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4

Abgesehen davon, daß die Zeit in Wyoming zu Peters sittlicher Besserung dienen sollte, ließ sie sich als voller Erfolg buchen. Zuerst kam die lange Reise mit der Pazifischen Eisenbahn über die Prärien, dann eine zweite lange Reise mit Postkutsche und Wagen bis zum Ufer eines klaren Sees am Fuß fichtenbewaldeter Berge. Über allem lag der Reiz der Neuheit, der Zauber unerwarteter kleiner Abenteuer und die Romantik erfinderischer kleiner Einfälle, dank derer man jenseits der Zivilisation noch zivilisiert leben konnte.

Das Leben im Lager war für Peter eine Gabe Gottes; er genoß alles: die gesunde Mischung von Sauberkeit und Rauheit, das Essen, das die Jungen selbst zubereiteten, die wenigen Ferienschulbücher, die zu dem einfachen Leben hier draußen paßten und frisch und abenteuerlich waren: ein paar Stücke aus dem alten Testament, ein paar aus Xenophon und aus den Georgica, Geschichten von Drake, von Nelson und von Kapitän Cook; dann die zahlreichen Gespräche über Indien, wo Mr. Lowe als vorzüglicher Missionar mehr gelernt hatte, als andere zu lehren wußten; und vor allem die sonderbare Gesellschaft der »zurückgebliebenen« Jungen selbst, dieser zusammengewürfelten Exemplare, denen die Anpassung an ihre Umgebung mißglückt war. Unter ihnen hob sich besonders der Sohn eines indischen Rajah hervor, der an Zurückgebliebenheit im Lernen wie an Fortgeschrittenheit in Lebenserfahrung alle andern weit überbot.

»Schämt euch nicht«, pflegte Mr. Lowe in seinen kurzen Ansprachen vor dem Abendessen zu sagen, »schämt euch nicht, weil man euch zurückgebliebene Knaben nennt. Vor Gott sind wir alle zurückgebliebene Knaben. Seid in Einfalt tapfer, dann seid ihr weiser als die meisten gelehrten Männer. Gewöhnt euch die Ehrfurcht vor dem Menschenwerk ab. Der Mensch ist nur eins unter Gottes vielen Geschöpfen; hier in der Wildnis seht ihr, wie wenig sein Stolz und sein Schicksal im Vergleich zum Weltall bedeuten. Eine Frau ist genau so viel wert wie ein Mann, so lange sie nicht versucht, ihm ähnlich zu sein; und so ist auch ein zurückgebliebener Junge gerade so gut wie ein fortgeschrittener, oder sogar noch besser, wenn er aus seiner Zurückgebliebenheit die Lehre zieht, daß ein Mensch auf der letzten, hintersten Kirchenbank Gott ebenso nah sein kann wie im vordersten Chorstuhl. Seid deshalb nicht beleidigt, daß dieses Lager als Lager für zurückgebliebene Knaben bezeichnet wird; das ist liebevoll gemeint, und es gibt ein heiliges Wort, das ich mir gerne im geheimen immer wieder sage: ›Die Ersten sollen die Letzten sein‹.«

Diese Lehre machte auf Peter tiefen Eindruck. Er fühlte sich müde und schwach, und er spürte, daß seine Bekannten in Boston unter ihrer zur Schau getragenen Steifheit gleichfalls schwach waren. Überall herrschte Schein und Verstellung; so erfüllte ihn der Gedanke, daß die ganze Menschheit im Weltall vielleicht nur die Rolle des unverbesserlichen Tunichtgutes spiele, mit seltsam tiefsinnigem Humor und sarkastischem Mitleid. Auch den riesigen Fichten ringsum, den zottigen Bisons, den Frettchen und Bibern, den Forellen und den springenden Lachsen erging es im Grunde nicht anders; alle machten von sich viel Aufhebens und suchten doch nur ihr Leben zu fristen, und jedes war zweifellos innerhalb seines eigenen Bereiches nur ein Tunichtgut. Ein Rajah gehörte zu den Herren dieser Erde und wirkte auf seinem goldenen Thron wahrscheinlich glänzend; aber sieh ihn hier an in all seiner Kleinheit: er ist unaussprechlich hilflos und einzig dadurch liebenswürdig, daß er geradezu schamlos auf jeden Anschein von Würde verzichtet. Peter fühlte sich fast versöhnt mit der Falschheit der andern und der eigenen Schwäche. Alles in allem war er noch gut weggekommen; er brachte es fertig, bloß hilflos zu sein, ohne zugleich auch falsch und zerstörerisch zu werden. Diese zurückgebliebenen Burschen waren allerdings eine sonderbare Bande, doch hatte er sich noch nie so frei und glücklich gefühlt wie jetzt in ihrer Gesellschaft.

