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Über fünfzehn Jahre waren vergangen, seit Mario van de Weyer mich gedrängt hatte, diese Biographie zu schreiben. Noch immer waren wir beinahe Nachbarn, aber nun nicht mehr in Paris. Jeder von uns war aus anderen Gründen nach Rom übergesiedelt; er stand mehr als je im Strom der Welt, ich mehr als je abseits. Wir trafen uns selten. Unsere Bekanntschaft war in jene Phase friedlicher Dämmerung eingetreten, wo keiner mehr etwas vom andern verlangt und jede vergangene Episode liebevoll eingehüllt im Zedernschrein der Erinnerung ruht, um bei Gelegenheit einmal, begleitet von dem Duft längstvergangener Zeiten, wieder zum Vorschein zu kommen.
Endlich war ich so weit, daß ich Mario einen rohen Entwurf dieser Blätter schicken konnte, die ich in freien Augenblicken zwischen andern Arbeiten niedergeschrieben hatte. Er wußte, daß ich ebenso wie der Papst keine Einladungen annahm und keine Besuche machte, aber nachdem ich ihm Zeit gelassen hatte, das Manuskript durchzusehen, bat ich ihn, an einem schönen Tage mit mir auf dem Pincio zu frühstücken und mir zu sagen, was für einen Eindruck er davon hätte.
So saßen wir also an einem frühen Nachmittag in der Wärme der schrägstehenden Wintersonne, während Ilex und immergrüne Eichen uns vor dem nackten Glanz des Himmels schützten.
Ich erklärte ihm, wie unsicher ich mich in all den vergangenen Jahren bei diesem Roman – so nannte ich meine Arbeit – gefühlt hätte; ähnlich wie ein alter Schulmeister, der zum ersten Mal zu Pferde sitzt, bald unschuldig berauscht, bald völlig verzweifelt. Es war eben nicht mein Metier. Trotzdem war ich lebendig in den Stall zurückgekehrt und heil aus dem Sattel gestiegen. Ich stand nun wieder mit beiden Beinen auf meinem eigenen Grund und Boden und konnte mit Mario über meinen törichten Ausflug lachen, falls er ihn etwa komisch fand.
Mein Freund lächelte liebenswürdig, machte ein Gesicht, als wisse er nicht recht, mit welcher Bemerkung er anfangen solle, und sagte schließlich gar nichts.
Natürlich konnte er mir nicht geradeheraus raten, das ganze Ding ins Feuer zu werfen, aber ich war neugierig, die Gründe für sein Urteil zu erfahren.
»Zum Beispiel«, sagte ich, »was hältst du von den Charakteren, in erster Linie von deinem? Bist du mit dem Porträt zufrieden?«
»Es ist gar kein Porträt, oder wenigstens ein so geschmeicheltes, daß niemand es erkennen wird. Sie übertreiben mein Glück beim schönen Geschlecht ganz ungeheuer. Ich habe mich gar nicht besonders von andern jungen Schlingeln unterschieden.«
»Du warst mehr Don Juan, als du jetzt wahrhaben willst. Aber du brauchst deine Vergangenheit nicht zu verleugnen. Du bist aus einem Guß, und deine Entwicklung ist ganz natürlich gewesen. Erinnerst du dich nicht mehr daran, daß du einmal zu Oliver gesagt hast, du wolltest Malteserritter werden? Er hielt das für eine bloße Laune, aber du hast deine Sache sogar noch besser gemacht. Die Galanterie eines Gentleman geht leicht in Ritterlichkeit über und die Ritterlichkeit in Religion.«
»Bei der Stellung meines Schwiegervaters am Vatikan«, antwortete er und wurde ein wenig rot, »hat sich die Sache ganz von selbst gemacht.«
