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Zwei Jahre lang hatte Oliver nichts vom Meer und von der Alten Welt gesehen. Ein beinahe sakraler Lebensrhythmus, ein Gefühl für deutlich geschiedene Jahreszeiten der Seele hatte sich bei ihm herausgebildet; er war durch eine Periode des Reifens gegangen, dem ruhigen Alltagsleben und geduldigen Studium hingegeben. Das Leben im College hatte ihn äußerlich völlig ausgefüllt, und selbst in den Ferien, die er zu Hause oder mit Irma zusammen in den Bergen verbrachte, hatte ihn der gleiche Kreislauf von planmäßiger Lektüre, unablässiger körperlicher Übung und gesellschaftlichen Pflichten in Anspruch genommen. Er war noch ein wenig größer geworden und ein gutes Stück breiter – ein strengeres, schärfer gemeißeltes Abbild seiner umfangreichen Mutter. Seine Züge hatten an Festigkeit gewonnen; die zarte Durchsichtigkeit des Knabengesichtes war einer glanzlosen Ruhe gewichen. Er schien zum völlig konventionellen Musterexemplar eines jungen Mannes geworden zu sein. Und doch spielte hinter dieser alltäglichen Maske ein verborgenes Drama in seiner Seele, und eine ruhende, aber standhafte Treue gegen alles, was nun fern war, ließ ihn sein Tagewerk bloß mechanisch verrichten. In der Tiefe seines Wesens lebte er nach wie vor im Lichte einer andern Welt, wo nur die Dinge wohnten, die einstmals sein Herz berührt hatten.
Als es zum zweitenmal nach dem Tode seines Vaters September wurde, brachte der Zufall einen Teil dieses geheimen Lebens an die Oberfläche. Mario van de Weyer sollte auf dem Weg zum Harvard College in New York ankommen; und zufällig mußte Oliver gleichzeitig nach New York, um einer Konferenz verschiedener Colleges beizuwohnen, die den Plan der Rugby-Spiele für die kommende Saison festlegen wollte. So traf es sich glücklich, daß er, ohne es zu Hause eigens erwähnen zu müssen, seinen jüngeren Vetter treffen konnte – diesen seltsamen Amerikaner, der noch nie in Amerika gewesen war – und zwar im gleichen Augenblick, wo Mario sein eigentliches Vaterland zum ersten Mal betrat. Wie gut, daß er gleich zur Stelle sein konnte, um den Jungen richtig einzuführen, das Eis für ihn zu brechen – wenn man sich so ausdrücken durfte, während das Thermometer 99 Grad im Schatten anzeigte – und zu verhindern, daß er von der ganzen Art des Landes einen ungünstigen ersten Eindruck empfing. Es kam sehr darauf an, wie man alles arrangierte. Olivers Anwesenheit – nicht zu vergessen sein Geldbeutel – würde alle Härten mildern.
In Geldsachen war Oliver gleich seinem Vater ein guter Haushalter und Rechner. Freilich besaß er ebensowenig Talent zum Geschäftsmann, wie es sein Vater besessen hatte. Beide legten keinen Wert auf Geld; Peter behandelte es mit Humor und eleganter Sorglosigkeit, Oliver dagegen asketisch und melancholisch, beiden kam die Tatsache ihres Reichtums sinnlos und unverdient vor. Und doch waren beide bei ihrem Tode reicher als bei ihrer Geburt. Trotz aller Großzügigkeit rechneten die Finger ihrer linken Hand unwillkürlich nach, was die der rechten ausgegeben hatten.
Oliver hatte eine sehr anständige Rente für sich durchgesetzt; er führte ferner ein, daß seine Vormünder alle seine Spenden für öffentliche und akademische Einrichtungen gesondert bezahlten, denn diese Ausgaben, erklärte er, sollten mit seinem wirklichen Vermögen in Einklang stehen, nicht etwa mit seiner Rente. Auch hatte er wiederholt Einzelbeträge erhoben – immer für sehr würdige Zwecke – indem er drohte, sich das Geld zu leihen, falls man es ihm verweigere. Da er außerdem selbst sehr einfach lebte und alle kleinen Ausgaben vermied, hatte er sich schon eine beträchtliche Summe erspart und war auch unabhängig von seinen Vermögensverwaltern imstande, seine persönliche Großmut im stillen nach eigenem Ermessen zu betätigen.
