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11

Da Oliver nicht wußte, was er tun sollte, und an der flachen Küste nichts Besonderes zu sehen war, hatte er sich, die Hände hinter den Kopf verschränkt, auf einer Bank ausgestreckt, die einen Teil dessen umgab, was bei einer kleinen Jacht die Kockpit und bei einem großen Schiff das Quarterdeck gewesen wäre. Auf dem ›Schwarzen Schwan‹ war es ein Mittelding zwischen beiden: ein Teil des Achterdecks zwischen dem Heck und dem Deckfenster der Kajüte. Wenn man im Hafen lag, konnte man dort eine Plane spannen, einen Teppich ausbreiten und einige Korbmöbel aufstellen; denn das Schiff war keine Rennjacht, sondern ein schwimmendes Sommerhaus oder ein Hausboot; doch wiederum nicht dazu bestimmt, halb verborgen unter den Weidenzweigen eines Brackwassers zu liegen, sondern geschaffen, um standhaft von Meer zu Meer zu segeln und an jedem Ende der Welt dem Einsiedler Heimat zu sein.

Während Oliver so auf dem Rücken lag, konnte er die komplizierten Zusammenhänge der Takelage studieren und die riesigen Maste, Bäume und Spieren bewundern, die alle fest eingerollt waren wie gut aufgewickelte Regenschirme; auch konnte er die launenhaften, stets graziösen Schwingungen des langen Klubwimpels beobachten, der von der Mastspitze herabhing. Diese Stimmung und diese Stellung waren beide bei ihm gleich unerhört. Er fühlte sich faul, friedlich, frei von Verantwortung. Selten hatte Wohlbehagen eine so bewußte Vollkommenheit in ihm erreicht. Offenbar tat der Luftwechsel seine Wirkung.

Der Kapitän ging rauchend an Deck auf und ab. Als er wieder einmal an Oliver vorbeikam, schlenderte er wie zufällig auf ihn zu, blieb unmittelbar vor ihm stehen, nahm seine Pfeife aus dem Mund und sagte ziemlich ernst:

»Ihr Vater fühlt sich nicht ganz wohl. Er hat sich hingelegt und wird seine Kabine heute abend nicht mehr verlassen. Er hofft, daß es Ihnen recht ist, mit mir allein zu essen. Das verflucht heiße Wetter an Land hat ihm ein bißchen zugesetzt. Sie wissen: seine alte Dysenterie. Es ist weiter nichts dabei. Er weiß ja, was er dagegen nehmen muß; hat einen ganzen Haufen Erfahrung darin, sich selbst zu verarzten. Bei der Seeluft und dieser Ruhe wird er morgen wieder in Ordnung sein.«

Jim Darnley zündete seine Pfeife von neuem an und setzte seinen Weg fort, doch nach ein paar Rundgängen blieb er wieder vor Oliver stehen.

»Übrigens, wie wär's vor dem Essen mit einem Bad? Es sind noch mehr als eineinhalb Stunden bis Sonnenuntergang.«

Oliver setzte sich auf, sah aber etwas unschlüssig drein.

»Sie können doch schwimmen, nicht wahr?« fragte Jim und lächelte ein klein wenig spöttisch, als könne man nicht wissen, was man einem amerikanischen Muttersöhnchen am Ende zumuten dürfe und was nicht.

»O ja, aber ich fürchte, ich habe keinen Badeanzug mitgebracht.«

»Guter Gott, hier brauchen Sie doch keinen Badeanzug. Wir sind doch hier nicht in so 'nem verfluchten Badeort, wo ein Haufen alter Jungfern am Strand rumläuft, und wenn vom Dorf wirklich einer mit dem Fernglas herschaut, ist's seine eigene Sache. Werfen Sie einfach Ihre Kleider irgendwohin. Der Junge sieht schon danach.«

