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Hotel Victoria, Boston, 10. Juli 1907
Liebstes kleines Lieschen!
Wie überrascht wirst Du sein, wenn Du siehst, daß Deine liebe, verbannte Schwester ihren Brief aus Boston datiert! Ja, ich bin frei! Das arme, einsame Vögelchen ist aus seinem goldenen Käfig entkommen! Ich bin allein in dieser Weltstadt. Wie ist das zugegangen? Habe ich mich mit Frau Alden gezankt und bin ich nun eine verstoßene Bettlerin? Bin ich mit einem jungen Geliebten durchgebrannt – ach Gott, wer sollte das wohl sein? – und habe mich heimlich verheiratet? Nein, nichts so Aufregendes. Der Herr Doktor hat einfach meinen Oliver gebeten, zu ihm auf seine Vergnügungsjacht zu kommen, und da Oliver nach Ansicht seiner Eltern noch zu jung ist, um allein zu reisen, bin ich mit meinem lieben Schüler nach Boston gefahren.
Eigentlich ist er ja gar nicht mehr mein Schüler, da er seit zwei Jahren zur Schule geht, doch in Wirklichkeit lernen und lesen wir zusammen ganz wie in den alten schönen Zeiten, besonders während der Ferien. Anfangs war mir der Gedanke schrecklich, daß er zur Schule sollte, und ich schlug notgedrungen vor, daß ich dann gehen wollte, entweder nach Deutschland, oder vielleicht nach Milwaukee, Chicago oder sonst wohin, um mich nach einer richtigen Anstellung als deutsche Lehrerin umzusehen. Aber alle sagten nein; sie brauchten mich, und ich sollte nun nicht mehr Fräulein und Gouvernante sein, sondern einfach Irma, und zur Familie gehören. Wie mir da die Tränen herunterliefen! Ich mußte Frau Alden und Oliver einfach küssen, obgleich ich sie weder vorher noch nachher jemals geküßt habe. ›Was?‹ wirst Du fragen, ›Du hast den kleinen Oliver nie geküßt, selbst anfangs nicht, als er vier Jahre alt war?‹ – Nein, es war verboten! In diesem Lande küßt man die Kinder nicht. Aber, weißt Du, deswegen wachsen sie doch nicht ganz gefühllos auf; vielleicht gerade im Gegenteil!
Du hast sicherlich in den Zeitungen von unserer schrecklichen Hitzewelle gelesen. In New York schlafen die Leute halbnackt auf den Dächern oder in den Parks, Arbeiter brechen zusammen, und Kinder sterben. Auch in High Bluff gab der spärliche Schatten der Kiefern wenig Schutz; der Sand und die abgefallenen Kiefernnadeln am Boden strahlten Hitze aus wie ein Ofen. Oliver konnte allerdings schwimmen gehen, aber man kann doch den Kopf nicht dauernd unter Wasser halten; er sagte, daß seine Augen von der grellen Sonne schmerzten, und daß die Erfrischung, die das Bad vielleicht gab, durch den staubigen Weg zum Fluß hin und zurück gleich Null würde. Auch hier in Boston ist es drückend heiß; aber gestern kam ein Hauch von Westwind, und alles atmete einen Augenblick wieder auf.
Du fragst vielleicht: warum ist denn Frau Alden nicht selbst mit ihrem Sohn hergekommen? Ach, das hängt mit einer ihrer Schrullen zusammen! Sie kann sich nicht entschließen, ihr Haus zu verlassen. Wie oft habe ich in den ersten Jahren angeregt, wir sollten doch einmal ein paar Wochen an die See oder im Winter nach Washington oder New York gehen. Oliver hätte wie gewöhnlich morgens bei mir seinen Unterricht haben können, nachmittags hätten wir die Sehenswürdigkeiten angeschaut, und am Abend, wenn er im Bett lag, wären wir in die Oper gegangen. Aber nein, Frau Alden wollte nichts davon hören. Die Reise wäre so ermüdend, meinte sie, die Hotels so überfüllt und geräuschvoll, die fremden, gemieteten Betten so unheimlich und unangenehm, das Essen zusammengepanscht, zu schwer und vielleicht schädlich, und die andern Leute so laut und vulgär. Im Sommer wäre die Hitze überall ebenso schlimm wie zu Hause, wo wir größeren Komfort und mehr Platz hätten, und Great Falls sei wirklich gar nicht weit weg vom Meer – der Seewind käme meilenweit den Fluß herauf – und Haus Bumstead läge auf einem so hohen Hügel, daß es wirklich nicht der Mühe wert sei, in die Berge zu gehen.
