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Kaum war am Nachmittag das Auto über Gramercy Park hinausgelangt und hatte sich der Prozession von Fahrzeugen auf dem Broadway angeschlossen, als Edith eine lange, vertrauliche Unterhaltung eröffnete. Ihre ganze Art schien auszudrücken: »Ich konnte vor Maud nicht frei sprechen. Aber ich weiß, auf deine Sympathie und dein Verständnis kann ich rechnen.« Sie fand, daß es recht freundlich von ihr war, ihrem jüngeren Vetter soviel Vertrauen zu erweisen und eine Art von Gleichheit zwischen sich und ihm herzustellen, die in Wirklichkeit keineswegs bestand; aber sie wollte nun einmal gütig, taktvoll und aufmunternd sein. Oliver konnte ein wertvoller Bundesgenosse werden.
Jedesmal wenn sie an einen belebten Straßenübergang kamen oder ein Lastauto überholten, oder irgend etwas anderes Olivers ungeteilte Aufmerksamkeit verlangte, hörte sie auf zu reden, beobachtete seine Manöver verständnisvoll ohne Ungeduld oder Nervosität, und sobald der Weg frei war, nahm sie ihr Gespräch wieder auf, als sei sie gar nicht gewaltsam unterbrochen worden, sondern als sei das kleine Zwischenspiel interessant und erfrischend gewesen, sodaß sie nun mit neuer Kraft weitersprechen könne. So viel sie auch ihrer Phantasie nachgab, sie war doch vernünftig genug, um den fortwährenden Einbruch der wirklichen Welt in ihre Tagträume als etwas Gegebenes anzuerkennen und sogar zu genießen.
Wenn Oliver eine Antwort gab, hörte sie ihm nicht nur zu und stimmte ihm bei, sondern führte seine Bemerkungen noch weiter aus und bewies, wie völlig sie deren Berechtigung einsah, und wie er ihr geradezu das Wort vom Munde genommen habe. Nicht daß ihre Freundlichkeit rein intellektueller Art gewesen wäre! Wenn der Wagen geschwind um eine Ecke bog oder eine unerwartete scharfe Drehung sie überraschte und für einen Augenblick etwas näher hindrängte zu ihm, der so fest wie ein Felsen dasaß, dann schien ihr das nicht weiter leid zu tun. Sie entschuldigte sich nicht und richtete sich auch nicht so hastig wieder auf, daß man hätte denken müssen, sie sei erschrocken. Im Gegenteil, sie lächelte freimütig über ihre Unerfahrenheit und bewunderte das Geschick und die Stärke ihres jungen Gefährten. In dieser Anfangsperiode des Autosports schien die Leichtigkeit dieser Vorwärtsbewegung wunderbar und ihre Schnelligkeit berauschend.
Edith gab ihr Leben in die Hände dieses Knaben; mit voller Überlegung zweifellos, denn er war vorsichtig und tüchtig; aber ihr freiwilliges Vertrauen, dem das Gefühl der Gefahr zugrunde lag, erzeugte in ihr eine freudige Erregung, die einer Unterwerfung sehr nahe kam. Sie erinnerte sich, daß sie manchmal in Zeitungen von Gräfinnen gelesen hatte, die mit ihrem Chauffeur durchbrannten. Sie verstand diesen Impuls. Oliver übte jetzt, während seine Hände am Steuer lagen und seine Augen sich auf die Straße hefteten, eine physische Herrschaft aus, die ihm sonst in seiner Eigenschaft als Vetter vom Lande gänzlich abging. Für gewöhnlich wirkte er farblos und negativ, wenigstens im Vergleich zu Mario oder zu ihrem alten Anbeter, Mr. Flusher Borland, der stets strahlte, als hätte er gerade einen Cocktail getrunken oder als wäre er im Begriff, ihr seine Liebe zu erklären. Hier im Freien am Steuer seines Wagens machte Oliver gerade durch seine Einfachheit und Zurückhaltung Eindruck auf sie. In dem stillen, guten Jungen steckte offenbar ein herrischer Mann, der womöglich gewalttätig sein konnte.
Vor sich selber verkörperte Oliver in diesem Augenblick (was Edith allerdings nicht feststellen konnte) halb unbewußt Jim Darnley, wie er das Boot in einer stürmischen Nacht durch den Hafen von Salem steuerte; und er verkörperte auch sich selbst in seiner Eigenschaft als Rugby-Spieler, wie er das Signal gab und hinter dem Ball herjagte. Der Sportler und der Techniker denken demokratisch, ihr Ton ist notwendigerweise der des Volkes; und doch gibt es bei ihren derben Machtkämpfen Rangunterschiede und sogar Heldenverehrung. Oliver schätzte seine körperlichen Qualitäten gerade deshalb so hoch, weil er sich in geistigen Dingen so unsicher, verlassen und einsam fühlte. Könnte er nicht sicherer, vielleicht glücklicher sein, wenn er seinen Vorrechten entrinnen und zur gewöhnlichen Menge gehören dürfte? Und sein Stolz versicherte ihm, daß er sich dort sehr wohl halten und leicht der erste bei solchen Leistungen werden könnte, deren Wert nicht an phantastischen Anschauungen gemessen wird.
