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Städte waren für Olivers Begriffe kein Teil der Natur. Er vermochte es nicht zu fühlen und sein Verstand bejahte es nur mühsam, wenn man ihm erklärte, daß Städte eine echte Verkörperung menschlichen Geistes seien, ein zweiter Organismus, nur weiser, dauerhafter und prächtiger angelegt als der animalische aus Fleisch und Blut; Werke naturgewachsener und dabei sittlicher Kunst, Schauplätze, wo der Mensch alle Siegestrophäen seiner wirkenden Kraft und alles, was zu seinem Genusse dient, um sich versammelt hat. Nein, Oliver empfand Städte als Stätten der Verwirrung und Trübsal, wo das Blut der Menschheit sich häßlich staute.
Als er zum ersten Mal durch Boston kam, erschien es ihm nur wie ein vervielfachtes Great Falls. Allerdings verlangte auch niemand von ihm, daß er sich genauer in der Stadt umschauen sollte, und seine unwillkürliche Aufmerksamkeit wurde daher erst erregt, als der Wagen ihn und seinen Vater vor einem großen Holzschuppen absetzte, auf dem in dicken Buchstaben ›Boston-Ost-Fähre‹ stand. Die überdeckte Landungsbrücke war auf schleimig grünen, ziemlich morsch aussehenden Pfosten ins Wasser hinausgebaut; in der grünen Flut selbst rannen bleigraue, metallisch schillernde Flecken und Schlangenlinien durcheinander, die von den Abwässern der städtischen Kanalisation, von Schleppern, Kohlenkähnen und müßig daliegenden Dampfschiffen herrührten.
Die Fähre kam an und stieß knirschend gegen die Pfähle; die Menge drängte sich über die verstellbare Zugbrücke ans Land, und die einsteigenden Passagiere stießen einander nicht minder ungeduldig an Bord. Sogleich fing der große Stahlschwengel, der in Form eines dreieckigen Hutes das plumpe Fahrzeug überragte, heftig zu schwingen und zu schlagen an wie das Herz eines erschrockenen Ungeheuers. Die Schaufelräder begannen mit wachsender Wut in das Wasser zu schlagen, und das große, floßartige Fährboot trug seine Gäste in genau sieben Minuten über den Kanal nach der tieferen Seite des Hafens. Von der Menge, die sich wiederum ans Land drängte, wurden sie fast gewaltsam auf eine ungepflasterte, von Eisenbahnschienen durchzogene Straße mitgetragen. Auf einem Nebengeleise standen lange Reihen von Güterwagen, freigebig bemalt und über und über mit Zetteln beklebt und beschriftet. Über den Schuppen und Bretterbuden, die die Straße einfaßten, waren Schornsteine von unterschiedlicher Höhe und Farbe und vereinzelte Masten sichtbar. An jeder Ecke befand sich ein Schnapsausschank und meist auch ein Fruchtstand mit einem Öfchen daneben, das Dampf ausstieß und Erdnüsse röstete. Nun bogen sie in einen lehmigen Weg ein, auf dessen einer Seite unsichtbare Maschinen laut hinter einer Backsteinmauer stampften, und schließlich gingen sie über einen wackligen hölzernen Landungssteg, der unter ihrem vorsichtigen Schritt zitterte. Ein Fallreep führte sie auf etwas, das aussah wie ein großer, in Reparatur befindlicher Ausflugsdampfer; von da aus gelangten sie auf ein anderes Deck hinab, welches sich zu Olivers Überraschung als das der neuen Jacht, des ›Schwarzen Schwans‹, erwies.
In dem Durcheinander aus Schuppen, Schiffsrümpfen, Landungsbrücken und riesigen Dampfern waren ihre Linien für ein ungeübtes Auge kaum zu erkennen. Zudem war Olivers Vater stehen geblieben, um mit einem Fremden zu sprechen, einem freundlichen, breitschultrigen jungen Mann mit frischem Gesicht und einer keck aufs Ohr geschobenen weißen Seglermütze. Er trug eine zweireihige blaue Jacke mit glänzend polierten Messingknöpfen, frisch gebügelte weiße Leinenhosen und makellos weiße Schuhe. Ein paar hingeworfene halbe Worte schienen seinem Vater und diesem strahlenden jungen Mann zur vollkommenen gegenseitigen Verständigung zu genügen; sie sprachen lebhaft, aber ziemlich leise, der Fremde trug eine Miene lächelnder Vertraulichkeit zur Schau, als wollte er sagen: »Ich habe das und das getan und wußte schon, es würde recht sein«; und ein kleines Kopfnicken seines Vaters, welches bedeuten konnte: »Ganz in Ordnung, genau, was ich wollte«, schien das zu bestätigen.
