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3

Die Ecke, wo die Beacon Street und die Charles Street zusammenstießen, hatte durch ihre zentrale Lage eine besondere Bedeutung. Sie bildete eine Art Landenge, die die Fluten der Negerbevölkerung im Norden der Stadt von denen der Iren im Süden trennte; zugleich verband sie Beacon Hill und Back Bay miteinander, die beiden Inseln der bürgerlichen Ehrbarkeit, auf denen die Bostoner Gesellschaft wohnte. Doch ab und zu fuhr in Richtung der unfeinen Stadtviertel ein klingelnder Pferdebahnwagen vorüber und gab dieser Ecke etwas Beunruhigendes. Ältere Leute begaben sich mit etwas hastigem Schritt von einer Insel zur andern und pflegten einen Augenblick an der Kante des Bürgersteiges stillzustehen und scharf nach beiden Seiten auszuschauen, bevor sie ihren Fuß auf den Streifen aus Steinplatten setzten, der den richtigen Übergang im Lehm der Straße markierte. Nur in dem gleichgerichteten Strom der Fußgänger, der sich an bestimmten Stellen über die Straße ergoß, konnte man unbeobachtet vorwärtskommen; wenn man aber einzeln und im spitzen Winkel über eine Bostoner Straße eilte, wie ein Hund oder ein Kind, das einem Ball nachläuft, dann erschienen in allen Fenstern Köpfe, wunderten sich, was man wohl vorhätte, und die ungünstigsten Schlüsse auf den Charakter des Einzelgängers wurden gezogen. Selbst wenn man nichts Böses im Schilde führte, war es stets sicherer, unbeobachtet zu bleiben. Es verschaffte einem wenigstens die Hälfte der Segnungen, die man genossen hätte, wenn man gar nicht geboren worden wäre.

In dem klaren, trockenen Sonnenschein jenes strahlend schönen Junimonats konnte man am nächsten Dienstag Morgen beobachten, wie die schlanke Gestalt Ehrwürden Mr. Harts, des Geistlichen von King's Chapel, erwägend stehen blieb. Es war nicht seine Art, eine Straße, auch wenn sie leer war, blindlings zu überschreiten; er pflegte stets einen Augenblick einzuhalten, die laue Luft zu genießen, den blauen Himmel zu bewundern und Gott für die grünen Bäume zu danken. Wie schön, daß es einem vergönnt war, diese alten Ulmen zu betrachten, deren hängende Zweige wie zierliche Girlanden im leichten Sommerwind schaukelten! Mr. Hart hatte sein Leben ganz der Aufgabe geweiht, sich seiner feinen Umgebung anzupassen und die vornehmen Gefühle seiner Gemeinde in würdige Worte zu kleiden.

Wie das Gotteshaus King's Chapel inmitten des Babels der Geschäftshäuser, die es jetzt schon überragten, in seinem eingezäunten Winkel lag, zwischen grünem Laube halb verborgen, erschien es ihm in seiner granitnen Einfachheit als ein Sinnbild jener unsichtbaren Herzensgüte und Reinheit, die stets unangreifbar zwischen den Ruinen der Glaubensbekenntnisse stehen bleiben würde. Er ließ sich inspirieren durch die georgianische Eleganz des Kircheninneren, das ganz aus weißem Stuck, glänzendem Mahagoni und karminrotem Damast bestand. In den hochwandigen Kirchenstühlen mit den verschlossenen Türen konnten die Andächtigen in aller Stille beten, als seien sie in ihrem eigenen Kämmerlein; und er trug Sorge, daß seine eigenen Worte niemals rücksichtslos in die Bezirke ihrer Überzeugungen einbrachen. Was tat es, wenn die Sammlung hinter den fromm geschlossenen Augenlidern manchmal in ein leichtes Schläfchen überging? War nicht körperliche wie seelische Ruhe eine der vornehmsten Früchte des wahrhaft reinen Geistes? Es war der große Fehler der Vorväter gewesen, daß sie die Religion zum Gegenstand von Kämpfen machten. Meinungsverschiedenheiten mochten in der Naturwissenschaft unvermeidlich sein, wenn die Sinneswahrnehmung zur einwandfreien Erklärung mancher Tatsachen nicht mehr ausreichte; aber warum sollte man über Glaube, Liebe, Hoffnung disputieren? Warum sollte sich nicht jeder Mensch seine Begriffe von Gott und dem Himmel nach seinem eigenen Geschmack bilden – wenn er sie überhaupt nötig hatte!