Oliver sagte nichts, doch für ihn war das Problem damit keineswegs gelöst. Schüchternheit, das wußte er, war ein dummes, unvernünftiges Gefühl, das man überwinden mußte. Er hatte davon gehört, daß andere Jungen im Hochsommer manchmal nackt im unteren Fluß hinter den Holzschuppen badeten, aber er war nie dabei gewesen. Er war nur mit Mr. Denis Murphy schwimmen gegangen, einem von Natur zurückhaltenden Manne, der selbst beim Aus- und Anziehen die ganze peinliche Vorsicht einer mönchischen Anständigkeit bewahrte. Was immer der alte Bootsmann in seinem Leben gesehen oder getan haben mochte, seine Begriffe von Anstand in Gegenwart sozial Höherstehender und besonders eines so jungen, ihm anvertrauten Knaben hätten sich deswegen nie verschoben. Auch daheim war Oliver daran gewöhnt worden, alles Unschickliche zu ignorieren und zu verbergen; doch in der Theorie, zum Beispiel, wenn sie von griechischen Statuen sprachen, betonten seine Mutter und Fräulein immer, daß nichts Unanständiges in schlichter Nacktheit liege. Und ebenso wie es feige von einem Jungen war, ein Bad in kaltem Wasser zu scheuen, weil er von Hause her nur warme Bäder kannte, wäre es nun von ihm selbst feige, wenn er sich sein ganzes Leben lang schämen wollte, irgendwo von irgend jemandem nackt gesehen zu werden, nur weil er und Mr. Murphy (der ein wohlbeleibter Mann in mittleren Jahren war) früher in Great Falls, einem menschenbelebten Ort, Badeanzüge getragen hatten. Außerdem gehörte der Grundsatz, daß dem Reinen alle Dinge rein sind, zu denen, die seinem Stolze teuer waren: man konnte dasselbe, was andere Leute auf abergläubische und niedrige Weise taten – etwa zur Kirche gehen oder Sport treiben – auch von einer höheren Ebene aus tun.

Folglich war es sinnlos, jetzt nervös zu werden, und er wollte daher bei dieser ganzen Sache möglichst ruhig und unbekümmert bleiben. Freilich konnte er nicht verhindern, daß irgendwie Knoten in seine Schnürriemen kamen, und daß sein goldener Kragenknopf herunterfiel und ins Wasser rollte.

Inzwischen hatte Lord Jim einen Matrosen gerufen und ihm ein paar Anordnungen gegeben, hatte auf die Glocke gedrückt, selbst ein Stück der Reling ausgehängt, sich in einem einzigen Augenblick ausgezogen – denn zu Olivers Überraschung trug er keine Unterkleidung – und war gerade dabei, heftig die Arme zu schwingen und seine Brust zu dehnen, wodurch er sich offenbar aufs Springen vorbereitete. Und was für eine Brust und was für Arme! Während er in Kleidern aussah wie ein beliebiger, nur ziemlich breitschultriger junger Mann mittlerer Größe, ähnelte er ausgezogen wenn nicht gerade einem professionellen »starken Mann«, so doch wenigstens einem Mittelgewichts-Preisboxer in tadelloser Form. Jeder Muskel war unter der straffen Haut sichtbar, sodaß Brust und Rücken wie durch eine tiefe Linie geteilt erschienen. Im Vergleich zu ihm kam sich Oliver schmächtig, ungeschickt und ein bißchen unsicher vor mit seinen füllenhaft langen Beinen und seinen nackten Füßen, denen die Berührung mit dem glatten, harten, schräggeneigten und von der Sonne merkwürdig heißen Deck ungewohnt war. Mußte er nun auch springen? Die Höhe erschien ihm recht unheimlich. Doch in diesem Augenblick erlöste der schneidige Seemann, der den Jungen von der Seite beobachtet hatte, ihn von aller Sorge. Er fühlte sich wohl trotz seiner Derbheit und angenommenen Gleichgültigkeit verantwortlich für ihn. Über die Schulter weg sagte er mit höflicher Stimme:

»Sie springen wohl besser nicht von hier oben, wenn Sie tiefes Wasser nicht gewöhnt sind, und geben Sie acht, es ist Salzwasser. Steigen Sie die Leiter hinunter, und springen Sie von da aus!«

Darauf schöpfte er zum letzten Mal tief Atem, sprang und fuhr in herrlicher Parabellinie mit hartem Knall und scharfem Klatsch wie ein Delphin ins Wasser. Oliver, der hingerissen zusah, verlor seine Befangenheit. Im Augenblick war er am Fuße der Leiter, hielt sich an den Tauen fest und wartete darauf, daß Lord Jim wieder auftauchen sollte.