»Oliver, das ist Mr. Darnley, unser Kapitän. Er sagt mir gerade, daß er dich in der Achterkajüte untergebracht hat, unserer Staatskabine. Vielleicht möchtest du jetzt gern dein Quartier sehen.« Der Kapitän berührte zuerst den Mützenrand, dann streckte er Oliver eine breite, muskulöse Hand hin, die sauber und wohlgeformt war, doch entschiedene Spuren grober Arbeit zeigte. Obwohl dieser freimütige Händedruck sanft genug war, kamen dem unvorbereiteten Oliver seine eigenen Finger doch einigermaßen schwach und unsicher dabei vor. Aber wie konnte ein Schiffskapitän derartig frisch, jugendlich und sportlich aussehen? Wieso war seine Stimme und Miene bei der Begrüßung so sympathisch und unbefangen? Ach so, es war ein Engländer! Diese Tatsache erklärte allerdings, warum er so anders wirkte als alle Bekannten, und Eigenschaften in sich vereinigte, die Oliver bisher für unvereinbar gehalten hatte. Er schien mehr Gentleman zu sein als die eigenen Freunde und dabei dienstbereiter als die eigenen Diener, schmuck und doch schlicht, völlig jungenhaft und doch völlig männlich. Daß er Engländer war, ging aus seiner Sprechweise hervor, denn obwohl er einige Amerikanismen gebrauchte und sich herbeiließ, die Dinge mit ihren amerikanischen Namen zu bezeichnen, waren einige seiner Redewendungen ungekünstelt britisch, er sprach flüssig, ohne Späße und gemachte Lebhaftigkeit, mit klarer, tiefer Stimme und nobler Modulation. Daß ein rauher Seemann, der von seinem Handwerk sprach, ein Mensch, der gewiß nicht wie Letitia Lamb die Universität besucht hatte, dennoch auf so kultivierte Weise alltägliche Dinge und selbst Flüche von sich gab – das war ein Paradoxon.
Der Schiffsjunge brachte ihr Gepäck nach unten, und Oliver folgte seinem Vater in den Bauch des ›Schwarzen Schwans‹ wie ein junger Jonas, der den Walfisch inspiziert. Zunächst sind für den erstaunten Passagier die Eingeweide jedes Seeungeheuers ein verwirrendes Labyrinth: die Treppen steil, die Wände gekurvt, die Gänge irreführend, das Mobiliar zwerghaft verkleinert, gewunden und zusammengedrückt, gemäß den Erfordernissen eines Lebens, das nicht unter alltäglichen Bedingungen steht. Da Oliver aber aus früherer Erfahrung keine Vergleichsmöglichkeit und kein Auge für die Eigentümlichkeiten seemäßiger Architektur besaß, so bemerkte er die ungewöhnliche Einrichtung und Ausschmückung der Kabinen kaum.
»Das ist die Achterkajüte«, sagte sein Vater, indem er die letzte der schmalen, festen Türen öffnete. »Sie ist unsere Bibliothek und unser Museum, und von ihren altmodischen Luken aus kannst du die See im Halbkreis überschauen. Meine Segelfreunde lachen mich aus, weil ich versuchte, mir eine Dschunke oder Fregatte zu bauen, und sagen, ich würde noch eines Tages in meiner Achterkajüte von einem schweren Seegang in Fetzen gerissen werden; aber wir haben jede Vorsichtsmaßregel getroffen, Tragfähigkeit und Auftrieb sind genau berechnet, wir sind niemals in Eile und können stets beidrehen, und ich beabsichtige nun einmal nicht, meine Liebhabereien der Tyrannei oder Mode zu opfern. Ich möchte mich hier fühlen wie irgend ein alter Admiral, der die Beute Indiens nach Hause führt. Meine Beutestücke sind nur ein paar chinesische Kleinigkeiten, die ich in meinen jüngeren Tagen gesammelt habe, und ein paar sauersüße Erinnerungen an Abenteuer, nichts Außergewöhnliches weiter; und ich schiffe sie auch nirgendwo hin – sicher mal nicht nach Hause! – sondern sinne in meinen alten Tagen nur beschaulich über sie nach.