Vor seinem heimlichen Technikerstolz war diese Orchidee in Damengestalt, dieses Musterbild der vornehmen Gesellschaft hier an seiner Seite nichts als ein Fahrgast, ein weibliches Wesen wie jedes andere, das man bewachen und behüten mußte, zweifellos eine kostbare Fracht, aber nicht mehr als das. Seine eigenen Möglichkeiten, seine eigene Intelligenz, seine eigenen Moralbegriffe schienen sich bis in große Fernen zu erstrecken, weit über Ediths gesellschaftliche Begriffe hinaus. Er würde stets willig genug, ja, mit Unterwürfigkeit, mit einer Art Anbetung zu ihr zurückkehren; doch würde er bei aller Verehrung einen geheimen Vorbehalt im Hintergrunde haben, er würde innerlich unabhängig und in wesentlichen Dingen ihr überlegen bleiben.
»Was für ein Unterschied«, begann sie, »zwischen diesem Automobil und unserem armseligen, schnaubenden und rüttelnden kleinen Ding, das Mario im letzten Jahr hatte. Es war so großartig von dir, ihm dieses neue zu schenken, wo dir nichts daran lag, selbst eins zu haben. Aber man hat ja wirklich den Wunsch, ihn mit schönen Dingen zu umgeben, die sein Lebenselement zu sein scheinen. Er wird vom Luxus nicht erdrückt und nicht verdorben wie manche unserer reichen Bekannten, sondern er tanzt denkbar vergnügt inmitten seiner Pracht umher. – Ja, ganz richtig, er versteht es auch, den Luxus ohne Bedauern zu entbehren, ohne dadurch in seiner Eigenart unsicher zu werden oder womöglich herabzusinken. – Genau wie du sagst: das macht sein südliches Blut; aber vielleicht kommt noch etwas weniger Naturbedingtes hinzu: eine Neigung, die Dinge in einem geistigen Licht zu sehen, die sich später noch in ihm entwickeln wird. Jetzt ist er noch so jung! Er hat mich manchmal beim Autofahren erschreckt, er schien so leichtsinnig zu sein. – Ich weiß, er hat ein sicheres Auge und schnelle, kräftige Hände. Man sollte so viel mechanische Geschicklichkeit gar nicht bei ihm vermuten, da doch seine beiden Eltern Künstler waren. – Wirklich, darauf wäre ich gar nicht gekommen! Wenn man in allem ein Künstler wäre, könnte die Ausübung einer bestimmten Kunst allerdings unnötig oder sogar lächerlich wirken. – So, im Himmel braucht man keinen Sonntag? Hat Mario das gesagt? Sicherlich war das wieder recht frivol gemeint! – Ich glaube freilich auch, daß es wirklich vornehmer und aristokratischer ist, nicht bloß Künstler zu sein. – Sage mir ehrlich, was du davon hältst! Du kennst Mario so gut. Wäre es tatsächlich für ihn das Beste, nicht bei uns in Amerika zu leben? Er neigt jetzt dazu, das zu glauben, obwohl er zuerst von allem hier ganz entzückt tat und völlig einer der Unseren zu werden schien. – O, du meinst, ältere Männer trauten ihm nicht, sie könnten seine Unabhängigkeit nicht leiden und würden ihm im Geschäftsleben nicht vorwärtshelfen? Ganz gewiß ist mein Vater von ihm enttäuscht, beklagt sich, daß Mario nicht das tut, was man von ihm erwartet, und daß er seine Zeit vergeudet. Aber du findest das doch nicht? Es wäre so schrecklich, wenn er uns verloren ginge. Ich könnte es nicht ertragen. Ich meine damit nicht nur die Möglichkeit, daß er im Ausland bleiben könnte; das wäre zwar traurig für uns, denn er kam damals wie ein Sonnenstrahl; aber schließlich, wenn es zu seinem Besten wäre, müßten wir ihm dieses Opfer wohl bringen, und ohne Zweifel würde er uns oft besuchen, und auch wir könnten ihn besuchen. – Nein, ich meine jetzt, was für eine Tragödie es werden könnte, wenn er sich ganz und gar verzettelte, wenn er seine Jugend, seine Echtheit verlöre, ohne irgend etwas zu leisten, ohne