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Als Oliver eine halbe Stunde später das Häuschen des Schleusenwärters verließ, ging er so hocherhobenen Hauptes, daß er nicht bemerkte, ob der Pfad noch überschwemmt war oder nicht. Seine Gedanken weilten in den Wolken. Seine irdische Person war abgewiesen worden, seine irdischen Pläne waren vernichtet; aber diese Niederlage und Zurückweisung hatte seine Seele aufs wunderbarste befreit. Wen Gott lieb hat, den züchtigt er; mehr als einmal hatte der Pfarrer in seinen Predigten über diesen Text die Segnungen gepriesen, die im Gewande des Unglücks zu uns kommen, falls wir nur nicht zurück nach der brennenden Stadt unserer Eitelkeit schauen, sondern entschlossen mit Gott in die Wildnis hinauswandern. »Wie gut«, dachte Oliver, »daß ich nach Oxford gekommen bin, und daß nun alles geklärt ist. Ich habe Mrs. Darnley einen Scheck über tausend Pfund gegeben. Sie wird ihn morgen früh auf Barclay's Bank bringen und dort ein Konto eröffnen, um mit seiner Hilfe die laufenden Ausgaben zu bestreiten; und sie werden sich nach einem anständigen kleinen Hause umsehen, wo sie leben können, bis der Krieg vorüber ist und alles endgültig geordnet werden kann. So brauche ich überhaupt kein neues Testament aufzusetzen, das alte genügt. Im Fall meines Todes ist reichlich, wenn auch nicht üppig, für sie gesorgt. Ebenso für Bobby, Mario und Irma. Morgen früh kann ich mich ausschlafen.«
Mit einer Miene, als schließe er einen befriedigenden Handel ab und erledige eine geschäftliche Angelegenheit ein für allemal, zog er seine Heiratslizenz aus der Tasche, zerriß sie in kleine Stücke und überließ es dem Wind und dem Regen, die Fetzen in die Dunkelheit zu verwehen.
»Wie?« fragte er sich selbst, etwas bestürzt über seine melodramatische Handlungsweise, »freue ich mich etwa darüber, daß sie mich abgewiesen hat? Bin ich froh, daß der Pfarrer tot ist? War ich froh, als Jim mit seinem Schiff unterging? Nein, das war entsetzlich. Nichts Schlimmeres hätte mir geschehen können. Und doch scheint das alles eine Lösung zu bringen. Die Spannung ist vorüber. Das Spiel ist aus, die Pforten öffnen sich, und nach diesen unnötigen Erschütterungen und Ängsten gehe ich in die Nacht hinaus, in mein wahres Leben, in die unerbittlich eintönige, exakte Welt der wirklichen Dinge. Ich greife auf mein tieferes Ich zurück. Ich bin zwar nach dem blendenden Licht des Theaters noch kaum imstande, die Sterne zu sehen, aber sie sind da; und nach und nach werden sie wieder sichtbar werden, ich werde sie wiedererkennen und jeden bei Namen nennen. Ja, und mit wie viel mehr Verständnis werde ich das jetzt tun, mit wie viel mehr Einsicht in die Verhältnisse, die mich hervorgebracht haben, und in ihre Bedeutung für den unsterblichen Teil meines Ich, den sie nicht hervorgebracht haben. Diese Entdeckung und Erkenntnis meines Selbst erhöht mich. Ich habe mich in Rose vielleicht geirrt, ebenso wie damals in Edith, aber ich habe mich nicht in mir selbst geirrt. Beide mögen nicht die richtigen Frauen für mich gewesen sein, aber sie waren mir die richtigen Symbole für das, was ich brauche, für das, was ich finden muß.
