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»Alter Bücherwurm, was starrst du aufs vergilbte Pergament,
Diese Runen zu enträtseln, die das Aug' mit Müh' erkennt?
Buntgewürfelt durcheinander, dicht die Höh' und Breit' entlang,
Stehn sie schwarz und purpurfärbig, wie in Faustens Höllenzwang.«
Und der Bücherwurm, der alte, der sich nicht beirren läßt,
Spricht mit höhnisch klugem Lächeln: »Kennt ihr keinen Palimpsest!
Was aufs reine Blatt ein Meister einst hier schrieb mit hellem Rot,
überschrieb mit Schwarz ein Stümper, – seht, und das ist meine Not!
Ach, was hab' ich auszusondern, wegzulöschen mühevoll
Vom unsel'gen Letternwuste, der die Urschrift überquoll,
Bis sich, wie aus schwarzen Nebeln hell das Morgenrot erglänzt,
Mir des Meisters Schöpfung wieder aus dem Stümperwerk ergänzt!« –
Auch das Buch der Welt ist worden solch ein alter Palimpsest,
Der die helle Schrift des Schöpfers kaum noch mehr erkennen läßt;
Ein Gedicht voll Lieb' und Wahrheit, voll erhabner Menschlichkeit,
War's, von Meisterhand geschrieben auf das reine Blatt der Zeit.
Manchen schönen Spruch enthielt es, manches Lied voll hohem Schwung,
Fromme Sagen und Legenden, Taten der Begeisterung;
Und die Sehnsucht nach dem Ew'gen und der kindlich gläub'ge Sinn
Zogen festigend durchs Ganze, goldnen Fäden gleich, sich hin.
Doch die Menschen überschrieben diese Dichtung kreuz und quer,
Und die Menschen überschreiben sie von Tag zu Tage mehr;
Schwarzgetüncht sind ihre Federn, ihre Züge wirr und kraus,
Und die alten Unzialen flimmern lesbar kaum heraus.
Statt der Liebe, statt der Wahrheit, – wilder Haß und feiler Trug,
Statt der Menschlichkeit– die Selbstsucht, wenig Sprüche – Worte gnug;
Statt der Lieder – Dissonanzen, statt Begeistrung – tolle Hast,
Und die Sehnsucht ist erloschen, und der Glaub' ist abgeblaßt. –
Aber eine Zeit wird kommen, wo man auch im Buch der Welt
Sich des Textes wird erinnern, den des Menschen Hand entstellt,
Wo man suchen wird und sichten, wo man forschen wird und spähn,
Ob, was kaum mehr zu enträtseln, besser nicht, als was zu sehn.
Aber viel wird sein zu sondern, viel zu löschen mühevoll
Vom unsel'gen Letternwuste, der die Urschrift überquoll,
Bis, gleichwie aus schwarzen Nebeln hell das Morgenrot erglänzt,
Sich des Meisters Schöpfung wieder aus dem Stümperwerk ergänzt. |