edler und stärker zu werden! Du glaubst gar nicht, wieviel er uns bedeutet, wieviel er mir bedeutet. Ich habe so zärtlich an meinem jüngeren Bruder Reggy gehangen, den wir verloren, als er achtzehn Jahre alt war. Das hat mir einen schrecklichen Schlag versetzt und mein ganzes Leben verändert, es brachte mir die rauhe Wirklichkeit und unser Bedürfnis nach Gott zum Bewußtsein. Und als Mario zu uns kam, erschien er mir wie ein Bote von Reggy – allerdings ist er von ihm in jeder Hinsicht sehr verschieden, abgesehen davon, daß Reggy in seinem Alter war, als er starb – und du weißt, wie wir uns gleich zueinander hingezogen fühlten. Und nun kommt diese plötzliche Trennung, bevor wir noch klar erkennen können, was die Zukunft ihm bieten wird; und gerade in dem Augenblick, wo seine Mutter gestorben ist und er ganz zu uns gehören könnte, entschließt er sich auf einmal, in Europa zu bleiben und allein seinen Weg zwischen lauter fremden Menschen zu gehen. Anscheinend bist du der einzige, der ihn noch festhält und uns mit ihm verbindet, denn über die Frage, ob er recht tut, mich zu verlassen oder ob er mich braucht, ist er nicht im mindesten in Unruhe, er hat nicht das leiseste Bewußtsein eines Verlustes oder eines Unrechts.«
Sie waren jetzt auf dem Fährboot nach Staten Island angelangt, und die Stille ringsum wurde nur vom Stampfen der Maschine unterbrochen. Oliver brauchte sich nicht mehr mit dem Wagen zu befassen und konnte zusammenhängender sprechen.
»Hat Mario dir nichts von unserem Plan für nächstes Jahr geschrieben? Er will mit mir zusammen eine Weltreise machen. Wir wollen die meiste Zeit auf See sein, denn ich möchte rund um Südamerika fahren, um von allen Ländern eine Vorstellung zu bekommen; außerdem werde ich Bücher mitnehmen, aus denen ich ihre Eigenart studiere. Da wird Mario Zeit haben, sich über sich selbst klar zu werden, und Entschlüsse für seine Zukunft fassen können. Wenn er nach Oxford geht, wird er es erst nach der Reise tun, dann ist es auch noch nicht zu spät für ihn. Nun möchte ich dir etwas vorschlagen. Sei nicht erstaunt und antworte auch nicht sofort darauf. Liebst du das Meer?«
»Ich habe das Meer ganz gern. Warum fragst du das?«
»Wirst du nicht sehr leicht seekrank?«
»Nicht besonders leicht.«
»Dann schlage ich vor, daß du mit uns fährst.«
»Wie meinst du das? Mit Tante Miriam vielleicht oder mit Maud?«
»Ganz und gar nicht. Wenn die an Bord wären, würdest du dich beständig mit Mario absondern, und für mich blieben nur Maud oder deine Tante Miriam übrig. Du sollst allein mitkommen.«
»Das wäre doch zu ungewöhnlich. Was würde mein Vater dazu sagen? Es ist nicht üblich, daß ein unverheiratetes Mädchen allein mit zwei jungen Männern um die Welt reist.«
»Aber du brauchst ja nicht unverheiratet zu sein. Du könntest einen von uns heiraten.«
»Das gefällt mir. Ich soll einen von euch heiraten, ganz gleich, wen? Und bist du gleichzeitig auch beauftragt, für Mario zu werben? Kann er nicht für sich selbst sprechen?«
»Er weiß, daß es Zeitverschwendung wäre. Ich bin auch nicht beauftragt. Das ist nicht nötig. Natürlich könntest du ihn heiraten – du könntest jeden heiraten – wenn du es wirklich wolltest. Aber du bist nicht so dumm. Du weißt, daß du schrecklich unglücklich würdest, wenn du Mario heiratetest.«
Edith nahm sich zusammen. Sie merkte, daß ihre Verteidigungsstellungen eingenommen wurden, und daß eine Bombe mitten in ihre Festung gefallen war. Sie war nicht weiter beunruhigt, denn sie hielt sich für uneinnehmbar, aber sie war gereizt und schlug einen tragischen Ton an.