Eine irdische Stimme unterbrach diese Betrachtungen. »Wie geht's, Mr. Hart?« sagte ein freundlicher Herr und preßte die Hand des Geistlichen so fest, daß dieser Folterqualen ausstand.

»Und wie geht es Ihnen, Mr. Head?« erwiderte der Dulder, indem er lächelnd seinen Schmerz zu unterdrücken suchte. »Habe ich unrecht mit der Annahme, daß Sie heute morgen nicht in Ihrer gewohnten Richtung durch die Wiese gehen, sondern den Berg hinauf? Ein Vögelchen hat mir zugezwitschert, warum.«

»Sie haben recht, Mr. Hart, Sie haben immer recht. Sie werden von der Offenbarung geleitet.«

»Wie Sie vom Gesetz. Aber erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen, daß Sie im Vorteil sind. Das Gesetz ist schwarz auf weiß niedergelegt. Sie können sich vor Gericht darauf berufen, und der Richter muß sich davor beugen. Die Offenbarung dagegen dringt nur ins Herz, und auf seinen zitternden Schrifttäfelchen verwirren sich leicht die göttlichen Zeichen, mit denen sie bedeckt sind.«

»Zum Glück führen uns heute Ihr Herz und meine Augen übereinstimmend zu Mr. Nathaniel Alden.«

»Ja, und in einer sehr wichtigen und heiklen Sache. Ist das übrigens nicht Dr. Hand, der dort den Hügel hinaufschnauft? Er wird bei unserer Zusammenkunft die Rolle des Advocatus Diaboli spielen, wie sie es in Rom nennen, wenn sie einen ihrer unnützen Heiligen kanonisieren. Aber Dr. Hand wird nicht die Mission übernehmen, auf die Unvollkommenheiten unseres jungen Sündenbocks hinzuweisen, sondern ich fürchte, er wird sie entschuldigen und beinahe gutheißen. Ärzte sind immer zu nachgiebig, sobald es sich um menschliche Schwachheit handelt. Wenn es nach ihnen ginge, könnten wir die Worte Recht und Unrecht gleich ganz aus unserm Wörterbuch ausmerzen und bloß die Physiologie gelten lassen.«

»Würden dann mehr Personen in Konflikt mit dem Gesetz geraten?«

»Nein« sagte hier Dr. Hand, den sie eingeholt hatten, »aber Sie wären dann gezwungen, mehr als die Hälfte des Strafgesetzbuches zu streichen, damit ein ehrlicher Mann wenigstens den Rest der Paragraphen beherzigen könnte.«

»O, Dr. Hand, ich stelle mit Freude fest, daß Sie wenigstens den ehrlichen Mann auf seinem Piedestal stehen lassen, wenn Sie auch die Begriffe Recht und Unrecht auf den Kehrichthaufen werfen wollen.«

Und Mr. Hart führte die andern im Bewußtsein eines feinen dialektischen Triumphs in das Aldensche Haus.

Sie wurden in dem rückwärtigen Zimmer empfangen, das man zuweilen »die Bibliothek« nannte, weil zwei große Bücherschränke mit verschlossenen Glastüren und grünen Vorhängen darin standen. Die Bücher und Zeitschriften, die Mr. Nathaniel Alden tatsächlich las, befanden sich in seinem Schlafzimmer, und die Zeitung lag immer nur auf dem kleinen Tisch am Eßzimmerfenster, wo er sie nach dem Frühstück mit einem Auge überflog, während er durch die Lücken der Fensterläden mit dem andern Auge die Wetterlage beurteilte und sie spöttisch mit den Voraussagungen der Zeitung verglich oder sogar die spärlichen Passanten beobachtete und feststellte, daß es sich leider zum größten Teil um unbekannte Landstreicher handelte, schwerlich um Ehrenmänner. Täglich erstand in ihm neu der traurige Gedanke, wie selten etwas in dieser Welt, Großes oder Kleines, ganz richtig war. Selbst sein eigener Wunsch, seine Mitmenschen zu heben, war durch seine schlechte Gesundheit und furchtbare Unglücksfälle grausam beschnitten worden. Und jetzt führten nun die lasterhaften Neigungen und der unbezähmbare Geist seines jüngeren Bruders zu diesem neuen Zwischenfall, diesem fast öffentlichen Skandal.