Es ist kein Glück, in einer Zeit geboren zu sein, wo die Kraft des menschlichen Charakters verebbte, während die Flut der stofflichen Aktivität und des stofflichen Wissens so hoch stieg, daß sie alle innerliche Unabhängigkeit ertränkte. Ich bin ein Opfer meiner Umgebung gewesen, aber ich habe mich ihr nicht unterworfen. Ich habe mich nur meinen eigenen Grenzen unterworfen. Dies Heck ist der Thron meiner nach rückwärts gewandten Betrachtung; es zeigt mir die Spur meines Schiffes. Von hier aus kannst du die zurückflutenden Wasser beobachten, zwar nicht von großer Höhe herab – ich bin kein Philosoph – sondern wie von einem kleinen Rettungsboot aus, das genügt, um dich für den Augenblick flott und über Wasser zu halten. Du steigst und sinkst mit den Wellen – ich hoffe, die Bewegung macht dir nichts aus. Wenn sie nicht gerade gar zu heftig ist, finde ich sie besänftigend und symbolisch. Die See trägt uns in ihren Armen wie eine Amme, nicht mit der fühllosen Festigkeit des trockenen Landes, das unserem kindischen Druck niemals nachgibt. Hier fühlst du den ganzen Auftrieb des Fahrzeugs und die elastische Kraft, mit der es auf der See reitet. In Schiffen dieser Größe oder in wenig kleineren segelten die Alten, als sie die Rosse Poseidons gewahrten, die stampften und sich bäumten, aber den thronenden Gott siegreich dahintrugen. Du, der du es liebst zu reiten, müßtest Freude am Segeln finden.«
Hiermit wandte sich Peter Alden – nachdem seine Augen geistesabwesend die Wasserstrecke durchmessen hatten, die sie schon von der Küste trennte – wieder seinem Sohne zu, dessen Gegenwart er fast vergessen hatte. »Dieses Lager hier ist für dich zum Schlafen bestimmt. Es ist nur eine Matte, die an einem Rahmen befestigt und mit einem Kissen bedeckt ist, ich möchte dir aber der Hitze wegen raten, es zu entfernen. Eine Matte auf dem Boden gilt im Osten schon als ausreichende Schlafstelle, und diese hier ist noch weicher, da sie in der Luft hängt. Heute Abend wird man dir Überzüge für die Kissen geben und auch Leintücher, wenn du sie unbedingt haben willst. Ich meinerseits habe christliche Betten verabschiedet. Ich weiß, daß die Leute heutzutage Messingbettstellen auf den Schiffen haben, um der Feuchtigkeit und dem Ungeziefer aus dem Wege zu gehen; aber diese unhandlichen normierten Betten sind weder seegerecht, noch vernünftig. Sie verunstalten eine Kabine, die meiner Ansicht nach eine Art Einsiedelei sein soll, ein Arbeits- und Gebetsraum für die Seele des Seemanns. Wir auf der See sind so viel im Freien und sind uns der weiten Räume ringsum und über uns, dazu der außermenschlichen Gewalten so stark bewußt, daß wir uns in eine stille Ecke drücken und uns dort zusammenrollen möchten, um unsere arme Menschlichkeit wieder zurechtzuflicken. Man soll sich in seiner Kabine nicht wie in einem großartigen Hotel fühlen.
Und was Betten anbetrifft, so gehören sie zu der Bauernkultur Europas. Unsere barbarischen Voreltern fürchteten sich vor der Kälte, und es war ihr Stolz, so viele mit knolliger Schafwolle gefüllte Matratzen aufeinanderzuhäufen, wie sie sich leisten konnten, und mitten in sie hineinzusinken, während sie obendrauf noch zahllose Wolldecken, Tücher und Steppdecken häuften, nebst einem großen Federballon, der fast den zu Häupten aufgehängten Baldachin berührte. Dann zogen sie an allen Seiten die dicken, prächtigen Bettvorhänge vor, zum Schutz gegen Luft, Licht und indiskrete Blicke. In solch dunklem Neste schmorend, fühlte sich der überfütterte, halbbetrunkene Kavalier zum Schnarchen aufgelegt; und die Liebe in dieser düftereichen Brutstätte war schmählicherweise des Gesichtssinnes beraubt, der sie hätte inspirieren und mit Staunen und Lachen erfrischen können.