Besonders schloß er sich an den Sohn des Rajah an. Er half ihm bei seinen Aufgaben und lernte dafür von ihm eine neue Moraltheorie, die von lebhaften Schilderungen begleitet war, wie man sie in die Tat umsetzen könne. Der Schauplatz lag nicht in irgend einem orientalischen Paradies, sondern in Leicester Square. Heidnische Laster waren für diesen dunkelhäutigen Jüngling blendende Tugenden; und die einzige Schwäche, zu der er sich bekannte, war seine Unfähigkeit, sich mit allen Lastern zugleich abzugeben. Peter lachte; er hatte Mitgefühl für arme, reiche Kerle wie den Rajahsohn und sich selbst. Im Leben an einen bevorzugten Platz gestellt zu sein, wo Großes von einem erwartet wurde, war recht hart, wenn man von Natur nur eine arme, kleine, graue Maus war, die nichts wünschte, als sich zu verkriechen, überall herumzuknabbern und sich in irgend einer Ecke vergnügen zu dürfen. Und waren diese verborgenen kleinen Freuden wirklich so klein? Wo gab es denn sonst Poesie, Gerechtigkeit und Wahrheit? Die große, öffentliche, ehrenwerte Welt, sie war doch in Wirklichkeit nur Schall und Rauch!

Echte Cowboys kamen manchmal ins Lager geritten, um dort zu rasten, mitzuessen oder Medikamente zu holen, von denen Mr. Lowe für alle Fälle einen genügenden Vorrat zur Hand hatte. Mit zwei jungen Engländern, die auf einer Ranch in einem Tale weiter oberhalb hausten, tauschte man regelmäßig Zeitungen und Zeitschriften aus. Die Cowboys und vor allem die Engländer gaben Peter manche Hinweise, für die er ihnen dankbar war. Sie klärten ihn darüber auf, daß Beacon Street tatsächlich nicht die Welt bedeutete. Es gab Leute, die von diesem Ort noch nie gehört hatten, oder die er ganz kalt ließ, auch wenn sie ihn kannten, wie zum Beispiel diese Engländer. Peter war zu Hause ruhelos gewesen, ohne zu wissen, wonach er sich sehnte. Manchmal hatte er instinktiv den Weg zu den Schiffswerften gefunden – man kann sein ganzes Leben in Boston verbringen, ohne zu merken, daß es ein Seehafen ist – und hatte sich ausgemalt, was wohl geschehen würde, wenn er davonliefe und zur See ginge wie Dick Dana. Aber er war zu jung und zu unentschlossen; seine verschwommenen Tagträume hatten damit geendet, daß er mit einem vagen Gefühl von Schuld und Unfähigkeit wieder nach Hause schlich. Hier in den Rocky Mountains aber bekam die Karte der Welt in seiner Einbildungskraft erst die richtigen Farben; seine Wanderlust erwachte. Er verschlang Mr. Lowes Vorrat an Abenteurergeschichten; er behielt alles im Gedächtnis, was Mr. Lowe oder die Jungen oder die Nachbarn, die auf Besuch kamen, zufällig einmal von fremden Menschen oder fernen Gegenden erzählten. Körperlich blieb er schlaff, aber seine Augen und seine Phantasie hellten sich auf; allmählich wurde er im Lager als witziger Kopf und als Mr. Lowes rechte Hand anerkannt; und der Bericht über ihn, der am Ende des Sommers nach Hause abging, lautete so günstig, daß das Versprechen, ihn nach Exeter und nach Harvard zu schicken, erfüllt werden mußte.

