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4

Der kleine primitive Motor zitterte heftig und machte viel Lärm. Manchmal mußte Mario rücklings unter den Wagen kriechen, um die Kette in Ordnung zu bringen oder die Lager zu ölen. Trotzdem fuhr er Oliver, sobald dieser sich an Krücken fortbewegen konnte, damit in Stadt und Land umher. Es war ein Wunder, wie schnell und gut Mario mit dem kleinen Fahrzeug fertig wurde, es drehte und wendete und den Furchen, Löchern und steinigen Stellen der schlechtgehaltenen Straßen aus dem Wege ging; und das alles ohne ernstlichen Unfall. Sogar seine Hände blieben ganz anständig dabei; waren sie auch nicht stets makellos rein, so doch wenigstens unzerkratzt und präsentabel. Das sei nur eine Frage von Handschuhen, sagte er, er habe zu diesem Zwecke eine Menge alter, abgelegter, ausgeweiteter Paare in Reserve. Wenn auch Katzen in Handschuhen keine Mäuse fangen könnten, so könnten doch Gentlemen in Handschuhen sehr gut mit Maschinen umgehen, wenn sie nur dabei ihren Verstand brauchten und genau den richtigen Griff in genau der richtigen Richtung und am richtigen Platze anwendeten.

Oliver, der sonst ziemlich stolz auf seine mechanischen Fertigkeiten war, stand erstaunt und fast beschämt vor der Gewandtheit und Genauigkeit seines dekorativen Vetters. Wie konnte dieser junge Stutzer, dieser Herzensbrecher von Beruf nur so praktisch sein? Und warum gaben leblose Dinge nicht minder als Frauen sofort seiner Berührung nach und tanzten nach seiner Pfeife, als würden sie, unhörbar für menschliche Ohren, von einer Zauberflöte bezwungen?

Im Gegensatz dazu fühlte sich Oliver (ganz abgesehen von seinem bandagierten Bein) schwer und plump an Geist und an Körper, älter und doch unerfahrener. Statt seinen Vetter aus der Fremde in Amerika einzuführen, ließ er sich von dem Neuling Amerika erklären, ließ sich an neue Orte bringen, sich neue Menschen von ihm zeigen und kam durch ihn mit manchen altbekannten und bisher mißachteten Dingen in Berührung. An der Oberfläche war Mario ganz Lachen, Anerkennung und Genuß; er fand alle Speisen gut und alle Mädchen hübsch; und die Aussprüche der verschiedenen ländlichen ›Typen‹ schienen ihn riesig und unvergeßlich zu amüsieren. Aber hinter dieser Lebenslust kam eine seltsame Distanziertheit zum Vorschein; ja, sie war es vielleicht, die das Vergnügen für Mario erst möglich machte.

Oliver, der sich irgendwie für alles verantwortlich fühlte, oder doch wenigstens alles als zu ihm gehörig empfand, konnte an Muschelsuppe oder an Ladenmädchen oder an tabakkauenden Mietstallbesitzern nichts besonders Entzückendes finden; ihm machte selbst die Herzlichkeit der vornehmen Welt keine besondere Freude. Mario aber sah alles das wie ein komisches Schattenspiel auf dem Hintergrund seiner eigenen ausländischen Erfahrung an; und das Ungewohnte daran ärgerte ihn keineswegs und verdarb ihm nicht den Spaß, sondern verwandelte nur alles in einen ausgelassenen Karneval. Zuweilen fand Oliver, sein Vetter lache zuviel, und dazu über völlig ernste Dinge, als sei einfach alles in Amerika eine entzückende Posse. Zuweilen wiederum machte ihn Mario neidisch; er schien dann in sich einen geheimen Ballast zu tragen, eine solide Reserve, die ihn befähigte, bis zur äußersten Grenze den Herrn zu spielen.