Sollte dies wiederum eine Frau sein? Möglich, aber ich glaube es nicht. Im Grunde kann es nicht eine Frau oder irgend ein einzelnes Ding sein. Es muß die gesamte Vollkommenheit, die gesamte Schönheit, das gesamte Glück sein. Nun sehe ich ein, warum ich in meiner alten Abhandlung über Plato unrecht hatte und warum der Pfarrer den Kopf geschüttelt hat, als ich sie ihm vorlas. Plato sprach dichterisch über eine Liebe, die Inspiration und göttlicher Wahnsinn ist; während ich nüchtern und prosaisch über allgemeines Wohlwollen, über Freundlichkeit und Nächstenliebe sprach. Nun sind Zuneigung und Freundlichkeit wirklich alles, was ich je für die wirkliche Rose und die wirkliche Edith gefühlt habe oder hätte fühlen sollen, und soweit es mit rechten Dingen zuging, konnte ich auch nichts anderes für den wirklichen Jim oder den wirklichen Mario fühlen; doch sobald nur ein Funken Liebe dazukam, sobald ich ihnen erlaubte, mich zu bezaubern oder mir Leid zuzufügen – dann sah ich sie nicht, wie sie wirklich waren, sondern statt ihrer ein Bild, eine Fata Morgana, die aus meiner eigenen Sehnsucht stammte. Mögen sie selbst aus meinem Leben verschwinden, sich verändern, sich als das traurige Gegenteil von dem erweisen, wofür ich sie hielt – das Bild, das ich von ihnen habe, wird sich, losgelöst von ihrer zufälligen Erscheinung, immer mehr verklären und dem Gegenstand meiner tiefsten Sehnsucht immer ähnlicher werden. Die Intuition aber, die von einer tiefen Sehnsucht ausgeht und sich auf ein schönes Bild richtet, ist das, was man Liebe nennt. Und die Tragödie des wahren Liebenden besteht nicht darin, daß er abgewiesen wird, sondern darin, daß er angenommen wird. Es wäre eine unliebsame Entdeckung gewesen, wenn ich, im Glauben meine Rose oder meine Edith geheiratet zu haben, gemerkt hätte, daß ich mich lebenslänglich an eine völlig andere Rose oder Edith gebunden hätte! Ich bin alles, was ich in meinem Leben war, nur zwangsläufig gewesen: Sohn, Schüler, Sportler, Soldat; wenigstens bin ich nicht auch zwangsläufig Ehemann geworden. Oder wenigstens vorläufig noch nicht! Im Augenblick bin ich frei. Frei nicht nur in Hinblick auf Frauen oder Freunde oder Träume von persönlichem Glück. Ich stehe auch diesem Krieg jetzt frei gegenüber, auch meinem späteren Leben in Amerika und allen rivalisierenden philosophischen Systemen und Religionen. Ich kann allem gegenüber – wie auch für Weib und Kind, wenn ich sie je haben sollte – natürliche Zuneigung, Zärtlichkeit und Sympathie empfinden, aber ich werde nie mehr erwarten, daß sie mein ganzes Wesen ausfüllen oder mein wahres Glück bedeuten oder meine Seele bezaubern sollen, wie nur die göttliche Liebe sie bezaubern könnte.
Wie altmodisch, wie klerikal und rhetorisch bin ich doch, daß ich von der göttlichen Liebe rede. Die Leute würden lachen, wenn sie mich hörten. Ich habe zuviel Plotinus gelesen. Die Idee eines göttlichen Wesens als des wahren Gegenstandes aller Liebe ist – genau wie meine falsche Edith und mein falscher Lord Jim es waren – ein Wahnbild, ein geistiges Idol, ein unmögliches Liebesobjekt. Zugegeben; aber je ungeeigneter dieser Gegenstand ist, desto stärker und klarer muß die Kraft in mir gewesen sein, die das Ideal hervorgebracht und mich gezwungen hat, es anzubeten. Diese Kraft in mir ist das Wesentliche, ihr muß ich treu bleiben.
