Johann Gabriel Seidl
Bifolien
Johann Gabriel Seidl

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X.

Türmer und Totengräber.

        Der Türmer in seinem Stübchen
Der saß in finsterer Nacht,
Sah aus nach allen Seiten
Und hielt getreue Wacht.

Er bog sich hinaus zum Fenster
Und sah auf den Friedhof hinab;
Da grub der Totengräber
Beim flackernden Span ein Grab.

»Traun!« – meinte der Türmer droben,
»Der hat wohl ein schaurig Amt:
Zu wohnen unter Toten,
Im Leben zum Tode verdammt;

Von Leichen umduftet zu schlafen,
Auf morschen Gräbern zu stehn,
Und unter Kreuzen zu wandeln,
Und über Knochen zu gehn;

Bei knisternden Brettern der Särge
Zu kochen das karge Mahl;
Bei jedem Schritt erinnert:
Hier ruhst auch du einmal!

Hab' eben nichts zu verlieren,
Bin kein geschreckter Mann;
Doch müßt' ich da unten wohnen,
Wohl käm' ein Grausen mich an.« –

Der Totengräber unten
Setzt eben den Spaten ein,
Da fällt ihm das Licht ins Auge
Von Türmers Fensterlein.

»Traun!« – meint der Totengräber,
»Der hat wohl ein schaurig Amt;
Zu wohnen allein in den Lüften,
Zur Einsamkeit verdammt;

Von Stürmen umbraust zu werden,
Von Raben umkrächzt zu sein,
Aus öder Stube zu starren
Ins öde Dunkel hinein;

Und immer die Glocke zu rühren,
Wenn einer starb im Tal,
Bei jedem Schlag erinnert:
So läutet's auch dir einmal!

Hab' eben nichts zu verlieren,
Bin kein geschreckter Mann,
Doch müßt' ich da droben wohnen,
Wohl käm' ein Grausen mich an.«

 
Zeigerlied.

        Laufe, laufe, lieber Zeiger,
Denn die Stunden sind von Blei;
Freude fliegt wie Flaum vorüber,
Nur der Schmerz will nicht vorbei.
Doch wenn einmal, mich zu heilen,
Lust mir wieder lächeln will,
Dann, verzichtend auf dein Eilen,
Lieber Zeiger, stehe still!

Laufe, laufe, lieber Zeiger,
Denn nicht länger trag' ich's mehr;
Zahl- und geistreich ist der Zirkel,
Doch mich dünkt er flach und leer.
Aber wenn in Freundesrunde
Wort und Wein mich laben will,
Dann, vergessend Zeit und Stunde,
Lieber Zeiger, stehe still!

Laufe, laufe, lieber Zeiger,
Denn der Unmut nistet hier,
Sitzt wie eine Toteneule
In der Einsamkeit bei mir.
Doch wenn oft mein einsam Denken
Sanfte Wehmut teilen will,
Dann, recht lang' sie mir zu schenken,
Lieber Zeiger, stehe still! –

Laufe, laufe, lieber Zeiger,
Denn der Weg ist gar so lang';
Dort erst unter Liebchens Fenster
Ist das Ziel für meinen Gang.
Doch wenn dort durch helle Scheiben
Gruß und Blick mir winken will,
Dann, verlernend dieses Treiben,
Lieber Zeiger, stehe still!

Laufe, laufe, lieber Zeiger,
Lauf, so lang' dir's noch beliebt;
Stunden kommen, Stunden gehen,
Eine nimmt, die andre gibt.
Doch wenn einst dem müden Gaste
Keine Lust mehr munden will,
Dann, mein lieber Zeiger, raste,
Ach – und steh auf immer still!


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