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2

Mrs. Aldens jüngerer Bruder Harry weilte damals als Theologiestudent in Göttingen, wo die lauwarmen philosophischen Strömungen, die der Beredsamkeit Lotzes entflossen, die Wahrheit für frischgeschorene Lämmer temperierten. In dieser Stadt der roten Ziegeldächer und bescheidenen Gärten wohnte Harry im Hause der verwitweten Frau Pastor Schlote, deren älteste Tochter den ausländischen Pensionären deutschen Unterricht erteilte. Es war aber auch noch eine viel jüngere Tochter da: Irma, die kürzlich aus England zurückgekehrt war, wo sie zu Southwold in Suffolk am Mädcheninstitut St. Felix zugleich gelernt und gelehrt hatte. Auch Irma gab bisweilen deutsche Stunden, aber ihr eigentlicher Pflichtenkreis war der Haushalt. Manchmal bediente sie sogar beim Essen, und danach pflegte sie sich, glühend vor Küchenhitze und Stolz auf ihre Leistungen, am Ende des Tisches niederzulassen und von dem Schatz ihrer vielseitigen Erfahrungen, den ihr Reisen und Auslandsaufenthalt beschert hatten, mit Eifer und Genauigkeit mitzuteilen. Sie war glücklich, die vorbildlichste Bereitung von Eierkuchen oder das Tranchieren einer Gans zu beherrschen, und war ebenso glücklich, in den Schönheiten der englischen Literatur und dem glänzenden Leben der englischen Gesellschaft bewandert zu sein.

Das feurige Mädchen und der junge Harry Bumstead fühlten sich bald zueinander hingezogen. Bei einem Sonntagsausflug nach den himmelanstrebenden Ruinen des Schlosses Hochstein kam die Sache zur Entscheidung. Die beiden jungen Leute hatten es als einzige ihrer Gesellschaft unternommen, auf den höchsten restaurierten Turm zu steigen, der den schauerlich-schönsten Aussichtspunkt des Ganzen bildete, als Fräulein Irma plötzlich schwindelig wurde und in Ohnmacht fiel oder wenigstens zu fallen drohte, wobei unmittelbare Gefahr bestand, daß sie in die mehrere hundert Fuß tiefe Schlucht stürzte, in der ein Fluß romantisch zwischen einer Wildnis von Felsen und Gebüschen einherschäumte. So ergab sich für ihren ritterlichen Begleiter, der ein stämmiger junger Mann war, die Pflicht, sie mittels einer kräftigen Umarmung zurückzuhalten und ihr von diesem Adlernest (wie es das Touristenhandbuch nannte) halb tragend, halb stützend herunterzuhelfen.

Der Ausdruck von Vertrauen und Hingerissenheit, mit dem sie langsam die Augen aufschlug, als sie sich wieder in Sicherheit fühlte, während ihr Kopf noch immer an der Schulter ihres Retters ruhte, ließ sein ehrliches Herz über den Stand ihrer Gefühle nicht im Zweifel. Er selbst blieb alles andere als gleichgültig. Ohne daß Irma im üblichen Sinne hübsch zu nennen war, kam sie ihm doch an Körper und Seele engelhaft vor; und bei seiner Neigung zum Christlich-Sozialen bewunderte er ihre Arbeitsfreudigkeit und ihre Tüchtigkeit als Hausfrau; zudem verband sie Zartheit des Herzens mit einem wohlunterrichteten Geiste, der sich jeder erdenklichen politischen und poetischen Begeisterung hingab und allen Buchweisheiten mit bedingungsloser Treue anhing. Welch ideale Genossin für einen zukünftigen liberalen Geistlichen oder Professor!

Doch ach! – als ehrenhaftem Manne lag es ihm ob, Irma am nächsten Morgen um eine Unterredung unter vier Augen zu ersuchen. Sie merkte sofort an seiner Leichenbittermiene, daß sie für diesmal keinen Heiratsantrag erwarten durfte. Und wirklich machte er ihr sofort die Mitteilung, daß seine Zukunft nicht mehr frei sei. Vor seiner Abreise aus Amerika hatte er sich nämlich mit einer jungen Dame verlobt, die in der Bibliothek des Williams College die Bücher ausgab. Es war eine langjährige Bindung, schon von seinem ersten Universitätsjahr her, und nun hatte die Dame beim Abschied versprochen, so viele Jahre auf ihn zu warten, wie es eben nötig wäre. Inzwischen sparte sie fromm jeden entbehrlichen Pfennig ihres bescheidenen Einkommens, um damit eines Tages zur Begründung ihres gemeinsamen Haushalts beizutragen. Sie schrieben einander allwöchentlich kunstlose und weitschweifige Briefe, die von ihren augenblicklichen Interessen handelten und von dem restlosen Vertrauen einer unbegrenzten gegenseitigen Sympathie erfüllt waren – fast mehr schon die Briefe eines glücklichen Ehepaars als die Ergüsse getrennter und sehnsuchtsvoller Liebender. Es war ein geheiligtes Verlöbnis! Wie warm und tief auch immer die Zuneigung sein mochte, die ihm anderswo entgegengebracht wurde – er konnte keinem andern Mädchen mehr die Ehe anbieten!