»Was habe ich getan, daß meine innersten Gefühle in der Öffentlichkeit herumgezerrt werden? Ihr alle sprecht hinter meinem Rücken von ihnen, und nur, um sie in ein ganz falsches Licht zu setzen. So viele Gefühle werden Liebe genannt, es gibt nur das eine Wort dafür. Aber muß nicht die Liebe, wenn sie echt ist, jedesmal etwas ganz Neues sein? Es mag in einem gewissen Sinne stimmen, daß ich Mario liebe, ja, daß wir uns lieben; doch es ist mir niemals in den Sinn gekommen, ihn zu heiraten. Er ist ein Kind, ein sehr viel jüngerer Bruder für mich, so etwas wie mein Sohn im Geiste. Wie gemein wäre es, ihn dazu zu bringen, daß er mich heiratet, ihn seiner Freiheit zu berauben, bevor er alt genug ist, um den richtigen Gebrauch davon zu machen, kurz: ihn, wie Großmama sich ausdrückt, zu einem Schoßhündchen zu erniedrigen, das vor meinen Freunden hübsche Kunststückchen vorführen würde wie sein Scotchterrier, wenn er ihm befiehlt: › Fais le beau!‹ Jeder würde lächeln und an den Altersunterschied denken – sechs Jahre auf der verkehrten Seite! – und von ihm erwarten, daß er mir untreu wird, daß er mich vernachlässigt, wenn er mich nicht verlassen kann, oder mich verabscheut, wenn er mich nicht vernachlässigen kann. Und das wäre noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste wäre, daß ich zusehen müßte, wie er an meiner Seite, als Paradegemahl einer verblühenden älteren Frau, von Tag zu Tag mehr herunterkäme, wie sein Feuer schwände, wie er vielleicht noch ansehnlich, aber doch ohne Leben, noch jung, aber ohne Zukunft wäre, wie er dick und fad würde, wie es ihn dazu triebe, zuviel zu essen und zu trinken, um sein Mißbehagen zu verscheuchen. O nein, ich will ihn niemals heiraten! Gerade die Zuneigung und die Sorge, die ich für ihn empfinde, werden mich daran hindern. – Was aber dich betrifft, so habe ich immer nur seinen besten Freund in dir gesehen.«
Die Unrichtigkeit dieser letzten Behauptung lag für Oliver klar auf der Hand, und auch der Beweggrund, der dahinter steckte. Er erkannte hier die gleiche, vielleicht die einzige Lüge, mit der er sein eigenes Gewissen manchmal belastete: auch er stellte sich gern gleichgültig, wenn nur seine Sinne berührt wurden. Seine Sinne, gab er dann vor, seien nicht er selbst. Und bei einer Dame war diese Heuchelei sogar noch notwendiger. Es gab Sachen, in denen eine Frau – wie ein Puritaner – nicht aufrichtig sein konnte. Sie mußte versteckt vorgehen, mußte ihre Sittsamkeit und ihre weibliche Zurückhaltung bewahren, sie durfte den Hinterhalt nicht aufdecken, den sie in Zukunft vielleicht noch einmal brauchen würde. Je spöttischer Edith behauptete, sie sähe in Oliver nur den Freund Marios, desto stärker erwies sich Olivers Herrschaft über sie, so stark, daß sie sie fürchten und ableugnen mußte. Daher war die scheinbare Zurückweisung keine Zurückweisung, sondern eher eine Ermutigung.
Oliver begnügte sich mit dieser Gewißheit, er war sich seiner wahren Stärke bewußt und ging jetzt auf das Problem nicht weiter ein. »Ich glaube nicht«, sagte er, »daß euer Altersunterschied irgendwelche Schwierigkeiten machen würde. Erinnere dich daran, wie Mario seine Mutter liebte; und er würde mit sechzig genau so zu dir aufsehen und dich genau so oder mehr lieben wie mit fünfundzwanzig. Aber seine Liebe für dich würde ihn nicht daran hindern, sich auf eine ganz andere Weise auch mit andern Frauen abzugeben. Er stellt dich auf ein Piedestal, hält dich höher als alle andern; aber die andern sind trotzdem für ihn da; wie viele haben ihn im Lauf der Zeit schon gereizt und amüsiert, und wie viele werden es noch tun! Ich glaube, das liegt an seinem südlichen Temperament. Es besteht für ihn keine innere Notwendigkeit, sich zu beherrschen, unnötig zu leiden oder diese Frauen unnötig leiden zu lassen; denn sie sind noch viel mehr hinter ihm her, als er hinter ihnen. Damit müßtest du dich abfinden; und ich glaube, selbst wenn du den Willen dazu hättest, würden es deine religiösen Grundsätze nicht erlauben.