Sein Bruder Nathaniel war nach Kaufmannsart äußerst gewissenhaft in allem, was mit Verträgen und Versprechen zusammenhing; andererseits beruhigte Peters gute Führung ihn nicht im geringsten; der Junge blieb trotz allem das geborene schwarze Schaf. Seine Mutter – die zweite Frau seines Vaters – stammte aus Baltimore, also fast aus dem Süden; und konnte irgend etwas Gutes aus dem Süden kommen? Deswegen strebte Nathaniel unwillkürlich danach, Peter auf anständige Art loszuwerden; ein bekehrter und normaler Peter, den er wiedersehen, mit dem er vielleicht zusammenleben mußte, war ihm noch unbequemer als ein Peter, der offenkundig vor die Hunde ging. Nahm er seinen Bruder wieder bei sich auf, so wurde er fast zum Mitschuldigen an der Katastrophe, die auf alle Fälle schließlich doch eintreten mußte; wieviel sicherer konnte sein Gewissen die drohende Bestätigung der Moralgesetze aus der Entfernung beobachten! Und es gab in der Tat eine ebenso anständige wie bequeme Möglichkeit, sich allem zu entziehen.

Peter hatte noch eine andere nahe Verwandte, die sich genau so gut seiner annehmen konnte: das war seine Stiefschwester Karoline, die schon seit langem mit Mr. Erasmus van de Weyer, einem wohlhabenden Bankier, verheiratet war. Nathaniel suchte sie niemals auf, obwohl die beiden Familien stets den Sommer in Newport verbrachten; zu Streitigkeiten war es nicht gekommen, nur zu einem Abbruch des Verkehrs, der zugleich einen Abbruch von Feindseligkeiten bedeutete. Er und diese Dame waren nicht im geringsten blutsverwandt. Sein verwitweter Vater hatte ihre verwitwete Mutter geheiratet, als die beiden Kinder schon alt genug waren, um es als seltsam zu empfinden, daß sie plötzlich einen neuen Vater oder eine neue Mutter und einen neuen Bruder oder eine neue Schwester bekamen; und sie hatten sich stets nur mit spöttischem Beiklang Bruder Nathaniel und Schwester Karoline genannt. Sie waren genau gleichaltrig; daher fühlte sich der Junge von Anfang an unterlegen, und des Mädchens Freude an bösen Streichen und freien Reden bekümmerte sein Bostoner Gewissen schwer. Sie versteckte Heuschrecken und Raupen in seinem Bett und Reißnägel in seinem Stuhl, was er lediglich damit vergalt, daß er sie würdevoll als Hexe bezeichnete. Glücklicherweise hatte sie sehr jung geheiratet und wohnte nun im fernen New York; aber jetzt rechtfertigte in seinen Augen die Vorsehung endlich ihr Dasein. Denn es war für alle Teile die passendste Lösung, daß sie und ihr hochangesehener Gatte ihn nun von diesem Ismael befreiten.

Vorsichtig wurden durch Kusine Hannah Bancroft, welche die van de Weyers einmal im Jahre zu besuchen pflegte, die Verhandlungen in die Wege geleitet. Karoline nahm den Vorschlag mit Begeisterung auf. Die beiderseitigen Rechtsanwälte ordneten die Einzelheiten, und dann konnte Nathaniel die Obhut über diesen traurigen Burschen, der sich nur scheinbar plötzlich zum Guten bekehrt hatte, der andern Seite der Familie übertragen. So blieb ihm künftig jede unmittelbare Berührung mit dem Bösen erspart; während die van de Weyers, weltlich, frivol und moralisch abgebrüht wie sie nun einmal waren, vermutlich nur die Achseln zucken würden, wenn dann letzten Endes, was bestimmt geschehen mußte, Peter sich als »schwarzer Peter« entpuppte. (Das war der einzige Witz, den Mr. Nathaniel Alden je gemacht hatte, dafür wiederholte er ihn um so häufiger.)

Als die Rückkehr des verlorenen Sohnes bevorstand, machte Mr. Alden seiner Schwester, wie verabredet, einen formellen Besuch, um ihr die Sorge für den Pflegling ordnungsgemäß zu übertragen.