Altmodisch? Ohne Zweifel bin ich altmodisch. ›Weh dir, daß du ein Enkel bist.‹ Ich bin alt auf die Welt gekommen. Mein verhängnisvolles Erbteil ist der Zwang zur Ehrlichkeit, zur Treue, zur Gerechtigkeit. Heutzutage legt man darauf keinen Wert. Die Welt ist voll versklavter Geister, nur stehen sie auf verschiedenen Seiten, und jede Seite kämpft nicht für ihre Befreiung, sondern für die Verallgemeinerung ihrer eigenen Sklaverei. Davon kann ich mich nicht anstecken lassen. Ich konnte im Rugby nur da etwas leisten, wo ich allein stand, und auch beim Rudern nur, wenn ich allein oder Vormann war. Ich bin von Geburt aus in moralischer Beziehung Aristokrat, einzig der Stimme Gottes kann ich gehorchen, das heißt der Stimme meines eigenen Herzens.
Meine Vorfahren sind nach Amerika als Auswanderer in die tiefste Wildnis gegangen, um ein Leben für sich allein zu führen, das reiner und nüchterner sein sollte als das leichtfertige Leben der übrigen Christenheit. Wir wollten uns nicht damit begnügen, Tiere in Kleidern zu sein, die wild oder listig oder beutelüstern oder erwerbssüchtig ihre Tage hinbringen, ja, vielleicht sogar eine Religion erfinden, die sie in ihrer Tierheit bestärkt. Wir wollen auch jetzt nicht Baal opfern, weil es scheint, daß wir gescheitert sind. Wir werden unsere Zeit abwarten. Wir werden uns bücken und untertauchen, bis die Flut vorbei ist und sich über unsern Köpfen ausgetobt hat. Man liebt uns nicht. In der Welt von heute gelten wir für ein verspätetes Phänomen wie Schnee im April. Vielleicht ist es für uns Zeit zum Sterben. Wenn wir widerstreben und uns irgendwo fest anklammern wollen, wie ich es bis jetzt versuchte, dann schüttelt man uns grob ab oder erlaubt uns nur, vernachlässigt und rechtlos dabeizustehen. Wenn wir versuchen, abseits zu leben, wie es mein Vater tat, so werden wir zu harmlosen Schatten.
Da ist zum Beispiel mein Onkel Nathaniel. Die Menschen verhöhnen ihn. Und doch: was für einen richtigen Instinkt hat er sein ganzes Leben hindurch bewiesen, wie tapfer ist er seiner Herkunft treu geblieben. Sagte Tante Caroline nicht, ich hätte Ähnlichkeit mit Onkel Nathaniel? Ja, und ich bin stolz darauf. Natürlich trennt uns ein Altersunterschied von sechzig Jahren, und er ist ein letzter Überrest, eine Mumie, die es irgendwie fertig gebracht hat, am Leben zu bleiben. Ich werde mich nicht in Beacon Street einschließen oder mit vorsichtig abgezirkelten Schritten einhergehen oder schwarze Handschuhe tragen. Aber ich kann mein Inneres ebenso unversehrt bewahren, wie Onkel Nathaniel es tut, unbeirrt vom Ansturm der Welt. Wir wollen nichts anerkennen, was geringer und roher als unser eigenes Gewissen ist. Wir haben uns der Wahrheit geweiht, wir leben angesichts der edelsten Begriffe, die wir uns vorstellen können. Wenn wir so nicht leben können, wollen wir lieber gar nicht leben.