Und die Religion wäre ein weiterer wunder Punkt, denn du könntest Mario niemals bekehren, außer wenn du dich etwa zuerst zu einer regelrechten Katholikin bekehren ließest. Du wirst sagen, daß wenig Unterschied zwischen den beiden Bekenntnissen besteht, aber für ihn ist der Unterschied total und grundlegend. Deine Art von Frömmigkeit, sagt er, ist überhaupt keine Religion, sondern gerade eine weltliche Vorbeugungsmaßnahme gegen die Religion, eine homöopathische Dosis, welche die Religion für immer ungefährlich machen soll. So würdest du dir in geistiger Hinsicht niemals seine Achtung erwerben können; und er würde dich auslachen, gerade wenn es dir besonders ernst wäre.
Bei mir ist alles gerade umgekehrt. Der Mensch, den ich in intellektueller und moralischer Hinsicht am meisten achte, ist der Pfarrer von Iffley, er ist Anglikaner. Und es besteht nicht die leiseste Gefahr, daß er je zu Rom übergeht; denn auch er hält, wenn auch aus ganz andern Gründen als Mario, den Unterschied für radikal. Ursprünglich, sagt er, war das Christentum teils Poesie, teils Wahn. Die römische Kirche hält an beiden Bestandteilen fest; der Protestantismus hat den Wahn bewahrt und die Poesie zerstört, und nur die anglikanische Tradition ist fähig, die Poesie zu bewahren, während sie den Wahn von sich weist. Mir allerdings bedeutet die Poesie des Christentums bis jetzt noch nicht viel, weil ich nicht in ihr erzogen wurde; aber ich bewundere und beneide dich, Mr. Darnley und alle frommen Menschen, weil ihr imstande seid, sie zu fühlen, vorausgesetzt, daß sie euch nicht dazu führt, die Wahrheit auf den Kopf zu stellen, wie es Leute tun, die sich für inspiriert halten und ihre dichterischen Eingebungen mit wörtlich zu nehmenden Tatsachen verwechseln.
Was aber die Zumutung betrifft, daß ich mich mit andern Frauen abgeben könnte, weil meine eigene Frau drei oder vier Jahre älter wäre als ich, so kommt sie mir einfach abstoßend und sinnlos vor. Wie sollte so etwas möglich oder im geringsten verführerisch sein, wo Zuneigung, Vertrauen und wahre Liebe herrschen? Ich kann einen derartigen Impuls nur bei Menschen wie Mario verstehen, für welche Liebe soviel wie Sinnlichkeit bedeutet. Für mich bedeutet sie das nicht. Außerdem wirst du niemals alt werden, wirst dich niemals verändern, und ich bin niemals jung gewesen und werde mich also auch nicht viel verändern. Ich will ja nicht behaupten, daß ich gut genug für dich bin, aber ich bin sicher alt genug; und auf alle Fälle habe ich nie meinen Körper oder meine Seele einer andern Frau geschenkt und würde es auch niemals tun.«
Sie hielten vor der Kirche in Staten Island, und Edith legte ihre Hand leicht auf seinen Arm, als wollte sie sagen: »Lassen wir die Sache für den Augenblick ruhen. Ich habe dir so viel Tiefes und Zartes darüber zu sagen.« Der jüngste Backfisch hätte nicht behender und anmutiger aus dem Wagen springen können als sie; und mit ihrem eigenen Schlüssel, den sie in das kleine Yaleschloß steckte, öffnete sie die Tür und schritt ihm rasch voraus in die Kirche. Die steifen kleinen Betstühle verachtend, sank sie vor dem Altargitter auf die Knie und begrub ihr Gesicht in ihrem umfangreichen Muff. Sie war für das wörtlich festgelegte Gebet; und während ihre Lippen eine gewisse Anzahl von Vaterunsern und Doxologien murmelten – das Ave Maria war in ihren Kreisen noch nicht völlig anerkannt – hatte sie Zeit, ihre Eindrücke zu sichten und sich darüber klar zu werden, welche Linie sie einhalten wollte.
Oliver, groß und breit in seinem pelzgefütterten ledernen Automantel, stand inzwischen mit der Mütze in der Hand seltsam ruhig da und sah sich den Raum an. Er hatte soeben einen Heiratsantrag gemacht, von dem er mit Sicherheit erwartete, er werde zuguterletzt angenommen werden. Wenn er bereit war, die Sache zu wagen und Edith zu heiraten, warum in aller Welt sollte Edith dann nicht bereit sein, ihn zu nehmen? So sollte sich nun seine ganze Zukunft entscheiden, und doch war er niemals kühler gewesen.