Er wurde in ein großes, luftiges Wohnzimmer geführt. Von drei Seiten her strömten durch große Flügelfenster Sonnenlicht und Meereshauch dieses warmen Septembernachmittags herein, durch Fliegenfenster und Spitzenvorhänge kaum behindert. Draußen gab es nichts als grünen Rasen und blaues Meer; von irgendwelchen Nachbarhäusern keine Spur; und unwillkürlich seufzte der Besucher ein wenig, als verursache all die offene Frische seinen engen Lungen eine schmerzliche Bedrängnis. Wie anders wirkte sein eigenes Haus im älteren Teile Newports, das von der Hauptstraße nur durch einen Holzzaun und eine Reihe staubiger Fliederbüsche getrennt war, während an der Rückseite ein ungepflegter Abhang zwischen einem zweitklassigen Hotel und einem alten Holzschuppen einen verwahrlosten Weg zum Hafen hinunter bildete.

Im ersten Augenblick fühlte Nathaniel etwas wie Neid und Beschämung; doch ein zweiter Blick auf den sonnigen Raum stellte das Überlegenheitsgefühl wieder her, dessen sein moralisches Ich unbedingt bedurfte. Alles, was er war und hatte, mußte richtig sein, und was er nicht war und nicht hatte, falsch; wie hätte er sonst vor dem Universum bestehen können? Dieser wichtigste Grundsatz seiner echt amerikanischen Ethik bestätigte sich ihm sofort durch den Augenschein. Sein eigenes sogenanntes Landhaus mochte von außen gesehen zwar etwas gedrückt erscheinen, wie auch sein Leben: aber im Inneren herrschten höchste Korrektheit, keusche Vornehmheit, tiefe Ruhe! Dagegen wirkte dieses nach allen Richtungen breit und offen angelegte, aufdringlich prunkvolle Besitztum im Grunde nur gewöhnlich. Der Raum war überladen mit kleinen Sofas, Stühlchen, blühenden Pflanzen in Porzellantöpfen, Blumen in Kristallvasen, Photographien in silbernen Rahmen, Arbeitskörbchen, Kissen, Fußschemeln, Büchern und Zeitschriften, während der Wandschmuck in einem Mosaik von Krimskrams bestand. Da gab es keine Werke verdienstvoller Künstler wie in seinem eigenen Hause, sondern Etageren mit Nippes, schwächliche Aquarelle, sentimentale Stiche und blitzende Spiegel in protzigen Rahmen. Konnte die Herrin dieses Hauses wirklich die Tochter – wenn auch nur die Stieftochter – seines eigenen Vaters sein, dieses redlichen, peinlich genauen und so schrecklich hingemordeten Mannes?

Aber nun erschien endlich die Dame des Hauses selbst, die offenbar vorher noch Toilette gemacht hatte. Er erhob sich steif von seinem Sitz, doch bevor er Zeit zu einer artigen Begrüßung gefunden hatte, umschlang sie ihn mit beiden Armen und gab ihm einen weichen, warmen, unbefangenen und ziemlich geräuschvollen Kuß auf die Wange.

»Lieber Nathaniel«, rief sie aus, »also, setz dich hier neben mich und laß uns gemütlich plaudern! Mehr als je sind wir jetzt Bruder und Schwester! Wie entzückend, daß du mir meinen kleinen Bruder wiederbringen willst! Ich fühle mich ganz wie Elsa von Brabant, und du kommst mir vor wie Lohengrin oder der liebe Schwan. Zwar siehst du gar nicht wie Lohengrin aus«, fügte sie hinzu und lachte so ausgelassen, daß ihr die Tränen in die Augen kamen, »und auch nicht wie der Schwan; aber du benimmst dich wie ein Engel, und das ist genug. Aus dem Nichts zauberst du mir mein liebes Peterchen zurück. Weißt du noch? Wie er ein Baby war, nahm ich ihn viel lieber auf den Schoß als meine Puppen und bewegte seine Ärmchen und Beinchen, um auszuprobieren, ob er richtige Gelenke hätte. Und er mochte das gern; es war damals sein größtes Vergnügen. So wird's jetzt wieder werden. Erasmus – mein Mann, weißt du – und ich, wir werden ihn schon aufmöbeln. Er soll nach Herzenslust tanzen, soll Krocket und Polo spielen und den jungen Mädchen nachsteigen, bis er die schlechte Gesellschaft ganz vergißt, in der er sich herumgetrieben hat. Was hat er eigentlich angestellt? Es wäre nicht recht, Rasmy und mir gegenüber die Sache zu vertuschen, wenn wir uns richtig um das Kind kümmern sollen. Hat sich's um Spielen, Trinken oder um Frauen gehandelt? Am Ende um alles miteinander. Diese jungen Leute von heutzutage sind ja oft solche Draufgänger ...«