Das sagt sie; aber ich weiß, sie denkt außerdem, daß sie an einem vornehmen Badeort oder in einer großen Stadt nicht besonders elegant wirken würde und für meine Mutter gehalten werden könnte. Denn – wirst Du es glauben? – obwohl sie so viel Geld hat, haßt sie das Einkaufen. Sie kommt mit ein paar alten Kleidern in Schwarz und Dunkelblau aus; wenn sie fortgeht, zieht sie einen »gediegenen« Schneidermantel mit Pelz oder im Sommer einen seidenen Mantel darüber, der fast alles deckt; und wenn sie einmal ihre Perlohrringe oder ihr Halsband trägt und dazu den schönen Spitzenausputz, wie man ihn jetzt vorn am Halsausschnitt hat, so findet sie sich elegant genug, um in Great Falls zu imponieren, zumal jedermann weiß, daß sie reich ist, und sie jenseits aller Kritik steht. Abends zu Hause trägt sie immer ein und dasselbe lose Gewand in Taubengrau mit weißer Spitze; so lange, bis es in Fetzen geht; dann läßt sie sich ein neues machen, das dem alten möglichst ähnlich ist. Diese Kleidung, sagt sie, sei das Richtige für die Frau eines Alden und bewahre sie davor, wie ein dummer Backfisch daran denken zu müssen, was sie anziehen soll.
Oliver ist in dieser Hinsicht ganz wie seine Mutter. Er will nie mehr Kleidungsstücke haben, als er unbedingt braucht; und immer dieselben Sachen in denselben Farben. Was für eine schlechte, boshafte Göttin ist doch Fortuna, daß sie das Geld so grausam den verkehrten Menschen zuteilt! Wenn Du und ich reich wären, wie glücklich wollten wir da sein! Und diese schwerreichen Leute hier – sie haben keine Vorstellung davon, wie reich sie sind, denn der Doktor spricht nicht darüber und weiß es im Grunde vielleicht selbst nicht ganz genau – Leute also, die alles haben könnten, haben eigentlich nichts! Dieser ansehnlichen Frau, wenig über fünfzig, macht es nichts aus, alt zu wirken; niemals hat sie Lust zu reisen oder ins Theater zu gehen oder sich mit herrlichen Kleidern zu schmücken. Sie möchte einfach still und stattlich zu Hause sitzen und ihre Vollkommenheit genießen. Eine Quäkerkönigin hat ihr Mann sie einmal genannt, und das gefiel ihr schrecklich gut. Sie lieben beide die Zurückgezogenheit und Eintönigkeit so sehr, als wären sie neunzig. Ob sie das Gefühl haben, daß sie sich bei einem Versuch, anders zu leben, nicht besonders geschickt anstellen würden? So tauschen sie zu Hause über ihrem gebratenen Huhn und ihrem Brotpudding ein paar fade Gemeinplätze aus, sitzen noch stundenlang nachher im Wohnzimmer und tun, als ob sie läsen, während sie alle paar Minuten auf die Uhr schauen und ein Gähnen unterdrücken, weil Frau Alden es nicht für richtig hält, vor halb zehn ins Bett zu gehen.
Du solltest dagegen meine Abendkleider für daheim sehen! Eins ist himmelblau und das andere pfirsichfarben. Ich habe sie beide selbst zugeschnitten und auf der Maschine genäht, und Du kannst Dir nicht vorstellen, wie süß ich in ihnen aussehe. Das blaue hat schwarze Samtschleifen, und ich trage eine rote Rose dazu oder ein paar Geranien aus unserem Blumenbeet (wir haben keinen richtigen Garten, nur Rasen und Kiefernwald) wegen der Farbenharmonie. Das pfirsichfarbene Kleid ist ganz und gar mit applizierten Herbstblättern verziert, ich schnitt sie aus den Resten eines schweren Brokats aus, der von der Arbeitstasche übriggeblieben ist, die ich für Frau Alden als Weihnachtsgeschenk gemacht habe; die Stiche um jedes Blatt und die Stiele sind aus echtem Goldfaden! Es wird allgemein bewundert; und ich trage, wenn ich sie kriegen kann, weiße Blumen dazu.
Manchmal spiele ich noch meine alten Chopinstücke oder singe eins meiner lieben, alten Schumannlieder, aber ich finde kaum Zeit zum Üben. Kürzlich jedoch habe ich eine große Entdeckung gemacht. Oliver hat eine wunderschöne Tenorstimme. Ich gebe ihm Gesangstunden, doch mag er nicht singen, ›um sich zu zeigen‹, wie er es nennt. Nur einmal in der Kirche, an einer Stelle, wo die Gemeinde in den Choral mit einstimmen soll, ließ er seine Stimme ein bißchen los. Wahrscheinlich, weil er die Melodie liebte – es war › Adeste Fideles‹, aber in so armseligen englischen Worten – er konnte so leicht mit seiner vollen, natürlichen Stimme alle Intervalle treffen, ohne in der Höhe dünn und schreiend oder in der Tiefe keuchend und tonlos zu werden, wie es den meisten von uns passiert. Die Leute fingen sofort an, sich vorsichtig umzusehen und einander wohlwollend anzulächeln, sodaß ich beinahe hören konnte, wie sie dachten: ›Was für eine schöne Stimme der junge Alden hat, und wie begeistert er singt! Am Ende will er Geistlicher werden?‹ Denn, weißt Du, abgesehen von dem bezahlten Quartett, summen alle Leute die Melodien hier bloß so mit. Natürlich hörte Oliver sofort auf, als er merkte, daß er Aufmerksamkeit erregte, und seitdem hat er nie wieder in der Kirche gesungen. Manchmal, wenn wir in dem marmornen Pavillon auf der höchsten Spitze des Hügels sitzen, möchte er wirklich etwas singen, aber da haben wir kein Klavier und können keine großen Fortschritte machen.
