weile haben sie sich durch das Hinterhaus entfernt, ohne zu sagen, ob sie wiederkommen wollen ober wohin sie sich zu begeben denken. Ich weiß nicht, was aus ihnen noch werden soll.«
Rudolfs Hoffnungen schwanden. Wie sollte er, ohne andern Anhalt als den Namen Klara, den Brief und den darin enthaltenen Hinweis auf die Herzogin von Lucenay erwarten können, die Frau zu finden, von der diese Ausweise herrührten? Nur die Beziehungen, die zwischen der Herzogin und der Marquise bestanden, konnten vielleicht einigermaßen dazu helfen. Er bezahlte die Frau, worauf sie fragte, wohin sie die Sachen bringen solle. Als Rudolf die Hausnummer 17 in der Rue du Temple sagte, rief die Trödlerin, daß sie das Haus ja recht gut kenne.
»Sind Sie schon dort gewesen?« fragte Rudolf. – »Mehr als einmal,« versetzte die Frau; »wohnt doch eine Frau dort, die Geld auf Pfänder leiht, kauft und verkauft und auch sonstige Geschäfte noch mit allen möglichen Leuten macht. Aber was gehts mich an? Ich habe bloß einiges gekauft bei ihr, und bin noch einmal später bei ihr gewesen, um für den jungen Mann, der im vierten Stock wohnte, etwas Mobiliar zu erstehen . . .«
»Wohl Franz Germain? Wie?« – »Ganz recht. Kennen Sie ihn etwa?« – »O freilich! Schade, daß er aus der Rue du Temple gezogen ist, ohne seine neue Wohnung zu sagen. Ich habe schon versucht, ihn ausfindig zu machen, aber ohne Erfolg.« – »Ich meine gehört zu haben, daß er bei einem Notar angestellt sei,« fugte Rudolf. – »Doch nicht gar beim Ferrand?« erwiderte die Trödlerin; »es war doch mit dem jungen Menschen eine gar zu komische Sache: er kam zu mir, ich solle ihm all sein Mobiliar abkaufen; ich machte ihm den Preis, und er ging darauf ein; er mag wohl mit mir zufrieden gewesen sein, denn er kam nach vierzehn Tagen wieder und kaufte sich ein Bett; aber als er bezahlen wollte, fand er, daß er seine Börse vergessen; ich wollte ihm das Bett hinschicken und mir das Geld dabei mitnehmen; er sagte aber, er sei selten zu Hause, ich solle lieber beim Notar Ferrand vorsprechen, wo er nachmittags sicher zu treffen sei; daß er dort angestellt sei, hat er mir nicht gesagt; aber als ich am andern Tage hinging, war er in der Kanzlei und bezahlte mich auf Heller und Pfennig . . . Von einem jungen Menschen ists doch wunderlich, heute sein Mobiliar zu verkaufen und morgen sich wieder neues anzuschaffen.«
Rudolf meinte, den Grund hierfür in dem Bestreben Germains, seine Widersacher von seiner Spur abzubringen, suchen zu sollen, und da er fürchten mochte, daß sie, wenn er umzöge wie andere Leute, leicht seine neue Wohnung erfahren möchten, hielt er es wahrscheinlich für gescheiter, in der alten Wohnung sein bißchen Gerät zu verkaufen und sich in der neuen neu einzurichten. Das Herz krampfte sich ihm vor Freude darüber, daß es ihm endlich gelungen sei, den Sohn von Frau Georges ausfindig zu machen, zusammen, und kaum konnte er es erwarten, ihn ihr in die Arme zu führen. Als Lachtaube mit freudestrahlendem Gesicht zurückkam, und ihm jubelnd zurief: »Sehen Sie, ich habe ganz richtig gerechnet, die Rechnung macht netto 640 Franks, aber nun sind Morels auch eingerichtet wie Patrizier,« – reichte er ihr dankerfüllten Herzens die Hand, gab der Trödlerin ihr Geld und begab sich mit seiner schmucken Gefährtin hinweg.