Nathaniel kam in seiner nervösen Verlegenheit gar nicht dazu, Antwort auf eine Frage zu geben, sie sprudelte sofort die nächste hervor. Er betrachtete sie eingehend; sie war eine blühende junge Frau, strahlend in einer verwirrenden Fülle von Tüllrüschen, die mit lavendelfarbener Seide eingefaßt waren. Zu dem imponierenden Aufbau ihres Chignon hatten wohl mehrere kastanienbraune Köpfe und ein Pferdeschwanz das Material geliefert; dazu trug sie eine Menge Schmuck und Spitzen; ein Busch rosa Rosen, der sich an ihrem nur gerade verschleierten Busen wiegte, wetteiferte mit ihm an zartem Reiz. Diese aufgezwungene Schwester war entschieden eine gräßliche Person. Konnte sich eine wirkliche Dame so frei und offenherzig geben? Sie war nicht wie die wohlerzogenen Frauen seiner Familie, eher wie irgend ein Barmädchen aus einer Dickensschen Erzählung oder eine verdorbene Herzogin aus einem Memoirenwerk des achtzehnten Jahrhunderts. Lieferte er seinen unglücklichen Bruder am Ende leichtfertigen, verschwenderischen, haltlosen Leuten aus?

Inzwischen bestand Mrs. van de Weyer auf der Beantwortung ihrer vielen Fragen. Nein, er glaubte nicht, daß Peter gespielt hatte, er konnte auch nicht behaupten, daß er dem Trunk ergeben war, er wußte nicht einmal genau, ob irgend etwas geradezu – geradezu Unmoralisches passiert war; aber trotzdem –

»Na ja, dann weiß ich's schon; dann war's nichts. Ein paar Streiche in der Vorstadt. Ganz natürlich! Wie alt ist er eigentlich? Achtzehn? Gerade das richtige Alter für Dummheiten! Junge Burschen unterschätzen ihre Anziehungskraft und wollen bei Köchinnen und Bauernmädchen mühelos Eroberungen machen. Das kommt bloß von ihrer Unerfahrenheit. Du mußt dich doch aus deiner eigenen Jugend an diese Zeit erinnern, nur machst du jetzt ein feierliches Gesicht und willst es gern vergessen.«

»Ich?« Nathaniel schnappte vor Entsetzen nach Luft. Karoline, die sehr temperamentvoll und an aufrichtige oder gespielte Galanterien von seiten ihrer männlichen Bekannten gewöhnt war, konnte nicht ahnen, daß Nathaniel mehr Heldenmut gebraucht hätte, um einer Versuchung nachzugeben, als der heilige Antonius gebraucht hätte, um ihr zu widerstehen.

»Nein? So bist du deiner alten Jugendliebe zu mir wirklich treu geblieben? Wie rührend! Selbst nachdem ich dich verlassen und einen andern geheiratet habe? Wie romantisch!«

»Meiner – meiner Liebe zu dir

»Aber gewiß! Du wirst mir doch nicht weismachen, du hättest vergessen, daß wir ineinander verliebt waren? Natürlich waren wir unausstehlich mit unseren gegenseitigen Hänseleien; aber bei schlecht erzogenen Kindern ist das ja immer ein Zeichen von Verliebtheit. Die arme Mama war zu schön, um sich recht um uns zu kümmern; alle auffallend schönen Frauen sind eben die Sklavinnen ihres Spiegels. Jedenfalls war die Gelegenheit für uns beide zu verlockend. Kein Mädel von dreizehn Jahren hätte sie sich entgehen lassen. Bedenke doch! Zwei halbwüchsige Kinder, die sich vorher noch nie gesehen haben, wohnen plötzlich als Bruder und Schwester unter einem Dach zusammen. Muß ihnen das nicht den Kopf verdrehen und zarte Gefühle in ihnen wecken? Zumal unsere hoffnungslose, romantische, unerlaubte Neigung so leicht glücklich hätte enden können, da wir ja schließlich gar nicht blutsverwandt waren! Ach, Nathaniel! Vielleicht hätten wir unsern eigenen Weg gehen und diese Verbindung durchsetzen sollen. Warum eigentlich nicht? Für dich wenigstens wäre es sicher besser gewesen. Von mir darf ich das nicht sagen, um des lieben Rasmy willen nicht, der ein so guter Ehemann ist. Doch wer weiß, wer weiß?«