Sie fuhren auch nach Groton. In den paar Tagen seines Aufenthaltes in Newport hatte Mario Zeit gefunden, einen der Lehrer und mehrere Jungen kennenzulernen; und inzwischen war er vielen Grotonschülern in Harvard begegnet. Alle hatten sie ihn aufgefordert, ihre Schule einmal zu besuchen. Sie gaben alle zu, daß sie noch nicht ganz den gleichen Zauber hätte wie Eton – sie sagten tatsächlich Zauber – aber es würde ihn sicher interessieren zu sehen, wie weit sie ihr Vorbild verbessert hätten, während doch alle wirklichen und vernünftigen Vorzüge der englischen Public School erhalten geblieben seien. Mario interessierte sich nicht dafür, verschiedene Erziehungsmethoden miteinander zu vergleichen, Oliver dagegen sehr, zumal sich der Vergleich auf Eton bezog, das seiner Phantasie soviel Stoff geboten hatte. Doch war nur Mario, als ein van de Weyer und Etonschüler, aufgefordert worden. Man erwartete nicht, daß er seinen in Groton ganz unbekannten Freund aus Williams mitbringen würde. So galten alle Aufmerksamkeiten und alle Erklärungen Mario, der gar nicht zuhörte, sondern einfach seinen Spaß daran hatte, mit netten Leuten zusammenzusitzen, während man Oliver, der ganz Aufmerksamkeit und Verständnis war, die kalte Schulter zeigte.

Als sie im Gasthaus aßen – denn zum Dinner hatte man sie nicht eingeladen – tauschten sie ihre Eindrücke aus.

»Glaubst du wirklich, daß Groton besser ist als Eton?« fragte Oliver. Mario lachte.

»Ist es nicht sonderbar? Das scheint ihnen hier fortwährend Kopfzerbrechen zu machen, und wenn sie nicht gerade prahlen, entschuldigen sie sich. Warum liegt ihnen so viel daran?«

»Das ist doch ganz natürlich. Diese geistlichen Pensionatsschulen sind alle nach englischem Muster eingerichtet, und die Frage ist nur, inwieweit sie alle guten Eigenschaften bewahrt und alle Mängel verbessert haben.«

»Was für ein Unsinn! Sie können doch zum Beispiel nicht das englische Klima übernehmen, nicht wahr? Auch haben sie weder englische Jungen, noch englische Lehrer importiert. Sie haben weder die englische Landschaft und die englischen Landhäuser, noch die englische Kirche eingeführt. Sie haben nichts mit der britischen Armee und nichts mit dem britischen Imperium zu tun. Was nützt es da, neidisch zu sein? Man kann doch verschiedene Dinge nicht mit demselben Maß messen. Du hast ja gehört, wie sie reden – die Lehrer und ihre Frauen, meine ich. ›Es ist hier genau so, wie ich es in Eton gesehen habe‹, sagen sie, ›nur viel netter! Bessere Bäder, bessere Ventilation, zweckmäßigere Klassenräume – Upper School ist wirklich nicht sehr komfortabel! Auch haben wir hier in Groton keine sinnlosen Grausamkeiten, keine Prügelstrafe, keine Laster, und vor allem ist hier die Religion einfacher und reiner und wird als etwas Unaussprechliches im Hintergrund gehalten, um nur in großen mystischen Augenblicken in Erscheinung zu treten. Alles ist hier besser –‹«

»Mit Ausnahme des Ergebnisses«, fügte Oliver hinzu, der die Jungen in Groton nicht leiden konnte. »Klopfe bei einem Etonschüler auf den Busch, und du findest die Oden von Horaz; klopfe bei einem Grotonschüler auf den Busch, und du findest die letzte Nummer einer illustrierten Zeitschrift.«

»Da vergleichst du also schon wieder. Die Jungen in Groton sind sehr anständig – gut abgerichtet, im Geschirr zu gehen. Nur wenige sentimentale Esel hier schämen sich, das zu sein, wozu sie bestimmt sind und versuchen ihr ›J-a‹ so vornehm wie gurrende Täubchen zu säuseln. Als ob es heutzutage nicht das einzig Richtige wäre, so herzhaft wie möglich ›I-a‹ zu schreien, sich in seinem eigenen Stall durchzusetzen und zu einem Nachmittagstee kein feierliches Chorhemd anzuziehen!«