Unter dem Gesichtspunkt der Macht bereitete ihm sein Reichtum Freude. Er würde wirklich Gutes tun können. Die Macht des Reichtums war von derselben unerschütterlichen Realität wie die sportliche Tüchtigkeit. Wenn man in zehn Sekunden hundert Yards laufen konnte, dann konnte man es eben, einerlei, ob die Leute es für sinnlos hielten oder nicht; und wenn man ohne Sorge hundert Dollar hier und hundert Dollar dort verschenken oder ausgeben konnte, so konnte man es; und das verlängerte die Reichweite des Armes in wunderbarer Weise. Oliver sah klar voraus, daß die Anwesenheit Marios in Amerika sich als ein kostspieliges Vergnügen erweisen würde; und dieser Gedanke entzückte ihn geradezu. Er würde den Wirkungskreis seiner Persönlichkeit nun um das Doppelte ausdehnen können, ohne sich damit bloßzustellen; sein Einfluß würde so weit reichen wie die äußersten Grenzen von Marios Leben – wahrscheinlich also recht weit! Er würde es einer andern Persönlichkeit – und was für einer reizvollen! – möglich machen, reizvoll zu leben und so ihren Reiz zu bewahren.
So glücklich fühlte sich Oliver in der Rolle des älteren Bruders, daß er fast hoffte, es möchte irgend eine Schwierigkeit auftauchen, damit er Vanny mit fliegenden Fahnen zu Hilfe eilen könnte; und er überlegte sich ernstlich, ob es unter diesen Umständen, da der unbemittelte Junge womöglich etwas Unerlaubtes bei sich hatte, wohl unrecht wäre, dem Zollinspektor fünf Dollar anzubieten, damit er nicht allzu gründlich kontrollierte. Er hatte Mario im Manhattan-Hotel, wo er in New York jedesmal wohnte, ein Zimmer neben seinem eigenen genommen. (Olivers Wesen war schon so festgefügt und ausgeprägt, daß alles bei ihm sich wiederholte wie bei einem alten Mann; jeder Tag seines Lebens, jede Unternehmung, jede Freundschaft neigte dazu, dieselben Phasen zu durchlaufen.) Er hatte auch schon einen Platz im Pullmanwagen für den nächsten Morgen besorgt; und da Mario die amerikanischen Verhältnisse nicht kannte, mußte man ihn wohl persönlich an den Zug bringen, um ihn sicher in den Schoß der gastfreundlichen Familie seiner Großmutter zu befördern.
So geschah es, daß sich Oliver am Ankunftstage mit einem Journalistenausweis in der Tasche in dem kleinen Presseboot befand, das der ›Lorraine‹ entgegenfuhr. Jim Darnley, der sich oft in New York, wenn auch nicht mehr im Manhattan-Hotel aufhielt, hatte das vermittelt. Er war auf der Marineagentur in der Nähe der Battery zu erreichen, und niemand wußte, wo er übernachtete. Der treue Oliver vergaß ihn nie, wenn er durch New York kam. Am vergangenen Abend hatten sie zusammen im Café Martin gegessen. Obwohl Jim allmählich eine Glatze bekam, zeigte er innerlich mehr Jugendfeuer als je, steckte voller Pläne und baute Luftschlösser zu Wasser und zu Lande. Sobald er gehört hatte, daß Olivers junger Vetter mit der ›Lorraine‹ erwartet wurde, war ihm diese geniale Idee gekommen.