Das Hinterzimmer, das immer für Trauerfeiern benützt wurde, war der richtige Platz für die heutige Besprechung. Sein Name gab ihm etwas Privates und Zurückgezogenes (obgleich es in Wirklichkeit an der Hofseite im Blickfelde dreier Nachbarn lag, während die Fenster der Vorderzimmer, die auf die geisterhafte Veranda gingen, höchstens von den Alleespatzen beobachtet werden konnten). Auch befand sich im Hinterzimmer ein großer Tisch, auf dem eine mit alten Briefen und Dokumenten gefüllte eiserne Kassette stand, die einst seinem bedauernswerten Vater gehört hatte – wie vergilbt und bedeutungslos erschienen diese Blätter heute! Hier lag auch der bronzene Briefbeschwerer in Form eines Krokodils, den seine kindliche Phantasie früher immer irgendwie mit dem Satan in Verbindung gebracht hatte, und der nun sehr gut in die ganze Situation hineinpaßte. Von diesem Tisch aus konnte Mr. Alden mit besonderer Würde den Vorsitz über die heutigen Verhandlungen führen; hinter seiner schützenden Breite konnte er seine Beine verbergen, mit denen er immer nichts anzufangen wußte.

Die anderen Herren, für die drei Armstühle im Halbkreise bereit standen, waren seine Mitbevollmächtigten bei der Verwaltung von Peters Vermögen. Und da nach Nathaniels Ansicht der Besitz den hauptsächlichsten und grundlegenden Teil der sittlichen Persönlichkeit ausmachte, so war es das Gegebene, sich mit diesen Mitverwaltern über die Erziehung und Beaufsichtigung des jungen Mannes zu beraten, durch den ein großes Vermögen später in der Welt Gutes oder Schlechtes wirken sollte. Auf jeden Fall würde ihre Zustimmung seine eigene Verantwortlichkeit stützen und ihn von allen Gewissensqualen befreien, wenn einmal die endgültige Katastrophe eintrat. Er konnte nicht hoffen, seinen Bruder zu retten, denn die Vorsehung hatte es offenkundig anders beschlossen; doch wünschte er sich und allen andern Menschen zu beweisen, daß er an dem unglücklichen Knaben seine Pflicht voll und ganz erfüllt hatte, und dieser selbst an seinem Untergang schuld war.

Alle diese Motive erwähnte Mr. Alden in seinen einleitenden Bemerkungen nicht; sie durften als bekannt vorausgesetzt werden; zudem war es seinem Gefühl nach unzart, wenn nicht völlig unmöglich, etwas Endgültiges auszusprechen. Darum räusperte er sich nur und drückte mit einer Stimme, die zuerst etwas unsicher klang, sein Bedauern darüber aus, seine Freunde in einer so schmerzlichen Angelegenheit bemühen zu müssen, woran er den Wunsch knüpfte, von ihrer Erfahrung beraten zu werden. Peter war in schlechte Hände gefallen. Es war klar, daß er für eine Zeitlang aus Boston weggeschickt und von den obskuren Kreisen getrennt werden mußte, in denen er seinem eigenen unverblümten Geständnis nach verkehrte, ja, lieber verkehrte als in dem naturgegebenen Freundeskreis seiner Familie.

»Glücklicher Bursche«, seufzte Dr. Hand, als dächte er laut, »wohl die meisten von uns würden die Kreise vorziehen, in denen sie nicht verkehren dürfen, und müssen in Kreisen verkehren, die sie sich selbst niemals ausgesucht hätten.«

Ehrwürden Mr. Hart empfand peinlich den unangenehmen und unangebrachten Zynismus dieser Äußerung und hielt es für seine Pflicht, ihn abzumildern.