Nein, das machen sie im Orient besser. Sie lieben, wenn sie Liebe fühlen, und legen sich zum Schlafen nieder, wenn sie schläfrig sind und ihnen die Natur unwiderstehlich die Augen schließt. Du wirst sagen, daß es auch bei Homer Betten gibt, aber sie waren Throne, Throne des Ehestands, und ich gebe ja zu, daß selbst unsere nordischen Bauernbetten eine gewisse Würde empfingen, wenn Könige und große Damen in ihnen Hof hielten, so wie die Gesellschaftsmenschen unserer Zeit sie des Morgens zum Frühstücken und Telephonieren benutzen. In solchen Fällen aber nimmt das Bett wieder den Charakter des Diwans an, durch den ich es am liebsten ersetzen möchte. Hier also ist deiner, gleich nützlich bei Tag und bei Nacht; und wenigstens haben wir gelernt, Pyjamas zu tragen und nicht in unseren Unterkleidern zu Bett zu gehen, wie es unsere übelriechenden Altvordern taten; du brauchst dich nur hinzulegen, und wenn du kalt bist, so nimm eine Decke. Heute haben wir eine leichte See und eine glatte Brise. Trotzdem laß nichts lose herumliegen; leg beim Auspacken alles schiffsgemäß und fest in Schränke und Schubladen. Hier ist das Badezimmer; völlig modern, wie du siehst. Ich habe kein Vorurteil gegen moderne Verbesserungen, soweit sie das Leben vereinfachen. Wir drei müssen uns in dieses Badezimmer teilen; doch da du nur unter die Brause gehst und dich nicht zu rasieren brauchst, wird es nicht schwer für dich sein, mit Lord Jim zu verabreden, wann du hinein kannst. Ich selbst stehe so viel später auf, daß ich deinen morgendlichen Waschungen nicht in die Quere kommen werde, auch wenn sie sich in die Länge ziehen. Ich werde bis zum Lunch im Bett bleiben. Du kannst an Deck gehen und dich unterhalten, wie es dir Spaß macht. Ich sehe, wir kommen vorwärts und werden bald aus dem Hafen sein.«
In der Tat spürte man seit einiger Zeit ein leichtes Zittern und Rumpeln unter den Füßen, die neuen Maschinen taten also ihre Pflicht. Sowie Oliver allein war, wandte er sich unwillkürlich zuerst zum Fenster. Er fühlte sich eingesperrt, so prachtvoll geräumig sein Käfig angeblich auch war. Er konnte die Decke mit der Hand berühren. Die beiden Buddhas in den Ecken lächelten ihn heidnisch an, als seien sie hier zu Hause und er nicht. Er hatte das Bedürfnis, sich zu versichern, daß die vertraute, natürliche Welt sich noch ringsum ausbreite; er mußte die Beziehung zu ihr wieder aufnehmen. Wirklich konnte er durch die geöffneten Luken eine Strecke blitzenden Wassers erblicken, mit den beiden verfließenden und vergehenden Schaumspuren der ruhigen Fahrt. Jenseits erhoben sich die undeutlichen Schiffsmassen und die zusammengedrängten Dächer der Hafenfront, und weit weg über einer Rauchwolke, die die Stadt verhüllte, schimmerte ein einziger glitzernder Fleck durch den Dunst – die vergoldete Kuppel des Staatshauses.
Wer könnte »Lord Jim« sein? Der junge Offizier war Mr. Darnley. Könnte er ein Lord sein, der sich als Seemann verkleidet hatte? Und warum war sein Vater plötzlich so anders, so gesprächig, verbreitete sich über seine Ansichten und hielt lange Reden, wie mit sich selbst? Doch Vermutungen hatten keinen Sinn. Er wollte auspacken, an Deck gehen und sehen, was vor sich ging! Jegliches Zittern und Schwirren hatte jetzt aufgehört, aber die Fahrt ging weiter. Das Sonnenlicht wechselte seinen Platz rhythmisch auf der Lacktäfelung, das Deck war merklich nach Steuerbord geneigt, und weit draußen sah man nun jeden Augenblick eine kleine Welle weiß schäumend zusammenbrechen. Sie hatten die Segel gesetzt, sie waren wirklich auf See.
An Deck bot sich für Olivers Augen ein überwältigendes Schauspiel. Ein bisher unberührtes Geheimfach voller Empfindungen schien plötzlich in seinem Innern aufzuspringen und sein ganzes Wesen zu überschütten. Woher diese Erregung? Ein Schiff unter vollen Segeln bei heiterem Wetter – wie oft ist das nicht schon gepriesen, gemalt und photographiert worden! Schön? Gewiß, aber abgedroschen wie Maßliebchen, Rose, Lerche, Nachtigall und alle andern Gemeinplätze volkstümlicher Poesie. Oliver machte sich wenig aus Poesie; seinem jugendlichen Geiste kamen Entzückungen über das Schöne schlechtweg albern vor. Nahm er vielleicht in diesem Augenblick das Schöne zum ersten Mal wahr? Die unerwartet riesige Fläche des Segeltuchs beunruhigte in ihrer luftigen, unberechenbaren Kühnheit zunächst seine Landinstinkte: falls die Windgötter plötzlich ein wenig schärfer bliesen, was würde dann aus all diesen weiten Schleierflügeln werden? Doch gab ihm die offenkundige Beständigkeit und Freundlichkeit der gezähmten Naturgewalt das Gefühl der Sicherheit gleich wieder zurück und erhöhte es zum Machtgefühl.