»Das französische Schiff«, sagte er, »wird nicht vor Mittag anlegen. Der Presseinspektor ist ein Freund von mir. Ich werde dir eine Pressekarte verschaffen, dann kannst du der ›Lorraine‹ mit dem Boot entgegenfahren. Es werden eine Menge Reporter dort sein, weil die Gorgorini mit einem Teil der Operntruppe an Bord ist. Du kannst mit deinem Vetter den Hafen heraufsegeln und ihm die Freiheitsstatue und die Wolkenkratzer zeigen, falls er nicht von selbst auf sie aufmerksam wird. Ein Journalistenabzeichen und einen Ausweis für dich kriegen wir leicht. Bist du nicht so was wie ein Herausgeber eurer College-Zeitung? Sehr gut, und du willst über die Ankunft der ›Metropolitan Opera Troupe‹ berichten und Madame Gorgorini interviewen! Wenn dir die Sache zu ungewohnt ist und du dich mit der Sängerin nicht abgeben willst, so brauchst du das auch gar nicht. Du kannst statt dessen deinen vornehmen Vetter interviewen. Ich habe in meinen jungen Tagen auch mal Reporter gespielt und kann dir einen nützlichen Wink geben. Die Gorgorini wird bestimmt sagen, daß die Rückkehr ins liebe, alte Amerika ihr vorkommt wie die Heimkehr nach Hause; und du mußt hinzufügen, daß sie niemals jünger ausgesehen hätte. Triff mich morgen um halb zehn am Eingang des Rathauses, dann werde ich dich Mr. Moik Hennessy, dem Inspektor, vorstellen. In ganz Tammany Hall gibt's keinen netteren Chef.«
Jim wurde recht lästig, immer war er so diensteifrig, immer verfiel er auf etwas verkehrte Unternehmungen, die er auf etwas verkehrte Art ausführte. Stets fürchtete er, man könnte ihn vergessen, wenn er einem nicht eine Weihnachtskarte und ab und zu irgend einen dummen Zeitungsausschnitt schickte; stets erinnerte er einen daran, daß man heute in einem Jahr – nein, in genau dreizehn Monaten in den Besitz seines Vermögens gelangen würde. Und doch kam Oliver durch diesen groben Mittelsmann mit so manchen Dingen in Berührung, von denen ihn sonst eine gläserne Wand völlig abgeschlossen hätte. Dazu gehörte nicht nur die Berührung mit jener rauhen, lustigen Welt, von der zu wissen schließlich ganz gut war, sondern auch die Berührung mit Dingen, die man wirklich liebte: mit dem Meer, mit Iffley und nun mit dem schon so lange entbehrten Vetter.
Wieviel netter war es, nach dieser zweijährigen Trennung Mario draußen auf dem Meere wiederzusehen, anstatt hilflos in der unbehaglichen Hitze auf dem Pier warten zu müssen und dann zu winken, zu schreien und zu lächeln, während der endlose Strom der Passagiere unsicher und mit Koffern, Handtaschen, Golfstöcken und Reisedecken beladen die steile Laufbrücke herunterstolperte! Wie famos, daß man auf diese Weise eine Stunde friedlich miteinander plaudern und hinter dem neuen Gesicht des Freundes das wohlvertraute alte wiederentdecken konnte! Und wie überrascht würde Mario sein, wenn er den sonst so seßhaften Vetter an Bord des Schiffes traf und im Triumph an Land gebracht wurde, während er darauf gefaßt sein mußte, einsam und ungefeiert anzukommen und durch tausend kleine, für den Fremden unvermeidliche Schwierigkeiten und Mißverständnisse verstimmt zu werden!
Einstweilen war es schon erfreulich, der drückenden Hitze der Stadt entronnen zu sein. Hier im Boot wirkte zwar die Sonne noch blendender und brennender, da tausend tanzende Wasserspiegelchen sie zurückstrahlten wie ein großer Kronleuchter; doch war etwas Frische im Salzgeschmack der Luft, und das Boot, das wie eine Bulldogge schnaufte, bewirkte im Fahren eine Art Meerbrise, von der es sehr viel Wesens machte. Und plötzlich tauchte wie ein riesiger Frachtdampfer der schwarze Rumpf der ›Lorraine‹ auf, die ihre Maschinen abgestoppt hatte, bereit, die Ankömmlinge an Bord zu lassen.
Oliver kletterte, gefolgt von den eifrigeren der berufsmäßigen Reporter, an einer Strickleiter herauf; er sprang über die Reeling, stand auf dem schmutzigen Hauptdeck und war nun auf seine eigenen Kräfte angewiesen. Schnell durchschritt er die oberen Decks und suchte unter den Gruppen der Reisenden begierig nach dem bekannten Gesicht. Weit und breit kein Mario! Er befragte einen anscheinend ganz freundlichen Steward und wurde zu Marios Kabine geführt; auch da kein Mario! Halle und Rauchsalon waren mit einem Blick zu übersehen, denn die Passagiere hatten sie in der freudigen Erregung der Ankunft größtenteils verlassen; das machte nichts, der Junge mußte ja in einigen Minuten an Deck erscheinen.