»Gehört diese Kirche hier«, dachte er, »wohl auch zur Poesie des Christentums?« Und als sein Auge die Einzelheiten erfaßte, mußte er unwillkürlich lächeln. Wie würde Mario, wie würde Jim alles hier unmöglich finden! Der ganze Raum war ein Musterbeispiel der billigen, von Ruskin inspirierten Backsteingotik; die Wände terrakottarot, die braunen Balken glänzend gefirnißt, die Decke blau und mit Flittersternen geschmückt. Der gelbe hölzerne Altar trug in geschnitzten gotischen Lettern die Worte: Heilig, Heilig, Heilig. Ein glänzendes Messingkreuz und ein Paar kleiner Leuchter standen darauf, während droben ein dunkelroter Vorhang, der vorläufig die gemalten Glasfenster ersetzen sollte, vergeblich versuchte, gedämpftes, stimmungsvoll-religiöses Licht hervorzubringen; denn durch die andern Fenster, die zu groß für diesen hellen Breitengrad waren, durchfluteten die letzten Sonnenstrahlen erbarmungslos den Raum. Eine Scheune wäre weniger häßlich gewesen! Offenbar war dies kein Andachtsraum, den die Armen Gott errichtet hatten, sondern die Reichen hatten ihn offiziell den Armen, die ihn gar nicht haben wollten, zur Verfügung gestellt. Alles war unangenehm grell, alles war fabrikmäßig hergestellt, ausgenommen ein paar verwelkte Chrysanthemen, die auf dem Altar die Köpfe hängen ließen. Diese holte Edith, nachdem sie ihre Andacht beendet hatte, schnell herunter und ersetzte sie durch einen hübschen Strauß Ilex, den sie vorher gekauft hatte. Ihre Angelegenheit bei dem Küster war bald erledigt; Oliver fragte sich unwillkürlich, was für eine Notwendigkeit eigentlich für diese Expedition bestanden hatte, die Edith anscheinend so am Herzen gelegen hatte.
Nun aber saßen sie wieder nebeneinander im Wagen, Oliver hatte das Verdeck zum Schutz gegen die Abendluft aufgeschlagen und die Lichter eingeschaltet. Es war ein lauschiger Winkel, und Edith konnte sich hier fast mit ebensoviel Vertrauen und Gefühlstiefe aussprechen wie in einer richtigen Beichte.
»Oliver«, fing sie an, »was du vorhin gesagt hast, hat mir großen Eindruck gemacht. Ich habe für dich gebetet. Deine Art, über Liebe und Ehe zu empfinden, ist viel feiner als die der meisten jungen Männer, viel heiliger. Ich verstehe jetzt, weshalb Mario so an dir hängt und so begeistert zu dir aufsieht; denn das tut er wirklich, er betet dich geradezu an. Ich werde mich dir von heute ab viel näher fühlen als vorher. Aber laß uns nicht vom Heiraten sprechen; es wäre so übereilt und unüberlegt. Daß du überhaupt an so etwas gedacht hast, überrascht mich eigentlich, da wir uns doch kaum kennen und unsere Interessen in mancher Hinsicht so verschieden sind. Und du bist auch viel zu jung; ich will gar nicht sagen zu jung für mich, wenn du ritterlich genug bist, diesen Einwand zurückzuweisen; aber du bist für die Sache selbst zu jung, du hast es noch nicht nötig zu heiraten. Deine Gefühle erscheinen einerseits sehr tief und wohlbegründet, aber bist du je verliebt gewesen? Wir empfinden vorläufig nicht genug füreinander, wir können es ja auch gar nicht. Und die Liebe ist etwas so Schreckliches! Sie verspricht ein so wunderbares Glück, und kann doch so furchtbares Leid bringen.«
»Allerdings bin ich nicht verliebt«, sagte Oliver etwas verächtlich, »wenn du darunter verstehst, daß man sich für eine gewisse Zeit in eine Art von Narren verwandelt. Das Gefühl aber, daß du mir viel bedeutest, daß du gleichsam von Natur aus zu mir gehörst, kam mir sofort ganz traumhaft an jenem ersten Tage, als ich dich im Stillman-Krankenhaus kennenlernte. Du ahnst nicht, was es für mich hieß, dich in diesem Augenblick vor mir zu sehen; und als du wieder und wieder kamst, befestigte sich der Gedanke in mir, daß du meine Führerin und Beschützerin werden solltest, daß du mir einen Weg bahnen solltest durch dies Gesellschaftsleben, in dem ich so dumm dastehe, und daß du mir helfen solltest, meine Pflicht in der Welt zu tun. Das war keine Illusion, es war vom ersten Tage an die Erkenntnis, daß du die vollkommenste Frau, die vollkommenste Dame bist, die ich je gesehen habe. Und es war auch durchaus keine törichte Einbildung oder Anmaßung von mir, zu glauben, daß auch du die beste Lebensmöglichkeit im Zusammenleben mit mir und in der Hingabe an mich finden würdest. Ich bin vollkommen sicher, daß es das Richtige ist. Und sage nicht, daß die Ehe sehr enge Beziehungen zwischen zwei Menschen mit sich bringt, und daß du mich dazu nicht gern genug hast. Denn du hast mich ja gern genug dazu!«