»Unser witziger medizinischer Freund«, bemerkte er schelmisch, »gefällt sich darin, auch über die tiefste Schwermut noch einen satirischen Schimmer zu breiten. Selbst das Gemach des Todes verliert etwas von seiner Trauerstimmung, wenn er darin das Regiment führt.«

»Ich habe dort das Regiment nur vor dem Eintritt des Todes. Es ist Ihre Sache, Mr. Hart, das Gemach nachher wieder zu erhellen.«

Mr. Nathaniel Alden hustete, als riefe er die Versammlung zur Ordnung. »Natürlich darf mein Bruder auch nicht länger auf der hiesigen Lateinschule bleiben. Ich sehe ein, daß es ein schwerer Irrtum war, ihn überhaupt dorthin zu schicken. In den fünfzehn Jahren, seit ich sie besuchte, scheint sie sich leider völlig verändert zu haben. Unsere Demokratie ist nicht mehr unser eigenes Gewächs, sie ist zum größten Teil überfremdet. Nur Privaterziehung kann uns noch die edlen Überlieferungen erhalten, die einst unser ganzes Gemeinwesen beseelten. Nächsten Winter muß Peter zur Vorbereitung für das College in ein Alumnat; wir können uns später noch überlegen, welches da das unbedenklichste in moralischer und theologischer Hinsicht ist. Inzwischen ist es für mich unmöglich, ihn im Sommer mit nach Newport zu nehmen, wo es ihm frei stände, sich den ganzen Tag – – –«

»Und die ganze Nacht« – rief der boshafte Doktor dazwischen.

»Den ganzen Tag«, wiederholte der andere, »ohne Beaufsichtigung herumzutreiben; in einer Stadt, in der es von leichtfertigen reichen Leuten und Schmarotzern niedrigster Art wimmelt. Newport ist ein Seehafen, und ich beobachte mit Kummer, daß das Wesen meines Bruders von der falschen, verrückten Seefahrerromantik vergiftet ist, der sich manche Jungen ergeben. Rudern und Segeln sind große Gefahren, nicht nur für das Leben unmittelbar, sondern auch für die Manieren. Wo könnte also unter diesen Umständen Peter die Sommerferien verbringen?«

»Sie könnten ihn mit einem Erzieher auf Reisen schicken«, sagte Mr. Hart mit einer beredten Geste, die in weite, heilige Fernen wies.

»Das«, gab Mr. Alden scharf zurück, »wäre nur möglich, wenn wir eine zuverlässige Persönlichkeit wüßten, die man mit einer so schwierigen Aufgabe betrauen kann; aber auch dann wäre es kaum wünschenswert! Warum Reisen, und warum ins Ausland? Gibt es denn in diesem Lande keinen passenden abgelegenen Ort, weit weg von den Gefahren der See und des Stadtlebens? Auch wäre eine Reise für zwei Personen, von dem Gehalt des Erziehers ganz abgesehen, eine große Ausgabe. Ich würde sie nicht scheuen, wenn sie auf meine Kosten ginge; aber natürlich fallen die Beträge für meines Bruders Erziehung ja seinem eigenen Konto zur Last; und ich nehme nur ungern große Abhebungen von einem Kapital vor, das sich während seiner Minderjährigkeit anhäufen soll, damit er später – vorausgesetzt, daß sein Charakter sich festigt – dem Gemeinwesen in höherem Maße nützen kann.«

Hier kam es Mr. Alden zum Bewußtsein, daß er eine Rede hielt; er verlor den Faden und hustete nochmals.

»Erinnern Sie sich an den Reverend Mark Lowe?«, fragte Mr. Head und wechselte das Thema, »den großen, kräftigen Geistlichen mit dem roten Gesicht und dem hellen Haar, der eine Zeitlang Hilfsprediger an der Trinity Kirche war? Er ist inzwischen Missionar in Indien gewesen, befaßt sich aber jetzt wieder im Inland mit Stadtmission. Letzten Sommer hat er außerdem in den Bergen von Wyoming ein Lager für Jungen eingerichtet. Er hat mir den Prospekt für seinen zweiten Kursus übersandt, mit Photographien der gesamten Anlage. Ich sollte denken, das wäre ganz das Richtige für unseren jungen Freund.«