Die Götter hatten mit dem Menschen ein Bündnis geschlossen, ein Bündnis unter gewissen Bedingungen, worin sie versprachen, ihn, wenn er gehorchte, auf ihren Schultern zu tragen. Alles zitterte, aber alles hielt stand; jeder Teil war lebendig und trieb sich selbst vorwärts, aber leicht schwingend und genau ausgewogen zog alles vereint in sicherem Flug dahin. Das Ungestüm eines Topsegels oder eines flatternden Klüvers glich dem Sopran von Chorknaben in einer glorreichen Hymne, während die straffen Segelleinen und Taue, die Raaen und Spieren summten wie männliche Bässe und Baritone, die den Grundton hielten und die Harmonie trugen.
Und der Hintergrund dieser Choralherrlichkeit war kaum weniger wunderbar. Ein Inselreich von Sommerwolken schwamm leicht im Himmel einher, und die lange, fast unmerkliche Dünung des Ozeans war munter gekraust von einer Unmenge sonnenglänzender kleiner Wellen. Inseln und Leuchttürme verschoben langsam ihre Perspektiven; und hie und da schien ein entfernter Dampfer oder Küstenschoner, das Deck hoch mit Holz beladen, die Dahinziehenden auf ihrer müßigen Reise zu ermutigen: er bezeugte, daß es Häfen gab und Lohn für die Fahrt jenseits der unbezwungenen Leere der See.
Lange Zeit stand Oliver am Bug und blickte auf die Segel und das Wasser; er schaute neugierig auf die Back, in die Kombüse, die Offiziersräume, den Maschinenraum und selbst ins Gatt. Hier und da machte ihm ein Trupp schneeweißgekleideter Matrosen Platz, die mit ihren bloßen Füßen wie eine Schar kräftiger Affen aussahen; wenn sie merkten, wie jung und grün er war, erboten sie sich gutmütig ihm dies und jenes zu erklären, bevor sie unter Deck tappten oder in die Takelage kletterten. Einzig seine eigene Kabine mochte er nicht erforschen, da er nur ihren Luxus sah.
»Du langweilst dich doch nicht, hoffe ich«, sagte sein Vater, als Oliver schließlich wieder nach achtern kam.
»Langweilen! Ich habe nie etwas so Schönes gesehen. Wenn Fräulein nur hier wäre; sie wurde rufen: wundervoll! wunderschön! herrlich! und großartig!«
»Sieh dich vor. Wenn du das Meer zu sehr liebst, verschluckt es deine ganze Vernunft und schließlich dich in Person. Na, es ist fast Lunch-Zeit, und später wird sich Lord Jim – will sagen, der Kapitän – deiner annehmen und dir die Namen von allem hier beibringen. Es ist bei der Navigation ebenso wichtig wie bei der Wissenschaft, daß man weiß, wie die Dinge heißen.«
»Aber warum nennst du ihn Lord Jim, wenn er ein bloßer Mister ist?«
»Das habe ich mir nun mal so angewöhnt, es ist bloß ein Spitzname. Er heißt tatsächlich mit Vornamen Jim, aber ich habe ihn in ›Lord Jim‹ veredelt, nach dem Helden der Erzählung von Joseph Conrad. Hast du die gelesen?«
»O ja; aber hat denn Mr. Darnley auch einmal sein Schiff mit allen Passagieren untergehen lassen und sich selbst in dem einzigen Rettungsboot davongemacht?«
»Das nicht; aber er ist in anderer Weise gebrandmarkt worden – hat bei der britischen Marine den Abschied bekommen, als er Kadett war, hat dann ein Wanderleben angefangen, nur in westlicher statt in östlicher Richtung, und war dabei ziemlich heruntergekommen. Er ist der Sohn eines Geistlichen, gerade wie der Lord Jim im Roman, und ein erstklassiger Seemann.«
»Das einzig Schlimme«, sagte Oliver, der über diesen Punkt schon viel nachgedacht und ihn mit seiner Mutter und Irma ausführlich diskutiert hatte, »war bei Lord Jim, daß in kritischen Augenblicken ein Traumzustand über ihn kam, so, als hätte er irgend ein Rauschmittel genommen – sehr bedenklich bei einem Mann, der Autorität ausüben soll. Tut Mr. Darnley das?«
Oliver bemerkte kaum, daß sein Vater betroffen aufschaute und ziemlich hastig sagte: »Ganz im Gegenteil. Über diesen Lord Jim hier kommt ein Traumzustand, wie du es nennst, nur in unbeschäftigten Augenblicken, wenn er an Land ist und irgend ein Zufallsbekannter eine Goldmine oder ein Pferd, das ganz bestimmt im Derby siegen wird, vor ihm lobpreisend in den Himmel hebt. Auf See und in Gefahr ist er wunderbar wach und erfaßt die Sachlage sofort. Er hat die wahre militärische Begabung und wäre ein ausgezeichneter Soldat geworden, wenn er bei der Marine hätte bleiben können.«