Er hatte seinen Arm um sie gelegt und sie mit sanfter, doch unwiderstehlicher Kraft an sich gezogen; nun nahm er sich vor, sie zu küssen. Das war nicht ganz leicht und auch nicht sehr befriedigend, da wenig mehr als ihre Nase zwischen ihrem Hut und ihrer Pelzboa hervorschaute; aber schließlich brachte er es leidlich zustande. Diese Tat diente freilich nicht dazu, sein Werben zu unterstützen. Nicht weil Edith sich über die Freiheit, die er sich nahm, ärgerte, oder weil sie die Behauptung, sie habe ihn gern genug, leugnen wollte. Er führte sie vielmehr in Versuchung, er überwältigte sie fast in dieser rohen Eigenschaft als plumper Liebhaber, als beliebiges männliches Wesen, wie er sie nun dumpf bedrängte und auf seinem urtümlichen Rechte bestand. Sie empfand seine große Jugend, die sich mit Kraft und Würde verband, auf einmal nicht mehr als Nachteil. Ein traumhafter Wunsch, die Venus dieses puritanischen Adonis darzustellen, durchzuckte sie. Aber ihre Urteilskraft und ihre gesellschaftlichen Begriffe traten sofort wieder in ihre Rechte. Selbst vorhin in der Kirche, als sie angeblich für ihn gebetet hatte, war sie sich seiner Inferiorität bewußt geblieben. Er verstand nichts von Liebe. Er dachte nur an sich selbst, verfügte über ihre Zukunft und machte ihr einen Heiratsantrag, ohne auch nur so zu tun, als liebe er sie, wie eine Braut doch geliebt zu werden verdient und es beanspruchen kann. Seine plumpen Annäherungsversuche waren keine Huldigungen, es waren beinahe Beleidigungen.
Die Notwendigkeit, den Wagen schnell und vorsichtig von der Fähre herunterzufahren, wo er stillgestanden hatte, unterbrach Olivers Zärtlichkeiten und gab ihr Zeit nachzudenken. Sie entschloß sich dazu, vernichtend zu sein.
»Wirklich«, sagte sie, »du benimmst dich sonderbar, und du scheinst die Ehe mit mir genau so auf dein Programm zu setzen wie diese Weltreise. Der Gedanke leuchtet dir nun mal ein. Ich bin zufällig gerade bei der Hand; und du willst deinen Willen durchsetzen, ohne Rücksicht auf meine Gefühle oder die Marios oder sogar deine eigenen. Das ist kindisch.«
»Ach so«, erwiderte er langsam und maß seine Worte Stück für Stück ab, als rechne er sie nach oder lege sie in einer akademischen Abhandlung nieder. »Du hältst mich für einen Bubi, für einen Narren, für ein kleines Kind, für jemanden, der dir einen feierlichen Antrag macht, um dich dann um so bequemer in die Arme deines wirklichen Geliebten sinken zu lassen, der zufällig mein bester Freund ist. Du meinst, wir würden eine abscheuliche Posse aufführen – ›Werthers Leiden‹ nur ohne Leiden. Es war wohl kindisch von mir, aber ich habe die Sache nicht in diesem Licht gesehen. Ich nahm es als selbstverständlich an, daß du Mario aufgegeben hättest. Wenn du ihn tatsächlich aufgegeben hast, wenn du keinen Anspruch auf ihn machst, wenn du nichts anderes willst als für ihn sorgen, dann spielt es doch keine Rolle mehr, wie sehr du ihn liebst oder wieviel ihr beisammen seid; denn dann wäre deine Liebe ja selbstlos und würde uns nicht trennen, sondern gerade verbinden.«
Edith hatte einen solchen Schuß ins Schwarze nicht erwartet. Sie fühlte, daß sie nun wirklich in eine Beichte geraten war und einen geistlichen Führer gefunden hatte, der fast strenger und mystischer war, als es ihr paßte. Dieser Bursche vom Land hatte offenbar eine Menge Erfahrung, wenn nicht in der Liebe, dann in irgend etwas, das der Liebe sehr nahe kam und vielleicht besser war. Sie fürchtete ihn, und seine Härte und Bitterkeit flößten ihr Achtung ein. Achtung und Furcht könnten sich in Liebe verwandeln. Auch dachte sie auf einmal an sein Geld. Er wäre als Gatte nicht zu verachten. In der Tat, er war eine gute Partie. Trotzdem, nein, es kam nicht in Betracht. Es bestand keine wahre Seelenverwandtschaft zwischen ihnen. Sie würde beständig gequält und gedemütigt werden. Das ganze Kartenhaus ihres Lebens, angefangen bei ihrer Religion, würde einstürzen. Dieser Pfarrer von Iffley war wohl ein sehr gefährlicher Theologe. Sie mußte beweisen, daß der wahre Glaube und die christliche Demut auf ihrer Seite waren.