»Auch ich«, sagte der Doktor, »habe diesen Prospekt bekommen und entnehme aus ihm, daß es sich um ein geistliches Lager für zurückgebliebene Jungen handelt. Ist Peter als zurückgeblieben zu bezeichnen, und braucht er religiöse Unterweisung?«

»Auch ein noch so intelligenter junger Mann kann in einigen Punkten zurückgeblieben sein, gerade weil er in andern zu weit vorgeschritten ist«, bemerkte Mr. Hart ein wenig gereizt, »und geistliche Einflüsse nützen am meisten in Zeiten, wo wir gegen die niederen Triebe unserer Natur ankämpfen, wie jeder junge Mann das einmal tun muß.«

»Ja, ja«, seufzte Mr. Alden skeptisch, »aber was für geistliche Einflüsse sind hier gemeint? Erhabene Grundsätze oder törichtes Blendwerk? Mr. Lowe gehört der Episkopalischen Kirche an.«

»Was die Religion betrifft«, warf Dr. Hand dazwischen, »so wurde er anscheinend, statt die Inder zum Christentum zu bekehren, von ihnen zum Buddhismus oder Yoga oder einem andern Glauben bekehrt, der meines Wissens der Gesundheit sehr förderlich ist. In den Tropen ist er Vegetarier, aber in einem kalten Klima billigt er den Fleischgenuß. Ein vernünftiger Mensch! Anscheinend ist er in religiösen Dingen ein leichter Fall, der kaum Ansteckungsgefahr birgt.«

»Mein lieber Doktor«, sagte der Geistliche in dem erhebenden Bewußtsein, daß die Macht der Liebe am Ende unwiderstehlich bleibt, »Sie versuchen vergebens, ein warmes Herz unter leichtfertigen Worten zu verbergen und spielen nun einmal den Spötter; aber wir kennen Sie, und Sie erschrecken uns nicht. Was unseren Freund Mr. Mark Lowe anbetrifft, so hat er die Seele der christlichen Wahrheit sogar in den älteren Religionen entdeckt, in denen so viele Millionen Menschen Trost gefunden haben. Ich kenne ihn von gemeinsamer Wohltätigkeitsarbeit her. Er mag sein Bestreben, alles auszugleichen, ein wenig übertreiben, aber er hat etwas Freies und Männliches an sich, was die Jugend anspricht; und die geringfügigen Unterschiede in unseren Bekenntnissen, die er selbst kaum beachtet, sollten unserem Vertrauen zu seinen guten Werken nicht im Wege stehen. Er ist vollkommen modern und lebt im Geiste der Demokratie, des Optimismus und der Hilfsbereitschaft.«

Mr. Nathaniel Alden hustete zum dritten Mal. Bei frommen Redensarten fühlte er sich, sogar wenn sie aus seinem eigenen Munde kamen, im geheimen unbehaglich; kamen sie aber aus dem Munde anderer, so ärgerten sie ihn trotz aller Gewöhnung immer wieder. Doch war er viel zu furchtsam, um gegen die geheiligte Ausdrucksweise seiner eigenen Kreise anzukämpfen. Wenn er sich gequält fühlte, wich er zurück; und er hatte die Empfindung, daß dieser Mark Lowe in seiner Art auch ein Dulder sei. Denn auch er hatte unscheinbaren Seitenpfaden und verborgenem Wirken den Vorzug gegeben vor laut schmetternden Trompetenstößen und süßer Erbaulichkeit. Vielleicht war er das, wofür sich Mr. Alden selbst hielt: ein tiefer und einsamer Denker. Doch dies unterirdische Sinnen brachte bei Mr. Alden an der Oberfläche nichts hervor als die Frage: »Ist er nicht Kanadier?«

»Von Geburt, ja«, erwiderte Mr. Head, »doch ist es leicht möglich, daß er naturalisiert wurde. Auf alle Fälle macht im wilden Westen der Unterschied zwischen Kanadiern und Amerikanern wenig aus. Sein Kamp liegt in den Vereinigten Staaten, und im Herzen ist er einer der Unseren.«

Mr. Alden verließ sich nicht einmal darauf, daß die wenigen hier Anwesenden im Herzen eins seien. Er besaß gewisse geheime Überzeugungen, darunter die, daß die Menschen nur auf dem Gebiete des Handelns zusammengebracht werden konnten; in ihren Gedanken – falls sie überhaupt welche hatten – blieben sie stets einsam.

