Johann Gabriel Seidl
Bifolien
Johann Gabriel Seidl

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

Ein altes Lied.

                Das älteste der Lieder war einst neu,
Und tausend Augen wurden feucht dabei,
Und tausend Lippen sangen es mit Lust,
Des seelenvollsten Mitgefühls bewußt.

Der Schlüssel ward's für manches Mädchenherz,
Der Trost im Leid, das Losungswort im Scherz;
Daß einst der Welt zum Ekel werden kann,
Was heute noch entzückt, wer denkt daran?

›Freut euch des Lebens!‹ war ein solches Lied,
Wie selten eins durch alle Länder zieht,
Ein Liedlein ohne Stachel, friedsam, schlicht,
Wodurch so mächtig? wir begreifen's nicht.

So war denn damals dieser schlichte Sang
Auch eines holden Mädchens Lieblingsklang,
Sie summt' und trillert' es den langen Tag,
Den Takt dazu gab ihres Herzens Schlag.

Sie fühlte sich darin erklärt ihr Sein,
Ihr süßes Sehnen, ihre sel'ge Pein,
Und hätt' ihr wer gesagt, es sei nicht schön,
Sie hätt' ihn nimmer freundlich angesehn.

Ihr Freier aber, dem die Muse karg
Nur wenig Tön' in spröder Kehle barg,
Wie quält' und müht' er sich nach Schülerart,
Bis er des schlichten Liedleins Meister ward.

Wie selig unter Liebchens Fenster stand
Bei Nacht er einst, die Zither in der Hand,
Und schickte, siegsgewiß, zu ihrem Ohr
Sein Herz in ihrem Lieblingslied empor.

›Freut euch des Lebens!‹ ist sein Talisman, –
Schon lacht des Lebens Freud' ihn wonnig an; –
Doch ach! dem Tod gefiel das Ständchen nicht: –
Er bricht ein Herz, mit dem ein zweites bricht. –

Dem armen Sänger klingt hinfort der Ton:
›Freut euch des Lebens!‹ wie ein bittrer Hohn,
Und dennoch liebt er ihn und ihn allein,
Und prägt sich tiefer stets ihn, tiefer ein;

Und sitzt im Hause, wo der Wahnsinn wohnt,
Und starrt durchs Eisengitter in den Mond,
Und singt, wenn Ruhe längst in jedem Haus,
›Freut euch des Lebens!‹ in die Nacht hinaus.

Und als er stiller ward, und seit sie ihn,
Geheilt nicht, doch beschwichtigt, ließen ziehn,
Steht er vorm Haus der toten Braut und singt:
›Freut euch des Lebens!‹ – doch kein Fenster klingt.

»Will etwa gar der Bettler,« schmähen sie, –
»Noch Geld für seine alte Melodie!« –
Geld? – Geld? – Einst ging ein Herz ihm auf dabei,
Das alte Lied klingt ihm noch immer neu.

 
Palimpsest.

                        »Alter Bücherwurm, was starrst du aufs vergilbte Pergament,
Diese Runen zu enträtseln, die das Aug' mit Müh' erkennt?
Buntgewürfelt durcheinander, dicht die Höh' und Breit' entlang,
Stehn sie schwarz und purpurfärbig, wie in Faustens Höllenzwang.«Der Höllenzwang des Salomo oder Nostradamus, ein altes Zauberbuch, durch dessen Formeln man sich angeblich die Hölle untertan machen konnte, spielt in der Faustsage eine Rolle.

Und der Bücherwurm, der alte, der sich nicht beirren läßt,
Spricht mit höhnisch klugem Lächeln: »Kennt ihr keinen Palimpsest!
Was aufs reine Blatt ein Meister einst hier schrieb mit hellem Rot,
überschrieb mit Schwarz ein Stümper, – seht, und das ist meine Not!

Ach, was hab' ich auszusondern, wegzulöschen mühevoll
Vom unsel'gen Letternwuste, der die Urschrift überquoll,
Bis sich, wie aus schwarzen Nebeln hell das Morgenrot erglänzt,
Mir des Meisters Schöpfung wieder aus dem Stümperwerk ergänzt!« –

Auch das Buch der Welt ist worden solch ein alter Palimpsest,
Der die helle Schrift des Schöpfers kaum noch mehr erkennen läßt;
Ein Gedicht voll Lieb' und Wahrheit, voll erhabner Menschlichkeit,
War's, von Meisterhand geschrieben auf das reine Blatt der Zeit.

Manchen schönen Spruch enthielt es, manches Lied voll hohem Schwung,
Fromme Sagen und Legenden, Taten der Begeisterung;
Und die Sehnsucht nach dem Ew'gen und der kindlich gläub'ge Sinn
Zogen festigend durchs Ganze, goldnen Fäden gleich, sich hin.

Doch die Menschen überschrieben diese Dichtung kreuz und quer,
Und die Menschen überschreiben sie von Tag zu Tage mehr;
Schwarzgetüncht sind ihre Federn, ihre Züge wirr und kraus,
Und die alten Unzialen flimmern lesbar kaum heraus.

Statt der Liebe, statt der Wahrheit, – wilder Haß und feiler Trug,
Statt der Menschlichkeit– die Selbstsucht, wenig Sprüche – Worte gnug;
Statt der Lieder – Dissonanzen, statt Begeistrung – tolle Hast,
Und die Sehnsucht ist erloschen, und der Glaub' ist abgeblaßt. –

Aber eine Zeit wird kommen, wo man auch im Buch der Welt
Sich des Textes wird erinnern, den des Menschen Hand entstellt,
Wo man suchen wird und sichten, wo man forschen wird und spähn,
Ob, was kaum mehr zu enträtseln, besser nicht, als was zu sehn.

Aber viel wird sein zu sondern, viel zu löschen mühevoll
Vom unsel'gen Letternwuste, der die Urschrift überquoll,
Bis, gleichwie aus schwarzen Nebeln hell das Morgenrot erglänzt,
Sich des Meisters Schöpfung wieder aus dem Stümperwerk ergänzt.


 << zurück weiter >>