Fräulein Irma verhielt sich bewundernswert ruhig, immer ruhiger, je weiter ihr Freund seine Erklärungen ausspann. Sie fühlte, daß sie eine tragische Stunde durchlebte wie Lotte in Werthers Leiden, und daß dieser plötzliche Schlag, so grausam er auch war, sie doch auf eine höhere Ebene heroischen Lebens erhob und ihr eine wahrere, weitere Seelenerkenntnis verlieh. Wieviel tiefer würde sie in Zukunft die ganze Weisheit des großen Goethewortes ermessen: »Entbehren sollst du, sollst entbehren!« Und in welch herzbrechendem, doch von Schmerz geadeltem Ton würde sie von jetzt ab singen: »Es war ein Traum« und: »Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein!« Sie preßte die Lippen einen Augenblick zusammen und sagte dann ruhig, sie danke ihm, daß er ihr sein Geheimnis anvertraut habe, sie verstehe seine Gefühle und hoffe nur, daß ihre ernste, wahre Freundschaft immer erhalten bleiben möge.

Sie brach erst zusammen, als sie sich fest in ihrem kleinen Dachstübchen eingeschlossen hatte, wo sie ihr Schluchzen vorsichtig in ihrem jungfräulichen Kopfkissen ersticken konnte. Nach einer halben Stunde war sie fast wieder die alte. Ihre Liebesbereitschaft war gattungsmäßig, und sie brachte es leicht fertig, ihre unschuldigen Gedanken auf irgend einen frischen jungen Offizier, oder auf irgend einen bleichen, dichterisch aussehenden Studenten mit Schlapphut und Brille zu richten, sobald sie jedem ein paarmal auf dem hübschen Wege um die alten Stadtwälle begegnet war. Das Leben blieb trotz allem so reich, so voll, so wunderbar, und die Welt war, ach, so schön!

Der junge Harry Bumstead jedoch war schwer getroffen. Die blühende Irma warf, wohl durch eine Art von Kontrastwirkung, einen melancholisch grauen Schatten über die Aussicht, für ewig einen Hausstand mit der würdigen, aber nicht allzu jugendlichen Bibliothekarin des Williams College zu begründen. Nun, das ließ sich nicht mehr ändern! Er würde fürs erste in seiner Arbeit und später in seinem Heim Mut und Glück wiederfinden. Indessen besaß er genug Eitelkeit und Unerfahrenheit, um seinem kränklichen Gewissen die Schuld vorzuspiegeln, er habe gedankenlos das lebenslängliche Unglück dieses zarten und unschuldigen Geschöpfs verursacht. Würde sie vor Liebe sterben? Würde sie sich je dazu überwinden, einen andern zu heiraten? Er fühlte den Wunsch, Irma irgendwie zu entschädigen – obwohl er ja keinen Schaden angerichtet hatte – und ihr statt der Heirat etwas anderes Solides anzubieten. Und eine Nachschrift in einem Brief seines Vaters brachte ihn in willkommener Weise auf den Gedanken, worin dieses solide Angebot bestehen könnte.

»Harriet«, schrieb Dr. Bumstead, »läßt sich entschuldigen, daß sie Dir niemals schreibt. Sie sagt, sie hätte zu viel mit dem Kleinen zu tun. In Wirklichkeit hat sie ziemliche Nöte wegen Kinderfrauen und dergleichen. Als Mutter ist sie nicht in ihrem Element. Sie versteht es besser, einen Redner einzuführen oder einer Damen-Protestversammlung gegen Leierkastenmänner zu präsidieren. Selbst als das Kind noch klein war und noch keine Fragen stellen konnte, ärgerte sie sich, wenn die Pflegerin es einen Augenblick bei ihr allein ließ und sie seine Rassel zum dritten Male aufheben mußte. Doch in der Theorie ist nichts gut genug für das Bürschchen. Die beiden zerbrechen sich die Köpfe darüber, wer würdig genug wäre, ihn zu erziehen. Sie wollen ihn nicht hier in die Schule stecken, weil Alden uns arme Leute für zu gewöhnlich hält; und sie wollen ihn nicht in ein Pensionat schicken, weil Harriet sagt, daß Pensionate den Geist töten und den Charakter schematisieren.«

Das wäre etwas für Irma: die Erziehung eines reichen kleinen Jungen in die Hand zu nehmen! Kaum war der Gedanke in dem jungen Mann aufgetaucht, als er ihn auch schon in die Tat umsetzte. Briefe, Photographien, Vorschläge, Beseitigung von Hindernissen, endlich Telegramme mit letzten Abmachungen – alles folgte in atemraubender Schnelligkeit aufeinander. Es sei gut, schrieb Mrs. Alden, daß Fräulein Schlote jung sei, Erfahrung im Lehren und ausgedehnte Kenntnisse in Sprachen, Musik, Geschichte und Naturwissenschaften besitze; aber würde eine Pfarrerstochter nicht zu Frömmelei und Beschränktheit neigen?