Es hat keinen Zweck, rückwärts zu schauen und zu versuchen, sich auf Kompromisse einzulassen. Da segelt Mario in diesem Sturme fast so lustig einher, als mache es ihm Freude; aber er hat kein Gewissen, es ist ihm gleich, was geschieht oder was wahr ist; er denkt, er sei nicht berufen, danach zu fragen, sondern nur berufen, sich auszuzeichnen, zu lachen und so viele Mädchen wie möglich zu küssen. Seine neuen Freunde haben ihn davon überzeugt, daß ein schönes, heiteres Christentum wieder aufgerichtet werden könne, nur durch die Gewalt von Vorschriften und trügerischer Beredsamkeit; sie glauben, daß sie die Menschheit dahin bringen können und müssen, anständig zu sein, die Künste zu pflegen und sich in angemessenen Zwischenräumen zu bekämpfen, damit sich zeigt, welche Seite die schneidigste ist. Aber die schneidigste Seite wird sich gerade am verhängnisvollsten über sich selbst täuschen; und das Ende dieses Wettkampfes der Schneidigkeit wird zehnmal schlimmer sein als der Anfang, wie wir es schon an diesem Kriege sehen. Der Weltgeist gibt sich damit zufrieden, an der Oberfläche mit Zahlen und Maschinen herumzuspielen, er hat sich im Räderwerk seiner eigenen Erfindungen verfangen, und sein herrlicher Motor ist ihm durchgegangen. Optimisten nennen das Fortschritt. Aber ich will mich nicht darauf einlassen, Dinge zu wiederholen, die falsch sind, oder Dinge zu tun, die nutzlos sind; ich will mir auch nichts Unmögliches versprechen. Entweder die Wahrheit oder nichts.
Aber rebelliere ich nicht am Ende gegen die Wahrheit, indem ich mich weigere, eine anständige Arbeitsbiene zu sein, die um den Bienenstock schwärmt? Was gewinne ich dadurch, daß ich gegen den Stachel löcke? Nichts; und äußerlich betrachtet habe ich auch nie gegen den Stachel gelöckt und tue es auch jetzt nicht. Ich habe mich allen Geboten der Gegenwart unterworfen. Ich habe alle ihre Spiele mitgespielt. Ich spiele jetzt ein entsetzliches Spiel mit. Ich gehe hin, um auf der Seite der Franzosen, die ich nicht gern habe, die Deutschen zu bekämpfen, die ich gern habe. Es ist meine Pflicht. Aber wie könnte ich in meinem Innern ein Sklave sein; wie könnte ich anders als alle diese Täuschungen ablehnen und fühlen, daß solche Pflichten nicht unsere Pflicht und solche blinden Schlachten nicht unsere Schlachten sein dürften?
Und welche Schlachten, welche Pflichten sollte es statt dessen geben? Soll ich nach eigenem Belieben entscheiden, was die Aufgabe der Welt ist? Soll ich irgend ein phantastisches Programm aufstellen und etwa wie der Vetter Caleb Wetherbee behaupten, daß die eigentliche Aufgabe der Welt in irgend etwas besteht, was von der Welt vernachlässigt wird und wovon sie nie gehört hat – etwas, das wunderbarerweise nur mir allein oder der Sekte, zu der ich gerade gehöre, offenbart worden ist? Hat das nicht Ähnlichkeit mit dem Wesen des Pharisäers, der seinen eigenen melancholischen Wahn hätschelt und alle fröhlichen Menschen für verrückt hält? Die Torheit der andern ist eine weniger krampfhafte, weniger künstliche Torheit, es ist die anspruchslose, herdenhafte, schläfrige, wahllose Torheit der Welt. Wenn ich es besser machen wollte, könnte ich es leicht schlimmer machen. Es muß genug sein, daß ich Barmherzigkeit übe, wo ich kann, und mich so viel wie möglich vor jeder schuldvollen Verstrickung bewahre.«
Mit diesen Gedanken drückte Oliver sich in die Ecke seines Eisenbahnabteils und schickte sich zu der trübseligen, einsamen Nachtfahrt nach London an. Er durfte nicht einmal aus dem Fenster schauen. Alle Vorhänge mußten wegen der Zeppelinangriffe zugezogen bleiben. Auf dem Bahnhof hatte er sich noch mit heißer Milch und ein paar Sandwiches gestärkt. Er hüllte sich warm in seinen großen Mantel, in den gleichen Mantel, mit dem er eine Stunde vorher sein undankbares Liebchen umhüllt hatte. Vielleicht war in dieser Wärme, dieser Weichheit noch etwas von der Wärme und Weichheit ihrer Wangen und ihres Busens zurückgeblieben. Er schlug den Mantelkragen in die Höhe und schloß die Augen.