Als einer der Reporter, der mit Oliver im Boot gewesen war, ihn so offenkundig nach jemand suchen und Ausschau halten sah, zeigte er mit dem Daumen nach einer lärmenden Gruppe von Ausländern und sagte vertraulich: »Da ist sie«. Im gleichen Augenblick durchdrang ein greller, aber doch recht klangvoller und theatralischer Schrei die verschiedenen Geräusche der lebhaften Unterhaltung. Man sah ein winziges Pekinesenhündchen, von einem schlanken, aber ziemlich kräftigen braunen Arm gehalten, über dem Wasser schweben; und am Knöchel dieses Armes glänzte vor Olivers erstaunten Augen Vetter Calebs goldene Uhr im Sonnenlicht. Also da war Mario! Er stand mit dem Rücken zu Oliver, umdrängt von diesem Kreise lachender, schreiender, gestikulierender Ausländer. Nun zog sich der Arm zurück, er hatte das Hündchen nicht fallen lassen; aber alsbald vernahm man einen andern deutlichen Laut, ein schallendes Klatschen, dem ein neues Auflachen folgte, diesmal nicht so herzlich, sondern kurz und mißvergnügt; und wie auf Verabredung öffnete sich der Kreis dieser geräuschvollen Leute und verlief sich. Mario, der jetzt in ganzer Person sichtbar wurde, drehte sich um. Einen Augenblick sah er Oliver verständnislos an, dann stürzte er mit offenen Armen auf ihn zu. »Oliver, Oliver, Oliver!« rief er, »du hast dich kein bißchen verändert; nur viel, viel größer und stärker bist du noch geworden. Komm gleich und laß dich Madame Gorgorini vorstellen!«
Aber hatten sich die beiden denn nicht gestritten? Preßte nicht Mario ein Taschentuch gegen seine rot angelaufene Backe? Na ja, das bedeutete weiter nichts. Das war kein Streit gewesen; ganz im Gegenteil. Sie hatte nur um ihren kleinen Pekinesen Angst gehabt. Mario hatte geschworen, das kleine Biest in die See zu werfen und zu ertränken, wenn sie nicht gestände, daß sie es weniger lieb habe als ihn. Das hatte sie denn gestanden, hatte ihren lächerlichen Spielzeughund zurückerhalten, hatte ihn mit Küssen bedeckt und Mario eine Ohrfeige verabreicht, weil er sie so geängstigt hatte. Aber ihr Geständnis galt dennoch, und folglich schuldete sie ihm nicht nur mehr Küsse, als sie an diesen teuflischen kleinen Kobold verschwendete, sondern außerdem noch volle Entschädigung für den Schlag ins Gesicht. Der brannte, weiß Gott, ganz gehörig! Sie wußte genau, daß sie ihn teuer würde bezahlen müssen, und das bald! Vielleicht hatte sie gerade deswegen so fest zugehauen!
Ein kleines, halb sinnliches, halb bitteres Lächeln spielte um Marios Lippen, während er das sagte, und in seinen Augen tauchte ein Licht auf, in dem sich geheime Erinnerungen und Erwartungen spiegelten. Er kam Oliver wie ein anderer Mensch vor. Er hatte sich dem englischen Vorbild nicht angenähert, sondern sich von ihm entfernt. Tatsächlich hatte er ja auch in diesen zwei Jahren nur ein Semester in Eton zugebracht, die übrige Zeit aber bei seiner Mutter in Paris, Florenz und in italienischen Badeorten gelebt. Der Knabe Vanny war verschwunden, und der alterslose und unergründliche Mario war geblieben.
Er sah wie ein junger Sportsmann aus, aber er hatte nichts von dem schlichten, arbeitsamen, seemännischen, angelsächsischen Typ, sondern wirkte exotisch, fast einem Faun oder einem liebenswürdigen Dämon vergleichbar: anmutig bei aller Kraft, seltsam beweglich und geschmeidig und unberechenbar – als sei er von einer andern Rasse. Seine Haut war von der gleichmäßigen Bronzefarbe einer Statue, und die wehenden Enden seiner braunen Haare, die die Sonne gebleicht hatte, glänzten hier und da wie blasse Goldspuren auf einem alten Gemälde. Konnte das Olivers Vetter und Schulfreund sein? Und doch schien etwas völlig unverändert: die Zuneigung dieses seltsamen Wesens für Oliver. Mario hatte nicht im geringsten gezaudert, ihn zu erkennen, zu umarmen, in der alten Weise festzuhalten; ohne Scheu oder Zweifel hatte er augenblicklich zu verstehen gegeben, daß er ihm die größte Zuneigung, das herzlichste Vertrauen entgegenbrachte, und daß Oliver sich unbesorgt von dem geschwinden Lebensstrom seines Vetters forttragen lassen möge.