Eine lange Zeit verging. Wo blieb Lord Jim? Er konnte doch nicht unter die Jacht getaucht und auf der andern Seite wieder heraufgekommen sein, um Oliver zum besten zu haben? Ein Haifisch? Ein Krampf? Ein verborgener Fels, der ihn betäubt hatte? Oliver wollte hinauf aufs Deck laufen, doch was hätte das genützt? Er wollte rufen, doch er brachte keinen Laut hervor. Seine Spannung wurde zur Todesangst, da tat sich endlich in weiter Entfernung die Wasserfläche auf, und ein triefender, runder Kopf schüttelte prustend, spritzend und schnaubend den Schaum ab; auch die Arme kamen stoßend nacheinander zum Vorschein. Alles war in Ordnung; Lord Jim war wieder da und bahnte sich langsam Hand über Hand den Weg zurück. Oliver war froh, daß er eine Weile Zeit hatte, um sich wieder zu fassen. Es durfte nicht aussehen, als sei er entsetzlich erschrocken gewesen. Es durfte nicht aussehen, als kenne er sich zu wenig aus, oder als nehme er allzuviel Anteil. Sein Selbstgefühl versicherte ihm, nicht er sei grün und albern, sondern Lord Jim sei derjenige, der hier vom Normalen abwich – ein Hexenmeister, der jeden verblüfft hätte! Aber noch niemals in seinem Leben hatte Oliver ein so gräßliches Aussetzen seines Herzschlags verspürt, ein so unheimliches Ziehen und eine solche Leere tief drinnen! War es das, was man Entsetzen nannte? Die Berührung mit dem kalten Wasser würde ihm seine Kraft wiedergeben. Er sprang hinein, als Lord Jim nur noch wenige Meter entfernt war, und entzog sich so für den Augenblick der Beobachtung.

Ein Floß mit einem Tau, an dem sich die Schwimmer festhalten konnten, war als Ruheplatz für sie über Bord gelassen worden. Obwohl es nicht untergehen konnte, wurde es doch vom Wasser bespült und sank bald auf der einen und bald auf der andern Seite unter den Wasserspiegel, so oft einer von ihnen, vor allem Jim Darnley, darauf sitzen oder liegen wollte. Es war nicht viel Anlaß zum Reden; aber manchmal sagte Jim etwas, oder Oliver stellte eine Frage. Wie lange konnte ein Mann unter Wasser schwimmen? Und wie weit? Welche Schwimmarten waren am besten? Hatte es wirklich viel Zweck, auf dem Rücken zu schwimmen? Beabsichtigte Lord Jim wohl einmal den Kanal zu durchqueren oder den Hellespont wie Lord Byron? Und Oliver bildete sich ein, eine Ähnlichkeit zwischen den beiden Leandern zu entdecken. Jims Haar war wie das Lord Byrons, braun und lockig und bis weit in die Mitte der Stirn hineingewachsen, die jedoch über den Schläfen hoch war. Seine Haare fingen also an auszugehen! Oliver wollte fragen, wie alt Jim sei und tat es auch beinahe; aber es war seine festeingewurzelte Gewohnheit, über das, was er sagen wollte, erst nachzudenken; so kam es meist dahin, daß er gar nichts sagte und seine Chancen in der Unterhaltung versäumte.

Doch als allmählich das Vergnügen, sich im Wasser herumzutreiben, etwas erlahmte, blieb Jim länger auf dem Floß und wurde gesprächiger. Schwimmen, meinte er, war eigentlich nicht etwas wie Golf, worüber sich viel sagen ließ, außer wenn man so ein verdammter Professioneller war oder ein Sportblatt herausgab. Schwimmen war bloß ein Mittel, sich Bewegung im Kühlen zu verschaffen. Aber es genügte durchaus nicht, um einen wirklich gut in Form zu erhalten. Es erzeugte sogar eine Menge Fett wie zum Beispiel beim Walfisch, und er selber tat es nur zum Vergnügen bei heißem Wetter. Um gut in Form zu bleiben, mußte er jeden Morgen Gewichte stemmen – schrecklich lästig, aber was sollte man machen? Fett und schwammig werden war noch schlimmer. Man wollte sich doch nicht wie ein Schwein vorkommen und auch nicht so aussehen.

Oliver fühlte, wie richtig das war. Trainieren, trainieren, trainieren! Da half nun einmal nichts. Man tat es nicht, um irgendwo zu siegen oder einen Rekord zu brechen, sondern nur um seiner selbst willen.