»Nein, nein. Das war kein bloßer Nepotismus, sondern mehr ein äußeres Zeichen der inneren Begnadung. Deine moderne Seele saugt allen Saft der Vergangenheit ein, so wie es die moderne Seele des neuen Italien tut, und jede Zukunft, die der Mühe wert ist, wird von Männern deiner Art gemacht werden, nicht von schlappen Intellektuellen und gehemmten Puritanern. Nie wird das Glück denen lachen, die die lebendigen Kräfte der Natur verleugnen. Ihr könnt es ruhig dulden, daß ein alter Philosoph hier und da den Tod vorwegnimmt und möglichst schon in der Ewigkeit lebt. Beim Jüngsten Gericht wird die Wahrheit ja doch triumphieren. Solange aber das Leben währt, ist die Fiktion vielleicht nützlicher als die Wahrheit. Du bist in der großen Tradition zu Hause. Als Gatte der schönen Donna Laura und Vater deiner reizenden Kinder wirst du die Fackel der echten Zivilisation weitergeben; das heißt: hier im klassischen Italien habt ihr Tradition oder Fackeln gar nicht nötig. Ihr habt in euch das Blut, über euch das Sonnenlicht und bleibt der Vergangenheit am besten treu, indem ihr euch selber treu bleibt.«
»Ja, wir sind aufrichtig animalisch. Um aber auf das Manuskript zurückzukommen: Sie verwandeln mich darin, außer daß Sie meine Streiche verherrlichen, auch noch beinahe in einen geistreichen Kerl, was ich nie gewesen bin. Sie legen mir eine Menge guter Aussprüche in den Mund, die von Ihnen selbst oder von Howard Sturgis oder von Ihren Freunden stammen. Dazu lassen Sie uns alle in Ihrem eigenen philosophischen Stil reden, durchaus nicht so, wie wir in Wirklichkeit schwatzen. Die Frauen, die Sie schildern, sind zu intelligent, desgleichen die Männer; in der tatsächlichen Welt sind wir alle ungerecht gegeneinander gewesen und haben uns über uns selbst getäuscht.«
»Gewiß, gewiß«, sagte ich, entzückt, daß der Ball endlich richtig ins Rollen kam. »Ich sehe ja auch kaum einen Menschen, und ich weiß nicht, wie die Leute eigentlich miteinander sprechen. Aber für meinen Zweck macht das gar nichts aus. Wenn ich unbedingt lebenswahr gewesen wäre, so hätte mich die Hälfte meiner etwaigen Leser nicht verstanden. Ich wollte ja kein philosophisches Dokument verfassen, aus dem spätere Altertumsforscher die Dialekte und den Slang des frühen zwanzigsten Jahrhunderts studieren könnten. Ich habe euch alle in der Sprache reden lassen, die mir selbst natürlich ist, so wie Homer alle seine Helden in ionischen Hexametern sprechen läßt. Romane sind Dichtung, Dichtung ist Inspiration, und jedes Wort sollte aus dem Herzen des Dichters, nicht aus dem Mund anderer Leute kommen. Wenn ich hie und da ein charakteristisches Idiom angedeutet habe, so geschah das nicht um des Idioms willen, sondern um des Charakters oder der Stimmung willen. Selbst bei den einfachsten Menschen sind Leidenschaften und Temperamente von verhaltener, kraftvoller Beredsamkeit, die niemals ihren Ausdruck findet, und man braucht alle Mittel der dichterischen Sprache, um auszudrücken, was die Personen wirklich fühlen, nicht was sie möglicherweise sagen könnten. So ist es auch bei den Charakteren. Ich photographiere nicht etwa wirkliche Personen und ändere ihre Namen. Im Gegenteil: da, wo es die Diskretion irgend erlaubt, behalte ich die wirklichen Namen und Schauplätze bei, genau wie Homer. Echte Namen haben eine wundervolle Atmosphäre. Aber ich forme neu, ich belebe neu, ich bilde die Charaktere völlig um. Sie sind Schöpfungen der Phantasie. – Ach, die Phantasie! Wir bestehen alle durch und durch aus Phantasie. Du weißt, wie energisch ich das alte Axiom zurückweise, daß Bilder und Geräusche wirklich in der stofflichen Welt existieren und sich uns irgendwie bemerkbar machen. Sie sind vielmehr Produkte unseres Organismus, Formen der Einbildungskraft, und alle Schätze der Erfahrung sind nichts als Fiktionen, die durch die Einwirkung der stofflichen Dinge hervorgerufen werden. Wie töricht wäre ich also in meinen eigenen Augen gewesen, wenn ich die Bilder, die du und meine andern Freunde in mir hervorgerufen haben, ungenützt gelassen hätte, da mir doch keine andern Farben zur Verfügung stehen, um die Menschheit abzumalen. Aber wenn wir im Grunde nicht alle hellsichtig wären, wie könnten wir dann an andern je Hellsichtigkeit feststellen? Obgleich ein Bild nur ein Bild zu sein braucht, kann es doch mehr oder minder angemessen und richtig sein. Wieviel poetische Wahrheit ist zum Beispiel in dem Bild, das ich von Oliver selbst gebe?«