So wurde Oliver mit Gewalt einer üppigen, blühenden Dame vorgeführt, die wunderbar gekleidet und wunderbar bemalt war. Ihre Haltung war ruhig und würdig, aber dahinter sprühte es von sinnlichem Leben. Manchmal schmollte sie ein wenig über die nutzlosen Reden anderer Leute, und bei passenden Gelegenheiten ließ sie ihre riesengroßen schwarzen Augen auflodern; im übrigen wirkte sie eher passiv und lässig. Sie reichte Oliver nicht die Hand, sondern neigte nur lächelnd ein wenig den Kopf, dann sagte sie irgend etwas – war es Französisch oder Italienisch oder eine Mischung von beidem? – als wollte sie ihn zugleich begrüßen und tadeln, diesen giovanotto americano, diesen méchant cousin, der gekommen war, ihr Mario fortzunehmen. Der ganze Kreis – denn es standen noch immer mehrere Personen um sie herum, da die Dame zu den Menschenkindern gehörte, die es nicht ertragen können, einen einzigen Augenblick allein zu sein – fuhr fort, unendlich schnell und für Olivers Begriffe unverständlich weiterzuschwatzen; alle warfen gleichzeitig mit kleinen, kurzen Sätzen um sich, und offenbar hörte keiner, was der andere sagte. Oliver bemerkte hier zum ersten Mal, daß der ursprünglichste Zweck des Gespräches in der Befriedigung des Redebedürfnisses besteht. Ihn langweilte eine allgemeine Unterhaltung, da er von Natur schweigsam war.
Jetzt waren sie am Dock angelangt, und alles geriet in Aufregung. Nicht so Madame Gorgorini. Sie gestattete weiterhin, daß man sie bediente, und überließ es ihrer Zofe, das Handgepäck zu zählen. Aber nun mußten die Vettern ihr Lebewohl sagen. Diesmal hielt sie Oliver graziös eine weiche, zärtliche Hand hin; man hätte nicht denken sollen, daß sie so hart schlagen konnte; und als Finale schoß noch einmal aus den schwarzen Augen ein vollerer, länger verweilender Blitz, dessen funkelnder Glanz Oliver fast blendete; es war, als strahlten ihm gleichzeitig die Lichter zweier Leuchttürme entgegen. Und doch war dieser überwältigende Blick ganz Güte, und seine Koketterie verschwand fast völlig in mütterlicher Resignation.
»Ich verzeihe dir«, schien sie zu sagen, »ich akzeptiere dich. Ich sehe, du bist ein netter Junge und du liebst ihn, genau wie ich, nur zu seinem eigenen Besten. Du darfst ihn für ein paar Stunden mit fort nehmen. Gib acht, daß er keine Streiche macht, und schicke ihn mir zurück, damit er mich mehr liebt als je zuvor. Ich bin nicht unvernünftig, ich bin nicht eifersüchtig, aber ich gestehe, ich habe ein weibliches Herz, ein mütterliches Herz, und ich kann nicht grausam sein.«
Nachdem also Mario von der herrschenden Sultanin für den Tag gnädig freigegeben war, mußte er ihrem Großvezir oder Impresario noch au revoir sagen und dann allen andern Damen der Truppe, desgleichen dem zweiten Offizier und dem Schiffsarzt; schließlich mußte er noch seinem Steward ein Trinkgeld geben.
»Laß uns die ersten sein, die an Land gehen«, flüsterte er Oliver zu und erkletterte die Reeling an der Stelle, wo gerade die Laufbrücke festgemacht wurde. »Ein großer Augenblick! Nun werde ich zum ersten Mal den Boden meiner Heimat berühren. Eigentlich sollte ich ihn küssen, aber ich will's lieber nicht tun.« Und er lachte über die schmierigen Bohlen, die aufgehäuften Kisten und den Unrat, der auf dem Pier herumlag.