»Warum nennst du ihn dann überhaupt Lord Jim? Ist er König auf einer Insel bei den Wilden gewesen?«
»Nur König auf diesem Schiff. Er spielt den Lord über mich hier; doch ich muß gestehen, daß er das sehr gut macht und ganz zu meinem Vorteil, so wie deine Mutter zu Hause. Er erspart mir eine Menge Ärger und eine Menge Geld, glaube ich. Ich hätte längst das Leben auf dem Schiff aufgeben müssen, wenn er nicht da wäre und für mich sorgte. Übrigens könnte er wirklich eines Tages Lord werden, wenn zwei oder drei jetzt noch lebende Leute ohne männliche Nachkommen sterben, denn von väterlicher Seite her stammt er aus einer aristokratischen Familie; nur, habe ich gehört, sind sie schrecklich arm; haben nichts zu verzehren als das Einkommen eines Landpfarrers.«
In diesem Augenblick erschien der Kapitän lächelnd und mit bloßem Kopf selbst an der Kabinentür; doch merkte er, daß über ihn gesprochen wurde und kam nicht näher. »Lunch!« rief Peter aus, als gebe ihm dieser Gedanke neues Leben; und auf den Kapitän zutretend: »Oliver hat mich gerade gefragt, ob Sie der Sohn eines Herzogs oder nur der eines Marquis sind.«
Lord Jim grinste breit, und während er Oliver mit einer freundlichen Geste veranlaßte, vor ihm die Treppe hinunterzuklettern, sagte er ihm vertraulich ins Ohr:
»Ich bin nur der Sohn eines armen Pfarrers, aber Ihr Vater macht sich gern ein bißchen über mich lustig.«
Sie setzten sich zu Tisch, bestellten ihre Getränke, und das verwischte die leise Peinlichkeit des vorhergegangenen Augenblicks; doch Oliver nahm alles ringsum nur halb und wie träumend in sein Bewußtsein auf: das Essen und Trinken, die Einrichtung der Kabine, die Beflissenheit des Stewards. Wie kam sein Vater dazu, etwas so Unsinniges zu erfinden wie diese Frage, die er, Oliver, da gestellt haben sollte? Wirklich konnte ihm nichts ferner liegen, als wissen zu wollen oder sich darum zu kümmern, wessen jüngeren Söhnen es zukam, den Titel »Lord« vor ihrem Vornamen zu führen. Warum war sein Vater hier so vollkommen anders als zu Hause? Dort hielt er sich, wie die ganze übrige Familie, peinlich genau an die Wahrheit, wenn er sich auch zuweilen durch etwas Ironie dafür entschädigte, daß man so gewissenhaft sein mußte. Aber zu schwindeln oder unmögliche Dinge und Mystifikationen von so absonderlicher Art zu erfinden, lag ihm ganz fern; auch verbreitete er sich daheim nicht über seine persönlichen Gefühle und Ansichten; auf diese konnte man nur schließen aus der spöttischen Art, in der er seine früheren Abenteuer oder den Verlauf öffentlicher Ereignisse beschrieb. Heute morgen in der Achterkajüte dagegen hatte er in einem visionären Stil gesprochen, den Oliver nicht ganz verstand. Am Ende war hier der Ort, wo sein Vater sich wirklich zu Hause fühlte und sich in seiner wahren Gestalt zeigte? Hier schien er von Ergebenheit und lächelnder Zuneigung umgeben; hier konnte er scherzhafte Lügen vorbringen, ohne befürchten zu müssen, daß ihn irgend jemand zur Rechenschaft zog. Doch warum gerade diese Lüge? Warum beharrte er so hartnäckig auf diesem seltsamen Einfall, diesem Spitznamen für seinen Kapitän? War das nicht ziemlich geschmacklos, und konnte es nicht beleidigend wirken? Der Lord Jim in der Geschichte von Conrad war ein netter Kerl; doch da die Ähnlichkeit gerade darin bestand, daß beide jungen Männer fortgejagte Marineleute waren – war es da nicht grausam, Mr. Darnley fortwährend an diesen Umstand zu erinnern? Aber Mr. Darnley schien es nicht übelzunehmen, mochte es anscheinend ganz gern, als adelte es ihn wirklich oder gäbe ihm doch etwas mehr Ansehen, daß er Lord Jim genannt wurde. Oder machte er nur gute Miene zum bösen Spiel?
