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Dritter Teil.
Erste Pilgerfahrt


1

Peter Alden fühlte sich in London zu Hause. Nicht daß er die Stadt besonders gut kannte, oder besonders lange dort gelebt hatte; aber im Bereich von St. James's und seiner Parks konnte er ein Leben führen, wie es ihm gefiel. Hier fand er alles so, wie er es zu seiner Behaglichkeit und seinem Vergnügen brauchte. Hier verlor das Leben seine Bitterkeit, und die gesellschaftlichen Konventionen schienen nur den Zweck zu haben, die Maschinerie des Schicksals zu ölen und ihr Geräusch zu dämpfen. Hier war die Welt gleichsam durchgesiebt worden; nur die anständigen, zueinander passenden Elemente mit anerkanntem Aroma hatten den Filter passiert. Die kleinen Ereignisse des Alltags schienen in angenehmer Weise an Tiefe zu gewinnen, was sie an Mannigfaltigkeit einbüßten. Das London aus Peters Junggesellenzeit – von dem in dieser Gegend noch etwas in der Luft lag – hatte sich durch unwandelbare Sicherheit und Ordnung ausgezeichnet. Es hatte alles geboten, was irgend zur Bequemlichkeit des männlichen Geschlechtes dienen kann, und erwartet, daß man mit freier Herrengebärde danach greife und mit Anstand davon Gebrauch mache. Hier herrschten Gentlemen über Gentlemen zum besten von Gentlemen. Hier fühlte sich der Gentleman in Peter außerordentlich heimisch.

Auch die Damen gefielen ihm, ohne daß er sie gerade liebte. Sie machten sich in St. James's selten bemerkbar, aber wenn er zum Wochenende aufs Land eingeladen wurde, konnte er sie in ihrer Einfachheit und Vornehmheit bewundern. Zwar war nicht jede eine Diana; nicht jede trug ihre Schönheit und ihre Juwelen mit himmlischer, selbstverständlicher Heiterkeit, nicht jede vermochte kraft göttlicher Einsicht über alle Dinge richtig zu urteilen. Nicht immer klang es wie das Rieseln eines klaren Baches aus ihren Stimmen, nicht immer schien der blaue Himmel aus ihren sorglosen Augen; auch bebten ihre aristokratischen Nasenflügel nicht beständig, und ihre schlanken Körper strafften sich nicht fortwährend im Feuereifer der Jagd. Manche glichen diesen Mangel an Vollkommenheit durch tatkräftige Güte wieder aus; sie waren nichts als wohlgewachsene, vernünftig gekleidete, abgehärtete Fußgängerinnen, ehrlich wie gekochte Kartoffeln ohne Salz: Pfarrersgattinnen, Professorenfrauen, oder alte Jungfern und Witwen, die standesgemäß in Brighton, Richmond oder Bath wohnten.

In diese Badeorte pflegte auch Peter zu gehen, wenn er den Sonntag nicht in London verbringen wollte; er wohnte dann ein paar Tage in einem der großen Hotels und trank seinen Whisky-Soda in Gesellschaft irgend eines pensionierten Majors oder Obersts, den er aus dem Osten kannte. Die weniger abgeklärten dieser Helden im Ruhestand warfen wohl manchmal ein Auge auf vorübergehende weibliche Wesen einer ganz andern Klasse: etwa auf eine offenkundige Vertreterin der Halbwelt, oder eine vornehm verschleierte Schauspielerin, die wie eine Elegie auf die verlorene Jugend aussah; es kam auch vor, daß Peter durch diese Herren eine Dame von weniger eindeutigem, aber charaktervollerem Typ kennenlernte, eine aufgeklärte Frau, die eine freie Moral mit einer lauten Sachverständigkeit in öffentlichen Fragen verband und vielleicht Romane schrieb – schlechte Romane!

Im Vergleich zu diesen emanzipierten Frauen erschien ihm die altmodische häusliche Schar der Gattinnen, Töchter, Schwestern und zärtlichen Tanten wie eine Legion dienender Engel; und er wußte, England beherbergte viele Myriaden dieser ergebenen, in Verborgenheit lebenden Wesen. Aber sie befanden sich außerhalb seiner eng begrenzten Bahn; er war ein Planet, der durch seine eigene Trägheit und das Gesetz der Schwerkraft beständig den gleichen Kreislauf beschreiben mußte; und sein freier Wille, soweit er einen besaß, blieb für ihn eine ungenützte Möglichkeit, da ihm gar nichts zu Gesicht kam, was ihn von seinem Wege hätte ablocken können.