Indessen beruhigte ihr Bruder sie, indem er ihr auseinandersetzte, daß Fräulein Schlote zwar in ihrem Empfinden tief religiös sei, jedoch weit davon entfernt, irgendeine abstrakte Meinung über Religion zu hegen oder Gott irgendwo anders als in der Natur, in der Gesellschaft und im menschlichen Gewissen zu erblicken. Tatsächlich würde Harriet sie eher zu liberal, zu heidnisch finden, denn sie sei eine große Verehrerin Goethes und habe das richtige Gefühl dafür, wie schön eine gesunde Sinnlichkeit zur Abrundung eines Charakters beitrage, und wie wichtig es sei, jede Seite der menschlichen Natur harmonisch zu entwickeln.

»Also gut«, schrieb Mrs. Alden zurück, »sie mag auf Probe kommen. Aber was die Sinnlichkeit anbetrifft, gesunde oder andere, so gib ihr klar zu verstehen, daß sie keine Gelegenheit haben wird, sie in meinem Hause zu entwickeln.«

Fräulein Irmas eigene Erregung war so freudig, als sei in dem wundervollen neuen Leben, das ihr bevorstand, auch noch die Aussicht auf einen Gatten miteinbegriffen. Beim Planen und Handeln wurden sie und ihr lieber Freund Harry wieder zu Kameraden, und alle Sentimentalität verflüchtigte sich in der Aufregung über das große Abenteuer. Harry beschwichtigte jeden Einwand, wurde mit jeder Schwierigkeit fertig, und als sie in Bremerhaven vom Deck des großen Dampfers aus ihrer Schwester und ihrem Freunde, der beinahe ihr Bräutigam geworden wäre, ein letztes Lebewohl zuwinkte, waren ihre Tränen Freudentränen.

Ja, sie war zwar allein; aber sie reiste erster Klasse – Dr. Alden hatte alles für sie geordnet – und war dem Kapitän besonders anempfohlen, an dessen Seite sie am Haupttische sitzen sollte: was für ein feiner, alter, grauhaariger Offizier, wohlbeleibt, aber kraftvoll! Sie war Evchen im Schutze des Hans Sachs!

Ja, sie verließ ihre Heimat, aber nicht zum ersten Mal. So jung sie war – gerade erst zwanzig – wußte sie schon genau, was es hieß, allein in der fremden, weiten Welt zu stehen. Sie sollte nun unter völlig fremden Leuten leben, gewiß; aber sie konnte nach sechs Monaten heimkehren, wenn nicht alles nach Wunsch ging. Und der kleine Junge, den sie erziehen sollte – dabei nahm sie seine Photographie aus der Tasche und betrachtete sie zum hundertsten Mal – hatte einen so wundervoll feinen Kopf – so nordisch – und einen so süßen, ernsten Gesichtsausdruck. Sie hätte keinen vornehmer aussehenden Schüler haben können, wenn sie zu einer echten kleinen deutschen Durchlaucht als Gouvernante gekommen wäre – und vielleicht hätten da irgendwelche ungezogenen älteren Schwestern sie zu Tode geärgert! Allerdings gab es keine Adelstitel in Amerika, und so konnte man niemals ganz sicher sein, daß man die Leute wirklich ihrem wahren Rang nach einordnete. Aber wenigstens war ihr künftiger Hausherr ein Herr Doktor und, was mehr war und bei Doktoren selten vorkam, ein sehr, sehr reicher Mann; das war heutzutage ein Ersatz für alles andere. Und schließlich könnte der kleine Oliver – was wäre natürlicher! – eines Tages Präsident der Vereinigten Staaten werden; und sie würde dann ebenso sicher und glorreich in die Geschichte eingehen, als wenn sie die geliebte Lehrerin und Lenkerin eines jungen Großherzogs oder sogar einer Kaiserlichen und Königlichen Hoheit gewesen wäre.

Aber nun mußte sie in ihre Kabine hinuntergehen und ihre Medizin gegen Seekrankheit einnehmen; und auf dem Wege nach unten bemerkte sie, daß, obgleich alle ihr begegnenden deutschen Passagiere Juden zu sein schienen, einige der Schiffsoffiziere genau so gute Erscheinungen waren wie der Kapitän, und zudem jünger.


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