»Mehr als in dem Bild, das Sie von mir geben. Sie haben ihn gut gekannt. Aber Sie idealisieren ihn und machen ihn zu kompliziert. Für meine Begriffe war er etwas farblos und unentwickelt. Er brauchte eine Menge Zeit, um seine Kräfte zu mobilisieren.«
»Ja«, unterbrach ich ihn, »denn seine Kräfte waren sehr groß, und er zog sie aus einem weiten Feld.«
»Vielleicht. Aber warum machen Sie ihn soviel klüger, als er zu sein schien? Sie verleihen ihm entschieden zu viel Einsicht. In Wirklichkeit war er ziemlich unklar. Es lag eine tiefe Dunkelheit in ihm, eine lange arktische Nacht wie in allen nordischen Menschen.«
»Aber ist die arktische Nacht denn nicht glanzvoll? Und folgt nicht auf die Aurora Borealis ein ebenso langer arktischer Tag? Ich glaube, es gibt keine große Wahrheit, die die sensitiven Nordländer nicht irgend einmal entdecken, nur halten sie an ihren besten Einsichten nicht fest. Sie erkennen nicht den Unterschied zwischen einer großen Wahrheit und einer spekulativen Laune und wandern mit leeren Händen und verwirrtem Kopf wieder in den Nebel hinaus. Was aber Olivers moralische Komplikationen betrifft, so mußt du mir meine Diagnose schon lassen. Er war das Kind eines gealterten, müden Mannes und der Sprößling einer überzüchteten Familie. Von seiner Mutter hatte er nur seine körperliche Größe und die athletischen Fähigkeiten, die bekanntlich nie lange vorhalten. Eine überbürdete, überspannte moralische Veranlagung und eine unerschrockene, aber hilflos-subjektive Fähigkeit zur Kritik – ergibt sich daraus nicht die wahre Tragödie des allerletzten Puritaners? Freilich ist es möglich, daß ich die Tatsachen oft falsch dargestellt habe. Soll ich das Manuskript zerreißen, oder ist es als Erzählung zu brauchen?«
»Als Erzählung können Sie es ruhig veröffentlichen. Es ist völlig Ihre Erfindung, vielleicht steckt sogar eine bessere Philosophie darin als in Ihren andern Büchern.«
»Wieso?«
»Weil Sie hier nicht argumentieren oder irgend etwas beweisen oder kritisieren, sondern ein Bild malen. Das Schlimme bei euch Philosophen ist, daß ihr eure Berufung mißversteht. Ihr solltet Dichter sein, aber ihr besteht darauf, die physikalischen und moralischen Gesetze des Universums festzulegen, und seid böse aufeinander, weil eure verschiedenen Inspirationen sich nicht decken.«
»Du machst mir den Vorwurf, daß ich dogmatisch bin? Verlange ich denn, daß jeder mit mir der gleichen Anschauung sein soll?«
»Sie verlangen es nicht so unverhohlen wie die meisten Philosophen, das gebe ich zu. Aber wenn Sie in Ihrer Philosophie behaupten, daß Sie einen Tatbestand beschreiben, so bekämpfen Sie dabei doch unwillkürlich diejenigen Leute, die anderer Meinung darüber sind oder dem betreffenden Gegenstand überhaupt blind gegenüberstehen. In diesem Roman ist dagegen die Beweisführung dramatisiert, die Ansichten werden menschliche Glaubensrichtungen, und die Darstellung ist um so wahrer als sie nicht behauptet, wahr zu sein. Sie haben irgendwo selbst gesagt – wenn ich es auch vielleicht nicht ganz wortgetreu zitieren kann: Ist das Leben vorüber und die Welt in Rauch aufgegangen, welche Wirklichkeiten könnte dann der Geist in uns ohne Illusion noch seine eigenen nennen, außer den Formen eben der Illusionen, aus denen sich unsere Lebensgeschichte zusammensetzt?«