Nathaniel, der langsam zu der Überzeugung kam, daß das alles nur Spaß war, ein sehr schlechter Spaß allerdings, versuchte ein wenig zu lächeln und wechselte das Thema. Als Peters Mitvormund lag ihm die Frage am Herzen, wieviel Taschengeld Peter ihrer Meinung nach bekommen sollte, solange er in ihrer Obhut war.

»Wie groß ist denn sein Vermögen?«

Nathaniel konnte sich niemals überwinden, die Gesamtsumme seines eigenen oder des brüderlichen Vermögens zu nennen und versuchte sogar, sie zu vergessen. Sie würde sich in der Tat übergroß angehört haben, und doch machten sie ja nur auf die denkbar maßvollste und anständigste Art Gebrauch davon.

»Ach«, sagte er, »ich kann mich nicht recht auf mein Zahlengedächtnis verlassen, aber wenn alles gut geht, wird er eines Tages ein nettes Einkommen, ein sehr ordentliches Einkommen haben. Doch darum handelt es sich jetzt nicht. Wieviel sollen wir ihm außer dem Geld für Schule und College noch für Kleider, Reisen und Werke der Barmherzigkeit zur Verfügung stellen? Wären zehn Dollar im Monat zu viel?«

»Zehn Dollar? Das reicht nicht einmal, um seine Wäscherin zu bezahlen. Ich werde Erasmus fragen, was er meint, und wir teilen es dir dann mit. Peter muß unbedingt genug haben, um sich gut anzuziehen. Schäbige Kleider dulde ich in meinem Hause nicht. Nein, deswegen brauchst du jetzt nicht verlegen zu werden wegen deines alten schwarzen Anzugs. Der ist nicht schäbig, sondern nur altmodisch; er sieht tatsächlich ganz vornehm aus. Ich sage Rasmy immer, daß seine Kleider zu neu wirken, als hätte er sie gar nicht richtig im Gebrauch. Ihr im guten alten Boston habt einen besseren Geschmack. Nur« – sie beugte sich vertraulich zu seiner Sofaecke herüber – »würde ich mir an deiner Stelle neue Handschuhe anschaffen. Weiche, helle Waschlederhandschuhe sind im Sommer viel kühler, außerdem sauberer, gesünder und«, fügte sie in dramatischem Flüstertone hinzu, indem sie ihm so nahe kam, daß ihre duftenden Locken seine Wange berührten, »und, denk nur, billiger

Er erhob sich und streckte seine Hand in rechtem Winkel aus.

»Also, lieber Nathaniel, von jetzt ab mußt du uns öfter besuchen, besonders wenn Peter da ist. Komm jeden Sonntag zum Lunch, wenn's dir paßt; das können wir gleich verabreden.«

»O, vielen Dank, du bist sehr gütig; aber bei meiner angegriffenen Gesundheit gehe ich zum Essen niemals aus. Und wenn Peter bei euch wohnt, wird es wohl klüger sein, ich komme gar nicht. Ich kann es kaum über mich bringen, von diesen Dingen zu sprechen, doch du weißt ja, was geschehen ist; über der letzten Vergangenheit liegt für mich ein dunkler Schatten und wohl auch für ihn, obgleich man in seinem Alter solche Heimsuchungen leichter nimmt. Unser Familienleben hat sich verdüstert. Bei euch kann Peter von vorn anfangen. Laß uns hoffen, daß es ein gutes Ende nimmt. Jedenfalls bin ich davon überzeugt, daß er vorläufig in die angenehmste Umgebung kommt, und es wäre schade, wenn sie ihm durch meine ganz unangebrachte Gegenwart beschattet würde.«

Mrs. van de Weyer sagte daraufhin ihrem Stiefbruder Lebewohl, ohne sich vom Sofa zu erheben, und ohne ihm nochmals einen Kuß anzubieten.


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