»Aber wo ist denn dein Gepäck?« fragte Oliver, fürsorglich und sachlich wie immer.
»Ich hab' keins. Das heißt, der Manager hat es übernommen, dafür zu sorgen.«
»Und die Zollrevision?«
»Das wird alles mit den Sachen der Gesellschaft erledigt. Für den Notfall hat er meine Schlüssel.«
»Aber weiß er denn, wohin er es schicken soll? Ich habe ein Zimmer für dich im Manhattan-Hotel genommen.«
»Wie nett von dir, das sieht dir wieder ähnlich! Und tagsüber wird es auch praktisch sein – da kann ich mich waschen und so. Aber für die Nacht bin ich schon im Brevoort-House angemeldet, wo die Gorgorini hingeht. Sie würde mir nie verzeihen, wenn ich nicht käme.«
Oliver begann sich überflüssig vorzukommen, ein Gefühl, das ihm besonders unangenehm war. Er hatte etwas so ganz anderes erwartet. Wo war nun sein armer kleiner Vetter Vanny, den er hatte lenken, beschützen und begönnern wollen, um ihn recht sanft in eine verwirrende neue Welt einzuführen? Dieser zarte Neuling schien schon alle Schliche zu kennen. Zwei verschiedene Zimmer in zwei verschiedenen Hotels zu haben und in keinem von beiden zu schlafen, war ihm offenbar etwas ganz Alltägliches und Natürliches. Ebenso natürlich schien es, daß andere Leute für beide Räume zahlten. Außerdem zeigte er sich bis jetzt wenig von den Wundern der nahenden Stadt beeindruckt. Dem Hafen und den Docks hatte er nur gelegentliche halbfachmännische Blicke geschenkt; über die Freiheitsstatue hatte er gelacht und gesagt: »Sieht ganz nach ›Dritter Republik‹ aus!« Sogar die Wolkenkratzer nahm er so selbstverständlich als wären es Photographien. Augenscheinlich lagen seine Interessen – denn er war wach genug – auf andern Gebieten, sie betrafen die Menschen und ihr Gebaren, sowie seine eigene starke Vitalität. Er schien es entzückend zu finden, auf diese Weise so völlig frei und unbeschwert an Land zu gehen wie der Götterbote Merkur bei einem zufälligen Besuch in New York. Aber dieser Merkur war ohne Hut. Der Hut sei eingepackt, erklärte Mario, als Oliver etwas besorgt danach fragte; denn irgend jemand habe ihm eine so reizende, praktisch eingerichtete Hutschachtel geschenkt, daß er es nicht mehr nötig habe, überhaupt noch einen Hut auf dem Kopf zu tragen; außerdem sei es auch zu heiß dafür. Sogar der stets korrekte Oliver trage seinen Hut ja in der Hand – wie kam er übrigens zu solch farbenprächtigem Band, weiß mit violetten Streifen? Ach, natürlich, das waren seine College-Farben! Er selbst gehörte zur blauen Farbe – aber Weiß und Violett, wie es sich in Williams entfaltete, war nur eine höhere Art von Blau.
Doch Marios Hutlosigkeit war noch nicht das Schlimmste; selbst in diesen Vorkriegszeiten gingen die Allerjüngsten zuweilen schon ohne Hut. Das Schlimmste war vielmehr, daß Mario keine Krawatte hatte, und daß sein dünnes Hemd aufgeknöpft und am Halse zurückgeschlagen war, sodaß beim Lachen sein Schlüsselbein sichtbar wurde. Diese kontinentale Freiheit war in Amerika unerhört; unmöglich konnte man bei Sherry, bei Delmonico oder selbst im Café Martin in diesem Aufzug lunchen; und Oliver begann zu begreifen, daß Freiheit etwas Aristokratisches ist, daß man jedoch in einer reinen Demokratie immer so tun und denken muß, wie es andere Leute wollen. Das merkte Mario noch nicht; es schien ihn nicht zu stören, wenn er Aufmerksamkeit erregte; vielleicht mochte er es geradezu gern, wie manche schrecklichen Frauen es gern mochten. Vielleicht würde es ihn nicht einmal stören, wenn man ihn auslachte. Er würde dann sagen, er trüge zur Erheiterung der Nationen bei, und würde riesiges Vergnügen daran finden mitzulachen.