Ich sende Dir seine letzte Photographie, die ihm nicht einmal gerecht wird, denn er hat in seiner ganzen Art eine Anmut und Männlichkeit, die sich nicht photographieren läßt; aber Du kannst sehen, wie vornehm er aussieht mit seinen klaren, großen Augen und seinem hellen Haar, so groß und schlank und zurückhaltend! Der junge Sohn des Großherzogs von Weimar, den wir, wie Du Dich wohl erinnern kannst, einmal auf dem Bahnhof getroffen haben, sah ihm etwas ähnlich.
Doch worüber schreibe ich eigentlich? Ich bin so weitschweifig, und Du möchtest sicher von meiner wundervollen Reise hören. Aber es macht nichts, daß ich ein bißchen in die Vergangenheit geraten bin, denn der ganze Abend liegt noch vor mir, und ich weiß nicht, was ich so allein in der fremden Stadt unternehmen soll. Warum ist es ihnen nicht in den Sinn gekommen, auch ich könnte zu jung sein, um allein zu reisen? Ich bin kaum vierunddreißig, und die Leute halten mich für fünfundzwanzig. Von rückwärts, sagen sie, sehe ich aus wie achtzehn. Und doch läßt man mich ohne Schutz, als ob es in einem Hotel, das voller Männer ist, keine Gefahr gäbe. Aber warum, ach warum, konnte ich nicht mit den andern in dieser herrlichen Jacht auf das große, wilde Meer hinaussegeln? Wie selig wäre ich gewesen als einzige Frau an Bord! Ich legte es Dr. Alden nahe, aber vergeblich! Niemand brauchte mich.
Also, als wir in Boston ankamen, gingen Oliver und ich in das Hotel auf dem Beacon Hill, wo der Herr Doktor immer absteigt. Er wohnte früher als Junge ganz in der Nähe, mit einem geheimnisvollen Bruder, der dort noch immer ein Einsiedlerleben führt, den aber der Doktor niemals sieht. Doch hat er eine unheimliche Vorliebe dafür, die alten Orte aufzusuchen, um altbekannte Straßenecken zu biegen und in denselben altbekannten Läden einzukaufen, obwohl die besten Hotels jetzt in einem ganz andern Stadtviertel liegen. Daher siedelte ich, als der Doktor und Oliver auf die Jacht gingen, hierher über, wo die Kellner weiß sind – sie waren in dem ersten Hotel schwarz, was mir zunächst immer den Appetit verdirbt, obwohl er allemal bald wieder kommt. Das Victoria liegt im eigentlichen Wohnviertel und paßt besser für eine alleinreisende junge Dame.
Und was habe ich alles gesehen? Furchtbar viel: die Bibliothek und den Ludovisi-Thron und Mrs. Gardeners venezianischen Palast; und ich hätte auch Farneuil-Hall und die alte Kirche und das Bunker-Hill-Denkmal besuchen können, aber es ist so heiß, und ich war zu sehr von meinen Besorgungen in Anspruch genommen. Ich habe nicht sehr viel gekauft, aber oh! die herrlichen Sachen, die ich mir angeguckt habe. Bei der neuen, loser gehaltenen Mode werden die Kleider, die ich mir zu Hause machen will, ausgezeichnet passen; aber ich habe einen Wintermantel gekauft – zu halbem Preis wegen der Hitze – zwei neue Hüte und wunderbares Leinen. Du fragst wohl, was aus meinen Ersparnissen wird, und wovon ich leben will, wenn ich eine alte Jungfer bin? Nein, mein Erspartes habe ich nicht angerührt, denn der Herr Doktor hat mir einen Scheck über 200 Dollar gegeben, und meine Reiseausgaben werden kaum mehr als 50 betragen; so habe ich einen kleinen Überschuß als Nadelgeld. Außerdem bin ich noch beim Zahnarzt gewesen, denn wenn auch der in der Great Falls alles sehr gut macht, ist er doch alt und der hiesige ist jung, ein Deutscher, sieht nett aus und tut einem nicht so weh. Aber er ist verheiratet.
Unglücklicherweise treten in dieser Jahreszeit keine großen Künstler in den Theatern und Konzerten auf; aber natürlich gehe ich jeden Tag in den Kinematographen und weide mich geradezu daran, Liebe aus solcher Nähe mit anzusehen. Es kommt mir fast vor, als ob ich selbst es wäre, die da geküßt wird. Zu viel davon würde mir wohl nicht gut bekommen. Aber Oliver kommt in ein paar Tagen zurück, und dann werden alle diese Erlebnisse Deiner lieben Schwester, ach, nur noch eine Erinnerung sein!