Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Viertes Kapitel.

Doktor Herbin.

»Sie halten den Kranken für vollständig geheilt?« fragte Frau Georges den Arzt, der sie bis zum Haupttor von Bicêtre begleitet hatte.

»Ja, liebe Frau,« versetzte Herbin, »ich lasse ihn mit gutem Vorbedacht mit seinen Angehörigen zusammen, denn ich rechne, daß diese Wiedervereinigung von gutem Einflusse sein wird. Um alles in der Welt nicht hätte ich ihn jetzt von ihnen trennen mögen. Zudem wird einer meiner besten Assistenten so lange noch bei ihm bleiben, bis alle Gefahr einer Wiederkehr der schlimmen Anfälle für ausgeschlossen gelten darf. Er wird auch bestimmte Weisungen über das Verhalten bei den Angehörigen hinterlassen, das dem Rekonvaleszenten gegenüber beobachtet werden muß. Solange wie ich nicht die vollständige Zuversicht von seiner Genesung besitze, werde ich ihm selbst täglich meinen Besuch machen. Ich nehme ja nicht bloß persönlich innigen Anteil an seinem weiteren Schicksale, sondern bin von dem Geschäftsträger des Herrn Großherzogs von Gerolstein, Königliche Hoheit, beauftragt worden, dem Kranken alle persönliche Sorgfalt zuteil werden zu lassen, die mir Amt und Neigung gestatten.«

Germain sah seine Mutter bedeutungsvoll an, und die Mutter erwiderte den Blick des Sohnes. – »Verbindlichsten Dank, Herr Doktor,« sagte Frau Georges, an der Außenpforte angelangt, »für all Ihre Güte. Es war mir eine Freude, all die Fortschritte zu beobachten, die Ihre Wissenschaft auf diesem Gebiete errungen hat.« –

»Und ich, liebe Frau, fühle mich doppelt beglückt über den Erfolg, der einen so wackeren Menschen den Seinen wieder in die Arme geführt hat.« –

Kurz nachher hatte Frau Georges mit ihren Kindern, Germain und Lachtaube, die Anstalt für Geisteskranke verlassen, zusammen mit ihnen auch Herr und Frau Pipelet. Gerade als Doktor Herbin wieder in den Hof trat, kam ihm ein höherer Anstaltsbeamter entgegen . . . »Lieber Herr Doktor,« sprach dieser ihn an, »Sie haben keine Ahnung davon, welchem Auftritte ich beigewohnt habe . . . Für einen Beobachter wie Sie gäbe das eine unerschöpfliche Quelle für Ermittelungen.« –

»Was für ein Auftritt ist's denn gewesen?« fragte Herbin.

»Nun, es ist Ihnen doch bekannt, daß zwei Weibsbilder in unserm Zuchthause sitzen, Mutter und Tochter, die morgen hingerichtet werden sollen.«

»Ja, das weiß ich allerdings.«

»Nun, solches Uebermaß von Frechheit und Kaltblütigkeit, wie diese Mutter besitzt, ist mir mein Lebtag noch nicht vorgekommen.«

»Sie sprechen doch von niemand anderm als jener Witwe Martial, die sich bereits in der Gerichtsverhandlung so merkwürdig frech und roh benahm? O, das ist ein verteufeltes Weib.«

»Ganz recht!« antwortete der Beamte, »aber lassen Sie sich erzählen, was sich dieses Weib herausgenommen hat! Sie suchte darum nach, mit ihrer Tochter bis zur Hinrichtung die gleiche Zelle zu teilen. Das wurde ihr zugestanden. Die Tochter ist weit weniger verstockt als die Mutter. Je näher ihr letztes Stündlein heranrückt, desto ängstlicher und beklommener wird sie, während die Alte immer rabiater wird. Eben war der Gefängnisgeistliche bei den beiden Weibern, um ihnen die letzten Tröstungen der Religion zu bringen. Die Tochter wollte dem Geistlichen zu Willen sein, die Mutter aber, keinen Moment ihre eiskalte Ruhe verlierend, übergoß ihre Tochter mitsamt dem Geistlichen mit solch maßlosem Spott und Hohn, daß letzterer sich gezwungen sah, die Zelle zu verlassen, waren doch all seine Bemühungen, die rabiate Person zur Vernunft zu bringen, absolut vergeblich.«

»So etwas am Tage vor einer Hinrichtung ist mir allerdings auch noch nicht vor die Augen gekommen.«

»Die Martials sind Leute, die gewissermaßen von einem uralten Fatum verfolgt werden. Der Vater ist auf dem Schafott gestorben, ein Sohn im Zuchthause, ein anderer, ebenfalls zum Tode verurteilt, ist vor ein paar Wochen im Verein mit einigen anderen aus Bicêtre ausgebrochen. Nur der älteste Sohn und zwei jüngere Kinder sind brav geblieben. Und doch hat dieses böse Weib ihren ältesten Sohn, wenngleich er der einzige ehrliche Mensch ist von den Erwachsenen der ganzen Familie, auf morgen zu sich beschieden, um ihm ihren letzten Willen mitzuteilen.«

»Das wird ein schönes Wiedersehen geben!« meinte Doktor Herbin.

»Hätten Sie keine Lust, ihm beizuwohnen?« fragte der Beamte den Arzt.

»Offen gestanden, nein!« antwortete dieser; »Sie kennen meine Ansichten über die Todesstrafe, und mich darin zu bestärken, suche ich nicht nach Gelegenheiten, am wenigsten nach Hinrichtungen. Behält dieses Weib ihren unbändigen Charakter bis aufs Schafott bei, dann beklage ich das häßliche Schauspiel, das dem Volke wiederum gegeben werden wird.«

»Bei dieser Doppel-Hinrichtung berührt mich ein Umstand noch besonders unangenehm, der Tag nämlich, den man dafür festgesetzt hat.«

»Mittfasten meinen Sie?« – »Jawohl, denn da die Hinrichtung früh um sieben stattfindet, läßt sich noch rechnen, daß Scharen von Masken, die sich die Nacht über auf allen möglichen Bällen und Tanzmusiken herumgetrieben haben, dem Delinquentenwagen in den Weg kommen werden.«

»Allerdings, und einen häßlicheren Kontrast wird man sich schwerlich denken können.«

Am andern Morgen, in der fünften Stunde, besetzten verschiedene Militär-Abteilungen, teils Infanterie, teils Kavallerie, die Zugänge von Bicêtre.


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