Von diesen moralischen Problemen etwas beunruhigt, fühlte sich Oliver hilflos und suchte daher Zuflucht bei seiner praktischen Tüchtigkeit. Da sie nun kein Gepäck hatten, brauchten sie keinen kostspieligen Wagen zu nehmen, wie er vorgehabt hatte, sondern konnten den besseren Teil New Yorks auch mit der Hochbahn erreichen.
Auf dem Wege dorthin konnte Mario nicht umhin zu bemerken, daß er seinen trefflichen Vetter in Verlegenheit brachte. Als sie die Treppe zum Broadway hinunterschritten, brüllten ihnen ein paar Straßenjungen etwas nach.
»Hör mal, ich scheine dir Schande zu machen. Wär's wohl besser, wenn ich mir eine Krawatte verschaffte?« Und Mario zeigte auf ein Schaufenster, das wie eine moderne Bühne beleuchtet war, und in dem Krawatten, Socken und Taschentücher, alle in der gleichen Farbe, mit gewollter Schlichtheit arrangiert waren. »Komm mit und such mir eine aus, die wirklich comme il faut ist.«
Oliver war erleichtert, dankbar, entzückt. Nichts schmeichelt uns mehr, als wenn wir von einem Kenner auf dem Gebiete seiner eigenen Spezialität um Rat gefragt werden. Er suchte sogleich nach der hübschesten Krawatte im ganzen Laden; und sein Auge fiel auf eine lange, himmelblaue aus gewirkter Seide; sie schien die festlichste, die reizvollste und die einzig mögliche, überhaupt die einzig richtige Krawatte zu sein. Daß sie zufällig auch die teuerste war, schadete nichts, nachdem Mario begriffen hatte, daß er sie geschenkt bekam. Vor Vergnügen errötend, legte er sie vorm Spiegel um, knotete sie nur leicht, wie eine gewirkte Kravatte es verlangt, strich sein Hemd glatt und knöpfte seine dünne blaue Jacke schick mit dem einzigen Messingknopf in der Taille zu.
»Tatsächlich«, rief er, von der Wirkung und noch mehr von den Geschenken begeistert, denn zu der Krawatte kam noch eine goldene Nadel zum Feststecken, »das ist ganz, als wechselten wir die Krawatten im Zuge nach Harrow zum Kricketwettspiel, nicht wahr? Wie nett!« Er zweifelte nicht, daß ihn die Wahl dieser Farbe an seinen Durchgangsaufenthalt in Eton erinnern sollte, der ihm im Rückblick durchaus glorreich vorkam. Dementsprechend wurde seine Stimmung völlig die eines Schuljungen, der zu den Ferien heimkommt und vorhat, sich recht nett zu benehmen, um einen guten Eindruck auf seine liebenden und freigebigen Verwandten zu machen. Die Gorgorini spielte in diesem Falle die Rolle gewisser Komplikationen des Schullebens, die man besser zu Hause nicht erwähnte; vorläufig mußte ihr Bild völlig in den Hintergrund treten.
Oliver seinerseits fühlte, daß sich der Himmel aufgeheitert hatte. Er hatte seine Überlegenheit wiederhergestellt, und zwar auf doppelte Weise, wie es einem guten Puritaner wohl ansteht: teils durch die Überlegenheit seines Gewissens, teils durch die Überlegenheit seines Geldbeutels. Und diese doppelte Herrschaft würde nun in Kraft treten, so oft die Vettern beisammen waren, gleichviel, was Mario alles unternehmen mochte, wenn er außer Reichweite war. Er sah jetzt vollkommen präsentabel, wenn auch noch etwas auffallend aus; doch schließlich konnte der Bursche nichts dafür, daß seine Erscheinung derartig alle Augen auf sich zog. Oliver freute sich auch über seinen eigenen guten Geschmack, mit dem er gerade diese Krawatte ausgesucht hatte; sie hätte wirklich nicht passender sein können. Er hatte jene andere, ähnliche völlig vergessen, welche die zarten Finger der kleinen Rose geschickt und sorgfältig in Iffley gestrickt hatten: die blaue Krawatte, die einst Jim Darnley ihm zu Ehren im Rauchsalon zweiter Klasse auf der ›Lusitania‹ getragen hatte.