»Ich meine nur«, sagte er ruhig, »daß ein Ort wie Concord mehr geistige Veredelung bieten könnte, ebenso das Haus eines Professors an einem Landcollege in Neu-England, gegen das in Abwesenheit der Studenten weiter nichts einzuwenden wäre. Die Abgelegenheit von Wyoming scheint mir doch ungünstig.«

»Ungünstig für uns, sicherlich«, sagte der Doktor, »wenn wir gern hin möchten und uns das Reisegeld fehlt. Aber weite Entfernung vom Vorstadtmilieu ist ja gerade das, was Peter braucht, und bedeutet gegen Beacon Street auch zugleich einen Luftwechsel. Je weiter weg, desto besser! Junge Burschen müssen geistig ausgefüllt sein durch gesunde Anstrengung. Schlamperei begünstigt das Laster; und ich finde, ein Lager im Gebirge, selbst wenn es einem verrückten Pfarrer untersteht, ist für einen Jungen wie Peter immer noch besser als ein langweiliges Nest in Neu-England, wo er nur herumfaulenzen, an den Nägeln kauen und in der Bar Billard spielen würde.«

»Sie entwerfen wahrhaftig ein entsetzliches Bild«, wehrte sich Mr. Hart, lächelte schaudernd und zog instinktiv seine Hände zurück, damit man seine Nägel nicht sähe. »Ihre Vorliebe für malerische Ausdrucksweise führt Sie zu Übertreibungen. Aber sicher ist der Wind von Wyoming, der mich leider niemals angeweht hat, für Peter erfrischender.«

Damit wandte sich die Unterhaltung dem Wetter zu und ging dann zu den Fragen der Trockenlegung des Bodens und der Bevölkerungszunahme über. In Mr. Nathaniel Alden stieg langsam die Besorgnis auf, seine Freunde könnten hier sitzen bleiben und schwätzen, bis um die Lunchzeit eine höhere Gewalt sie schließlich zum Aufbruch zwingen würde. Mr. Head hatte bereits eine witzige juristische Geschichte erzählt; und als Dr. Hand weissagte, binnen kurzem würde Boston irgend einen irischen Katholiken als Bürgermeister haben, wurde das Mißbehagen des armen Hausherrn unerträglich. Er hustete zum letzten Mal; als sich trotzdem niemand rührte, bemächtigte er sich des königlichen Vorrechts, die Besucher zu entlassen.

»Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet«, sagte er, die Augen fest auf das Bronzekrokodil gerichtet, »für Ihre gütigen Vorschläge, die ich sorgfältig in Erwägung ziehen werde. Sollte Ihnen noch eine andere Möglichkeit einfallen, oder sollten Sie noch Weiteres über dieses Lager erfahren, so würden Sie mir einen Gefallen tun, wenn Sie es mich auf schriftlichem Wege wissen ließen.« Dabei rückte er seinen Stuhl ein wenig vom Tisch ab, und obwohl er nicht aufgestanden war, veranlaßte diese Bewegung durch ihre zarte Suggestivkraft die andern, sich von ihren Plätzen zu erheben.

Mr. Head ließ den Prospekt auf dem Tisch zurück; als Mr. Alden seinen Gästen höflich die Tür offen hielt, wurde das Papier heruntergeweht und mußte unter dem Bronzekrokodil in Sicherheit gebracht werden. Eine Anzahl unscheinbarer Blockhütten zwischen einem See und einem Wald waren darauf abgebildet. Im Hintergrund konnte man die Umrisse von Bergen erkennen. Ferner war der Tagesplan für die Jungen angegeben: 6 Uhr Morgens Wecken und erstes Bad im See; 6 Uhr 30 Morgengebet und Frühstück; so ging es weiter durch den ganzen Tag, dessen größter Teil mit Ausflügen und Holzhacken ausgefüllt war.