Körperliche Übung, fand Jim, bewahrte einen nicht davor, ein blöder Esel zu sein, wenn man als einer geboren war. Aber sie konnte einem doch ein bißchen Ballast verschaffen, falls man mit zu vollen Segeln fuhr – und er tippte dabei an seine Stirn. »Ich habe beobachtet«, sagte er, »daß diese lächerlichen Ausländer – Franzosen, Italiener, überhaupt ›Dagos‹ – jetzt, wo sie sich mit Radfahren, Tennis, Boxen, Pfadfinderei und all solchen Sachen befassen, nicht mehr so viel schreien und gestikulieren und Fratzen schneiden wie früher. Wahrscheinlich sind sie auch vernünftiger mit Frauen geworden; sie pflegten sonst beständig Blicke zu schmeißen und zu prahlen und riesige Geschichten von ihrer eigenen Tüchtigkeit zu erzählen; oder sie hockten stumm, zitternd und ausgemergelt da, wenn sie verliebt waren. Jetzt sind sie anständiger, und wenn ihre Sprache nicht wäre, könnte man manche von ihnen für Engländer halten. Jeder Mann wird eben gesünder und vernünftiger, wenn er die Stadtgifte aus dem Körper herausarbeitet. Das Parlament war eine anständige Sache, als noch alle Mitglieder Landedelleute und Sportsleute waren; aber jetzt – man braucht die Kerle nur anzusehen!« Und er reckte die Arme, als wollte er die ganze verächtliche Horde beiseitestoßen, und ließ sich ins Wasser fallen.

Die Gezeit wechselte. Die Leine, die das Floß mit dem Schiff verband, wurde schlaff, und sie wurden in den langsamen Wirbeln der unsteten Strömung nach Backbord abgetrieben, sodaß die ganze Länge der Jacht besser in Sicht kam. Ohne sich bewußt zu werden, warum, empfand Oliver die Schönheit ihrer Linien: nicht nur elegant wie andere Jachten schien sie auf dem Wasser zu liegen, sondern lässig und luxuriös, als ruhe ihr Kopf, das Heck nämlich, bequem auf einem Kissen, während sie den Fuß in Gestalt eines wundervoll stolzen und langen Bugspriets nonchalant und unternehmungslustig in die Luft reckte.

»Sie hat eine schöne Galionsfigur«, sagte Jim, »wir können sie nur von hier aus nicht sehen: einen fliegenden Schwan in Schwarz und Silber mit rotem Schnabel. Es ist ein japanisches Motiv, das Ihr Vater irgendwo entdeckt und sich hierfür zurechtgemacht hat; er hat überhaupt das ganze Boot entworfen, er versteht viel vom Schiffsbau. Aber es war eine verteufelte Arbeit, den hiesigen Bauleuten richtiges Verständnis für seine Ideen beizubringen.«

»Aber warum heißt sie ›Schwarzer Schwan‹ und nicht ›Hesperus‹? Wir fanden zu Hause, daß ›Hesperus‹ so ein hübscher Name war. Und wie kann ein Schiff mit weißen Segeln ein schwarzer Schwan sein?«

»Natürlich, Damen würden so was fragen. Ihr Vater muß Ihnen das erklären; zunächst hat ein schwarzer Schwan weiße Flügel, wenn er fliegt; denn ihre Unterseite ist weiß wie die Handfläche eines Negers. ›Hesperus‹ war einfach ein netter Name, der weiter nichts bedeutete; und das Boot war eine ganz alltägliche Jacht; jeder beliebige New Yorker Schiffsbauer hätte es für so- und soviele Dollar entwerfen können. Es war wie das Haus eines reichen Ratsherrn, vom Stadtarchitekten gebaut und von Maples eingerichtet – alles in allem ein gutes Schiff und schnell; aber Rennen sind das letzte, womit Ihr Vater sich abgeben würde; er haßt den ganzen Lärm und die vielen Leute. Ich wundere mich, daß er bei seinem Geschmack den ›Hesperus‹ überhaupt so lange behalten hat – sechzehn oder siebzehn Jahre, ja, genau seit Sie geboren sind. Ich werde Ihnen was sagen: Männer zwischen vierzig und fünfzig, die gerade ganz auf der Höhe ihres Lebens zu stehen scheinen, können dabei innerlich tot sein, tot wie Holzklötze. Sie haben sich den Umständen unterworfen; sie haben alles aufgegeben, woran ihnen etwas lag; wie der alte Simson sind sie in der Tretmühle gefangen. Ihr Vater hat sich niemals richtig durchgesetzt; er hat eine verzweifelte Art, geduldig zu sein, wo es gar nicht nötig wäre. ›Nicht der Mühe wert, nach etwas Besserem zu suchen‹, denkt er sich. Als ich zuerst auf den ›Hesperus‹ kam, merkte ich, wie er immerfort nach seiner ›Alten Dschunke‹ seufzte, weil er dort alle seine chinesischen Sachen bei sich gehabt hatte, die nun auf irgend einem Speicher moderten. Und da würden sie auch jetzt noch modern, wenn ich ihm nicht Mut gemacht hätte, den ollen ›Hesperus‹ zu verkaufen – es gab Dummköpfe genug, die ihn haben wollten! – und sich selbst ein seetüchtiges Schiff nach eigenem Geschmack zu bauen. Denn bedenken Sie, es sollte ja nicht bloß seinen alten Antiquitätenladen beherbergen, sondern auch seinem Seemannsherzen gefallen. Der ›Hesperus‹ war ein Schoner wie alle regulären Rennjachten, sehr praktisch, wenn man mit einer kleinen Besatzung auskommen, dicht am Winde segeln und in kurzer Zeit den Hafen erreichen will, damit man das Dinner nicht versäumt und an Land schlafen kann. Aber Ihr Vater ißt und schläft ja auf alle Fälle an Bord. Er hatte es nie nötig, eine Gesellschaft seekranker Damen, die nach Hause müssen, bevor es dunkel wird, an Land zu bringen. Und die Größe der Besatzung spielte keine Rolle für ihn, besonders seit ich da war, um nach dem Rechten zu sehen. Er hatte ja auch jahrelang im Fernen Osten und im Mittelmeer gekreuzt, in den landesüblichen Booten mit ihrem großen braunen Segel, das sich über den ganzen Mast streckt und dich wie einen Meergott vorm Winde trägt. Ein Schiff ohne Rahentakelung ist aber nichts Besonderes, das gewöhnliche Boot mit Schratsegelung kann nur schmuck und flink, höchstens elegant wirken. Hier auf unserem Schiff hat wenigstens der Fockmast Rahentakelung.