Da Oliver sensitiv und einsam war, besaß er viel Scharfblick, und er beobachtete den jungen Kapitän noch genauer, als er je zuvor in seinem Leben jemanden beobachtet hatte. Der junge Mann war in seinem Benehmen höchst ehrerbietig, so, als stände er einem vorgesetzten Offizier oder einem konstitutionellen Monarchen gegenüber, und doch schien er sich des Terrains ganz sicher zu fühlen; es war denkbar, daß er sich manchmal herausnahm, vertraulich oder unverblümt zu werden, wie ein Premierminister, der in Wirklichkeit die Zügel der Herrschaft in der Hand hält. Der Doktor seinerseits schien Mr. Darnley mit einem gewissen liebenden Besitzerstolz zu betrachten, etwa wie einen großen Hund, dessen schöner Anblick und munteres Gebaren durch gehorsame Bereitschaft doppelt herzgewinnend wirkt. Und Jim Darnley schien diese zweideutige Stellung mit einer Miene höflicher Dankbarkeit zu akzeptieren, sogar die Neckerei, Lord genannt zu werden, obgleich er keiner war.
War er albern genug, sich wirklich geschmeichelt zu fühlen, und freudig bereit, die Komödie aufrechtzuerhalten? War er in der Erniedrigung so in seinem Element, daß sie ihn nicht mehr kränkte? Ähnlich wie der große, schöne Hund, wenn er fühlt, daß man ihm eine Missetat verziehen hat, mit eingeklemmtem Schwanz schmeichelnd näher kommt und zugleich mit der Schwanzspitze wedelt! Oder lag der Haltung seines Vaters etwa gerade eine zarte Herzensgüte zugrunde, die den jungen Darnley so viel wie möglich für seine Schande entschädigen und vor sich selbst rehabilitieren wollte? Wollte sein Vater damit etwa sagen: »Du bist wirklich ein erstklassiger Kerl wie der Lord Jim in der Geschichte, und wir brauchen nicht so zu tun, als hätten wir die Vergangenheit vergessen. Ich lasse sie vielmehr gelten. Wir wollen offen auf dieser Grundlage aufbauen.« Wie verhielt es sich mit dieser Vergangenheit? Warum war Jim Darnley aus der Marine ausgestoßen worden? Natürlich würde Oliver nicht danach fragen. Eine solche Frage wäre unverschämt und könnte außerdem den Eindruck erwecken, als nähme Oliver persönliches Interesse an der Sache, was er doch keineswegs tat und nicht tun konnte, da sie ihn nichts anging. Zweifellos würde er es eines Tages erfahren, ohne zu fragen.
Die Unterhaltung bei Tisch drehte sich hauptsächlich um die neuen Maschinen und die Fahrt, die sie später machen wollten; und als der beflissene Steward – auch er ein Engländer, überhaupt schien jeder an Bord Engländer zu sein – das Tischtuch entfernt und den Kaffee serviert hatte, meinte der Kapitän, er wolle die Modellzeichnungen holen, und verschwand.