Mr. Hart und Mr. Head gingen zuerst die Treppe hinunter und machten schon Bemerkungen über das schöne Wetter, bevor sie noch vor die Tür getreten waren, wo sie sich lächelnd und grüßend nach verschiedenen Richtungen entfernten. Dr. Hand jedoch wandte sich, statt ihnen zu folgen, mit formeller Miene, die sich von seiner sonstigen jovialen Art unterschied, zu seinem Gastgeber, der sie bis zur Haustür begleitet hatte.

»Kann ich Sie noch einen Augenblick sprechen? Als ich gestern Ihre Benachrichtigung bekam, dachte ich, daß mein Rat in dieser Sache mehr Sinn hätte, wenn ich unsern Peter zuerst einer ärztlichen Untersuchung unterzöge. Ich schrieb ihm daher, er möchte sich bei mir einfinden, und erwähnte ausdrücklich, daß ich diesen Schritt von mir aus, ohne Ihr Wissen, unternähme. Er kam, und ich sah ihn mir genau an. Er ist blaß und schlapp wie viele junge Burschen, und obwohl seine Muskeln kräftig genug sind, erscheint sein ganzer Organismus etwas matt; aber seine Organe sind alle in Ordnung, und es ist keine Krankheit an ihm zu finden. Was ihm fehlt, ist Selbständigkeit und ein lebhafterer Blutumlauf; das beides würde ihm Selbstvertrauen und mehr Interesse an seinen Beschäftigungen geben. Mein Rat geht dahin, ihm körperlich und moralisch mehr Spielraum zu lassen; er würde einen guten Kopf beweisen, wenn er sich an irgend etwas erproben könnte; aber Sie wissen, gerade die guten Köpfe neigen sonst zur Verspieltheit. Zu den täglichen Beschäftigungen braucht man nicht viel Nachdenken, sondern eher Achtsamkeit und Eifer. Nun sind Achtsamkeit und Eifer gerade das, was Peter nicht besitzt; steckt man ihn jetzt in einen geschäftlichen Betrieb oder in irgend eine andere berufliche Tretmühle, so wird er versagen. Um etwas aus ihm zu machen, sollten Sie ihm die Freiheit lassen, seinen Neigungen zu folgen. Im Augenblick scheint er Geschmack an Literatur und am Segeln zu finden; wenn Sie ihn darin ermutigen, werden Sie ihn vor Faulheit und Ausschweifung bewahren. Sie haben doch, wenn ich nicht irre, eine Schaluppe in Newport liegen. Wie wär's, wenn Sie sie Peter unter der Aufsicht eines zuverlässigen Kapitäns für den Sommer zum Segeln überließen, natürlich mit der Erlaubnis, ein paar Freunde mit an Bord zu nehmen? Ich glaube, dieses Erlebnis würde ihn wachrütteln, sowohl körperlich als auch in allgemein menschlicher Hinsicht. Er würde seine Selbstachtung wiedergewinnen, die jetzt einen Knacks zu haben scheint, und er würde dadurch zum Mann werden.«

Als Mr. Nathaniel Alden seine Lippen kalt zusammenpreßte und starres Schweigen bewahrte, fuhr der Doktor fort: »Wir sollten immerhin daran denken, daß Peter in ein paar Jahren ein beträchtliches Vermögen wird verwalten müssen. Es wäre nur eine Schutzmaßnahme, wenn wir ihn jetzt schon sich darin üben ließen, auf seine Person und auf sein Geld achtzugeben.«

»Ich bin mir ganz klar über diese Gefahr«, sagte Mr. Alden endlich, »aber wenn wir ihn jetzt lehren, sein Geld zu verschwenden, wieso soll ihm das helfen, es später richtig zu nützen? Wenn wir uns nicht auf sein Pflichtgefühl verlassen dürfen, fürchte ich, daß wir nichts für ihn tun können. Wir müssen die Gesetze des Lebens ihren göttlichen Lauf nehmen lassen.«

Der zurechtgewiesene Dr. Hand entfernte sich mit einer Verbeugung, und der siegreiche Mr. Alden schloß hinter ihm die mausoleumhafte Haustür mit stillem, aber nachdrücklichem Kraftaufwand, der entschiedene Befriedigung darüber bekundete, daß dieser schlimme Geselle nun draußen war, und daß der Hausherr selbst in sicherer Verwahrung und Abgeschlossenheit drinnen zurückblieb.


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