Ich bin sicher, Ihr Vater hat sich noch nie so glücklich gefühlt wie jetzt. Den ganzen letzten Winter, während der ›Schwarze Schwan‹ im Bau war und ich in New York die Einzelheiten beaufsichtigte, schrieb er die reinsten Schuljungenbriefe aus Ägypten. ›Vergewissern Sie sich nur ja‹, schrieb er immer wieder, ›daß der ›Schwarze Schwan‹ unter vollen Segeln ebenso großartig einherzieht wie die Barke des Dogen, wenn er aufbrach, sich mit dem Adriatischen Meere zu vermählen; ich will dann dafür sorgen, daß er innen noch wunderbarer wird als außen.‹ Und wenn er jetzt nach Ägypten oder nach Athen oder nach Neapel will, kann er in seinem eigenen Schiff hinfahren, bequemer und mit mehr Freude als früher. Wissen Sie, als er noch jung war, machte er sich immer Gedanken, was die Leute wohl zu diesem oder jenem sagen würden, aber nun gibt er keinen Pfifferling mehr darum. Ich habe übrigens auch schon Bekanntschaft mit dem Mittelmeer gemacht und habe eine ganz nette Menge Französisch und Italienisch dabei gelernt, das ich bei Gelegenheit wieder mal auffrischen muß. In Villefranche, auf dem ›Jupiter‹, hat's nämlich damals den großen Krach gegeben, bei dem meine Karriere in die Brüche ging.«

Oliver fing plötzlich an zu frösteln und richtete sich auf. Die Sonne, rot und strahlenlos hinter einem Wall von Dunst, neigte sich zum Untergang.

»Sollen wir raufgehen?« fragte sein neuer Mentor. »Wir wollen lieber nicht zurückschwimmen. Wir werden das Floß bis zur Leiter heranholen.« Und er begann an dem Tau zu ziehen, das sie mit dem ›Schwarzen Schwan‹ verband. Oliver wollte ihm helfen, aber das Floß war ein unsicherer Boden: selbst wenn man saß oder auf allen Vieren hockte, kippte es leicht um; so fielen sie beim Einholen der Leine mehr als einmal übereinander und rutschten ins Wasser. Lachend und fluchend kletterten sie an Deck. Olivers Kleider waren verschwunden, aber ein Tuch, ein Bademantel und seine Hausschuhe waren wie von Geisterhänden auf der Bank bereitgelegt. Wie war er nur dazu gekommen, an einem so schwülen Abend vor Kälte zu zittern? Und die Scheu, die er vor einer Stunde empfunden hatte, kam ihm vor wie ein lächerlicher Traum, wie das Erlebnis eines albernen kleinen Jungen, den es schon seit Jahren nicht mehr gab.


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