Zwanzig Jahre früher, um 1880, hatte Peter mehrmals die Saison in London verlebt und war zum auswärtigen oder Ehrenmitglied einiger Klubs ernannt worden. Damals wurden die Amerikaner noch nicht in Bausch und Bogen anerkannt, so wie man das mit verstohlen resigniertem Grinsen heute zu tun pflegt, weil sie reich sind, oder weil das nationale Interesse es erfordert. Als Amerikaner waren sie durchaus nicht beliebt; aber wenn es einem von ihnen gelang, als Einzelpersönlichkeit festen Fuß zu fassen, so hieß man ihn willkommen und unterließ in erhabener Gleichgültigkeit, danach zu fragen, wieviel er in seinem eigenen Lande gelte. Man ignorierte oder vergaß sogar die Tatsache, daß er überhaupt Amerikaner war, und er seinerseits erinnerte sich, solange alles glatt ging, kaum, daß er kein Engländer war. So wurde auch Peters wahre Abstammung heftig bestritten von einem starrköpfigen alten General aus seinem Bekanntenkreise. »Die Leute behaupten, daß dieser Alden Amerikaner sei«, pflegte er zu brummen. »Unmöglich! Er sieht nicht so aus, redet nicht so, zieht sich nicht so an und hat völlig vernünftige Ansichten; Alden ist kein Amerikaner!«

So verführerisch aber diese freundliche Aufnahme war, sie hatte doch insgeheim ihre Nachteile. Wenn Peter sich auch nicht durch und durch zu wandeln brauchte – das hätten ihm seine eingewurzelten Instinkte und sein Gewissen gar nicht gestattet – so mußte er doch beständig unter falscher Flagge segeln und ein Gefühl von Fremdheit unterdrücken, das er nicht loswerden konnte. So selbstverständlich und herzlich man ihn auch stets in England empfing, es war ihm im Grunde nicht viel daran gelegen, denn nichts Ernstliches fesselte ihn dort. Selbst an den vertrautesten Orten und in der angenehmsten Gesellschaft fühlte er sich vereinsamt – vor allem, seit seine älteren Freunde wie der ungläubige General nicht mehr da waren. Auch das Haus, wo Peter früher gewohnt hatte, war verschwunden; und schon an der andern Seite der Jermyn Street, wo man die Bäume und den Kirchturm von St. James nicht mehr sehen konnte, kam er sich wie in der Verbannung vor. Im Klub dagegen hatte sich nicht so viel verändert; obwohl man dort lauter neue Gesichter bemerkte, herrschten doch noch die ausgezeichneten alten Manieren; die Mitglieder ließen ihn höflich in Ruhe, respektierten seine Lieblingsecke und beanspruchten nie die illustrierte Zeitung, die er gerade las, oder den Tisch, an dem er gerade schrieb. Sogar das Essen war noch das gleiche – nur nicht mehr so überreichlich wie früher – und die Angestellten waren noch ebenso gut geschult, nur ein klein wenig hastiger als ehemals. In den Parks, wo er bei gutem Wetter den ganzen Nachmittag herumschlenderte, waren entschieden Verschönerungen festzustellen: prächtigere Blumen, größere Bäume, klarere Teiche mit Enten und Schwänen von bester Zucht. Nur die Reiter und Pferde, die Wagen und Lakaien verrieten den allmählichen Untergang der Aristokratie.

So überließ sich Peter auf diesen Rundgängen seinen Betrachtungen und erwartete dabei geruhsam, wenn auch mit einem leichten Unbehagen die Ankunft seines Sohnes und Fräulein Irmas. Aber er hatte schon vorgebaut, um sich seine Freiheit zu sichern. Es war ausgemacht, daß Oliver seinen ersten Sonntag mit Lord Jim in Iffley verbringen sollte; das war des Jungen größter Wunsch gewesen. Und Fräulein würde gleichzeitig besorgt und aufgehoben sein, weil sie ihrer alten Schule zu Southwold in Suffolk einen Besuch abstatten wollte; von da aus konnte sie aufs bequemste nach ihrem heimatlichen Göttingen weiterreisen; das Billet über Hook van Holland lag dank der großzügigen Fürsorge ihres Gönners schon für sie bereit.