»Mein lieber Oliver«, sagte sie in einem Ton, der freundlich, aber von unparteiischer Erkenntnis der Wahrheit bestimmt schien, »du bist ein seltener Mensch, du siehst ins Herz hinein und hast eine geistige Einsicht, die für dein Alter wunderbar ist. Es war wirklich ein furchtbares Opfer für mich, Mario aufzugeben – ich meine nicht, ihn nicht zu heiraten, denn ich sagte dir ja, daß ich daran nie gedacht habe – sondern das Zusammensein mit ihm aufzugeben und darauf zu verzichten, seine Interessen in die rechten Bahnen zu lenken. Es war furchtbar, ihn wieder fort zu lassen, ins Ausland, in ein zielloses Leben voller Versuchungen und schlechter Einflüsse. Aber er muß sein eigener Herr bleiben, und wir müssen beten, daß sich zuguterletzt alles zum Besten wendet. Angenommen nun, ich empfände wirklich etwas für dich – nicht so viel wie für Mario natürlich, denn ich kenne dich nicht so gut, und wir haben nicht so viel gemeinsam – aber immerhin: angenommen, ich hätte dich gern und bewunderte dich sehr, so wie ich es wirklich tue. Begreifst du nicht, daß es dann meine Pflicht wäre, dich aufzugeben, genau wie ich Mario aufgegeben habe? Die Pflicht wäre in diesem Fall sogar noch klarer; denn es liegen genau die gleichen Hindernisse vor: du bist zu jung, hast nicht genug von der Welt gesehen und mußt dich noch sehr viel mehr entwickeln, ehe du mit Überlegung eine Frau wählen kannst. Und außerdem brauchst du mich nicht – im Gegensatz zu Mario – du bist aus dir selbst heraus stark, nüchtern und standhaft genug. Ja, vielleicht würde ich deiner wahren Berufung nur im Wege stehen.«
»Also gut. Ich verstehe dich vollkommen. Ich habe kaum erwartet, daß du sofort Ja sagen würdest.« Er fing nicht wieder davon an, bis sie Gramercy Park erreicht hatten. Bevor er Edith dort aus ihrem Käfig entließ, hielt er den Türgriff fest und sagte mit Bestimmtheit: »Denke daran, daß ich eine Vorahnung hatte, eine Art Vision von dem, was geschehen wird. Ich werde meine Auffassung nicht ändern. Wenn du mich erst besser kennst und dich an den Gedanken gewöhnt hast, wirst du vielleicht einen Entschluß fassen, der meine Prophezeiung wahr macht.«
Diese Andeutung physischer Gewalt, zu deren Rechtfertigung er noch ein gottgesandtes Schicksal herbeiholte, mißfiel ihr. Einen Augenblick fragte sie sich, ob sie am Ende in eine Verstrickung gerate, ob eine unheimliche Macht sie auf unsicheren Boden führe, von dem es kein Entrinnen mehr gab. Aber eine Stunde später, als sie zum Dinner herunterkam und den guten Oliver in seinem Abendanzug dastehen sah, glatt und sanft und frischgewaschen, da war der gefährliche Chauffeur, der rauhe Schäfer gänzlich entschwunden. Oliver kam ihr nicht länger gewalttätig, sondern vollkommen harmlos vor: ein dummer Junge wie jeder andere dumme Junge, der Sohn seiner Mutter, der Neffe seines Onkels, des Professors für praktisches Christentum, und seines andern Onkels, des Herausgebers der ›New England Roadster‹ und ›Boston Butterfly and Busy Bee‹, dieser vulgären Wochenschriften, die von Farmersfrauen und Handlungsreisenden gelesen wurden. Sie errötete über ihre Schwachheit von heute nachmittag, und innerlich nahm sie ihre Zugeständnisse zurück und verleugnete sie. Man mußte sie als nicht gemacht betrachten oder sie als bloße Spielerei und verwandtschaftliche Freundlichkeit ausgeben. Als Liebhaber war der Junge lächerlich – ältlich und grün zugleich. Als Mann und Gatte würde er später unerträglich sein: ein beißender Kritiker, ein kalter Tyrann, der die Liebe methodisch betrieb.