»Du siehst, was für einen famosen Kapitän ich habe«, bemerkte Peter Alden, während er mit dem Rauch seiner Pfeife Ringe blies. »Ich fand ihn durch reinen Zufall vor vier oder fünf Jahren in Vancouver, als ich mit Jack Flemming beim Salmfischen war. Er sah wie ein Junge aus, war damals Kassierer oder Buchhalter in Shepherds Hotel, dem Hauptquartier für diesen Sport; doch erkannte ich an seiner Redeweise sofort, daß er Seemann war, und zwar ein entgleister junger Gentleman. Er hatte allerhand seltsame Beschäftigungen hinter sich. Als das Goldfieber nach Klondike kam, hatte er das Kommando über einen Schlepper und verschiedene andere Fahrzeuge und trug sein Kapitänspatent schon in der Tasche, nicht nur für Dampfer, sondern auch für Segelschiffe. Als ich ihn traf, hatte das Geschäft in Alaska nachgelassen, und er bekam kein Schiff. Da fiel mir ein, ich könnte ihn versuchsweise als Maat für den ›Hesperus‹ nehmen – ich spielte damals selbst den Kapitän – er ergriff die Gelegenheit mit Freuden und ist seitdem immer meine rechte Hand und ein wahrer Trost für mich gewesen.«
Das Gespräch brach ab, denn Lord Jim kam zurück und breitete drei oder vier große Bogen blaues Papier aus, die mit weißen Linien bedeckt waren. Oliver begriff nicht ganz, was sie bedeuteten, aber er bemerkte, daß Lord Jim, wie er nun mit dem Bleistift in der Hand dem Doktor die verschiedenen Einzelheiten zeigte und erklärte, den andern Arm ganz familiär um dessen Schulter legte. Welche Frechheit! Da nahm sich ein Fremder vor Olivers Augen Freiheiten mit Olivers Vater heraus – Freiheiten, die sich Oliver selbst nicht im Traume erlaubt hätte, und zu denen er offen gestanden auch keine Lust verspürte. Allerdings hatte er seinem Vater auch nie Modellzeichnungen erklären müssen oder sonst etwas außer den Mahlzeiten mit ihm gemeinsam gehabt. Dieser Außenseiter betrug sich sohnesmäßiger und der alte Herr sich väterlicher, als es Oliver je zuvor bei andern Menschen gesehen hatte. War eine solche Vertraulichkeit abstoßend? Oder war etwa die gezwungene Zurückhaltung tadelnswert, die daheim solche Vertraulichkeiten stets verhindert hatte? War dieser Eindringling anstößig, oder war Oliver selbst kalt, vertrocknet, herzlos und ohne wirkliche Sohnesliebe? Wie dem auch sein mochte, sein Vater führte jedenfalls ein Doppelleben und hatte einen doppelten Charakter. Sein zweites Ich war also fähig, seine schweigsame, zurückgezogene und unaufhörlich ironische Art aufzugeben, konnte aus sich herausgehen, Zuneigung geben und empfangen, konnte beredt werden und zu seiner eigenen spitzfindigen Unterhaltung mit phantastischen Vergleichen spielen wie ein Dichter im Alltagsleben.
Wie viele Probleme in einem einzigen Hirn, auf einem einzigen Schiff, in jedem kleinsten Bruchteil der Welt! Sie fuhren mit vollen Segeln vor einer sehr sanften Brise; für eine Weile kam im sommerlichen Dunst das Land außer Sicht. Alles schien umfangen von der müßigen Stimmung einer langen Seereise, auf der man sich tage- oder monatelang damit begnügt, auf das Wohlwollen der Winde zu warten, die die Fahrt beschleunigen oder verlangsamen. Hier war man also, wurde geruhsam vom Unsichtbaren zum Unsichtbaren geweht, ohne einen andern augenscheinlichen Beweis für die Existenz menschlicher Wesen und menschlicher Wohnungen als dieses eine Schiff und seine Besatzung.
Endlich machte jemand Oliver auf etwas am Horizont aufmerksam, das kaum von einer Wolkenbank oder einem Schattenstreifen im Wasser zu unterscheiden war. Dann wurde ein weißer Leuchtturm sichtbar, dann die niedrig daliegende Küste von Cap Cod, Sand und ein paar Felsen, an denen sich die müden Wellen brachen. Die Natur schien sehr sanft zu atmen und eingeschlafen zu sein. Als gehorche er dem Genius des Ortes, ging der ›Schwarze Schwan‹ vor Anker, rollte seine Segel auf, eins nach dem andern, und eine urzeitliche Erstarrung überkam ihn, so, als hätte sich der Seevogel wieder in die Meer-Echse zurückverwandelt, die wie scheintot daliegt und – wie vielleicht alle schlummernde Substanz – nur lebt, indem sie sich willenlos treiben läßt, ohne auf etwas Bestimmtes zu warten. Und doch wird eines Tages etwas Bestimmtes eintreten. Nichts ist trügerischer als der Friede der Natur, bei dem wir uns in dem Gedanken wiegen, die Berge seien zusammengefügt, um zu dauern und für ewig zu schlafen. Der Friede der Materie ist ein Oberflächenphänomen, die Maskierung eines unaufhörlichen inneren Krieges. Der Stoff ist voller verborgener Quellen und schlummernder Wahlverwandtschaften; ein verstohlener Einfluß hier, ein heimlicher Antrieb dort, und sogleich wird ein verräterisches Geschiebe entstehen, das das Gleichgewicht zerstört: dann folgt eine unerwartete Entwicklung, oder aber ein plötzlicher Ausbruch vulkanischer Kraft.