Wenn dann Oliver von Oxford zurück war und Lord Jim ihm London gezeigt hatte – das erledigten sie wohl in zwei oder drei Tagen – dann würde es für Vater und Sohn Zeit, die geplante Fahrt durch England zu machen, um endlich dem Drängen ihres heimischen Kreises nachzugeben, in dem Letitia Lamb beständig erklärte, das Schönste und Interessanteste, was man in England unternehmen könne, sei eine Reise durch alle Kathedralenstädte. Auch hatte Mrs. Alden einen Besuch des schottischen Hochlandes empfohlen, um die Abtei von Tintern und den See von Killarney zu besichtigen. Sie selbst hatte als Mädchen den See von Killarney – in wahrscheinlich sehr idealer Aufmachung – in einem Theaterstück gesehen, und damals hatte er jedenfalls großen Eindruck auf sie gemacht. Von der Abtei von Tintern aber war doch so viel die Rede gewesen, als ein Professor der Universität Chicago eine Rundfrage an alle Englischlehrer der Vereinigten Staaten ergehen ließ, wobei von einer großen Mehrheit dahin entschieden wurde, daß Wordsworths Zeilen auf die Abtei von Tintern die besten Verse waren, die es überhaupt in irgend einer Sprache gab. Vielleicht entschädigte die Atmosphäre dieser berühmten Orte, die ebensosehr mit der Vergangenheit Europas wie mit der Vergangenheit Amerikas verknüpft waren, den Reisenden für gewisse schlechte Charakterzüge der ausländischen Bevölkerung!

Peter seinerseits hätte am liebsten mit der ganzen Sache nichts zu tun gehabt. Sicher war es unrecht, wenn man den Jungen für das Leben in seinem Heimatlande verdarb. Aber was dann, wenn ihn nun dies Leben in seinem Heimatlande unfähig machte, zu sich selbst zu finden? Sein Geld – denn dieses geheimnisvolle Geld kam ja mit demselben Recht dem Sohne zu, wie es einst dem Vater zugekommen war – würde ihn dort verschlingen. Es würde ihn immer tiefer unter einer Lawine begraben. Es würde ihn in seinem eigenen Gefühl unruhig und unsicher, in den Augen der Armen oder Minderbemittelten aber verhaßt machen.

»Wirklich«, dachte Peter tief innerlich belustigt, »ich habe das Glück gehabt, diesem Netz zu entschlüpfen. Ein Mord hat mich gerettet. Ich habe nutzlos gelebt, aber wenigstens habe ich niemandem vorsätzlich Schaden zugefügt, und vielleicht habe ich sogar hie und da ganz verstohlen etwas Gutes getan. Ich habe weder Haß noch Furcht gekannt und mir meine geistige Freiheit bewahrt. Dieser Junge ist allzu musterhaft. Er wird im Sturm die Segel nicht bergen und daher Schiffbruch leiden. Aber alle Schiffe müssen am Ende untergehen, oder sie werden in irgend einem schäbigen Hafen zu Brennholz zerhackt – das ist weniger glorreich. Lassen wir also den Burschen wenigstens diese Sommerferien genießen und die schöne Erinnerung an ein Stückchen blauen Himmels mitnehmen. Sonderbar, wie wenig Befriedigung man selbst über den allervorbildlichsten Sprößling empfindet! Bei Oliver scheint schon das bloße Problem seiner Zukunft und der Ausdruck seiner Augen eine vorwurfsvolle Frage zu enthalten, warum er in diese Welt gesetzt wurde. Es wäre schließlich doch besser gewesen, wenn ich nie geheiratet hätte. Dann wäre es mir leicht gefallen, der menschlichen Gesellschaft im allgemeinen den richtigen Tribut zu zahlen: ich hätte ein Buch über Reisen oder über die Schiffe des sechzehnten Jahrhunderts schreiben können; ich hätte Kunstwerke sammeln und sie dem Museum von Boston schenken können. Aber über das Wohl eines Sohnes, einer wirklichen, lebenden Seele, richtig zu entscheiden – das ist fast unmöglich!«


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