Um Olivers Idealismus zu befriedigen, machten sie auf dem Rückweg in Concord halt. Sie betrachteten sich den kleinen bronzenen ›Minutenmann‹ bei der Brücke mit der von Emerson verfaßten Inschrift; sie betrachteten das verwitterte Old Manse; dann das schrecklich häßliche Häuschen und das kalte kleine Wohnzimmer, in dem Emerson gelebt hatte; dann sahen sie einander an. Konnten große Dinge so armselige Spuren hinterlassen? Konnte etwas, das erst seit so kurzer Zeit vergangen war, einem jungen Mann doch schon so fern liegen? Mario pfiff vor sich hin, dachte an den Lunch und überlegte, welches die beste Straße für die Heimfahrt wäre; für Oliver dagegen gewann das Unsichtbare inmitten dieser offensichtlichen Verwahrlosung eine um so größere und eindringlichere Realität. Der dürftige Wald, der träge Fluß, die unbedeutenden Berge sprachen in ihrer rührenden Unzulänglichkeit beredt genug; es war, als hätte der Geist, der hier einmal geweilt hatte, es verschmäht, überhaupt sichtbare Gestalt anzunehmen und sich statt dessen in die Unendlichkeit verflüchtigt. Concord gefiel Oliver in seiner äußeren Demut und seinem inneren Stolz, dem er sich verwandt fühlte.

Als der verwundete Held zu seiner Alma Mater zurückkehrte, wurde er nicht gerade überschwenglich begrüßt. Es schien fast, als herrsche eine gewisse Frostigkeit in dem Lambda-Pi-Verbindungshaus, wo er wohnte; seine Freunde waren ein wenig beleidigt, daß er nach Besiegung des Feindes so völlig in dessen Lager übergegangen war und gar keiner Aufmerksamkeiten ihrerseits bedurft hatte. Auch das College im ganzen schien einen Groll auf ihn zu hegen, weil er einen allzu persönlichen Sieg errungen hatte, gleichsam hors de concours, und weil er sich hatte verwunden lassen, wodurch es für die entscheidenden Kämpfe mit seinen eigentlichen Rivalen seines besten Spielers beraubt war. Oliver empfand wohl die dünnere Luft, das moralische Vakuum, das ihn plötzlich umgab, aber er war deswegen nicht gekränkt. Er vertiefte sich ganz in seine Bücher und begann den sogenannten ›Coffee Club‹, in dem ein paar witzige Köpfe und freie Geister des Colleges nach dem Dinner zusammentrafen, häufiger aufzusuchen als sein Verbindungshaus oder seine Sportfreunde. In dieser Gesellschaft verkehrten ein paar junge Dozenten; sie waren recht harmlos, keine Genies; doch jeder von ihnen besaß ein Fachwissen auf irgend einem Gebiet oder irgend eine geistige Liebhaberei; und jeder von ihnen streckte seinen Kopf aus einem andern Fenster dieser akademischen Arche Noah, um nach dem Wetter draußen zu schnüffeln.

Bei ihnen führte Oliver seinen Vetter ein, als dieser um die Mitte des Winters auf ein paar Tage zu ihm zu Besuch kam. Aber Mario nahm von den jungen Professoren nicht viel Notiz; sie waren für seine Begriffe einfach Käuze. Im ›Lambda Pi‹ dagegen fand er die Gesellschaft, die ihm paßte, und dort verbrachte er seine ganze Zeit. Im Schlepptau seines Vetters wurde Oliver von neuem in die Gespräche, Feste und Streiche hineingezogen, die er eine Zeitlang als kindisch verworfen hatte.

In diesen zwei oder drei Tagen veranstalteten die ›Pi Lambs‹, wie sie genannt wurden, ein Fest und eine Theatervorstellung. Mario arrangierte das Stück und spielte die Hauptrolle des Pierrots, die er mit einem kleinen Repertoire von englischen, französischen und italienischen Chansons ausstattete. Unter allgemeiner Begeisterung wurde er zum Ehrenmitglied der Verbindung ernannt, und in seiner Dankrede versprach er zunächst, eine Tochtergesellschaft der Lambda-Pi-Verbindung in Harvard zu gründen; dann aber wußte er in dem erprobten ortsüblichen Stil, doch mit einem Anflug reizvoll fremdartigen Witzes die drolligsten Anspielungen auf die Ereignisse des Tages und die Eigenarten der einzelnen Mitglieder zu machen. »Was meinen würdigen Vetter, unseren Bruder Oliver Alden angeht«, bemerkte er schließlich, »so müßt ihr euch nicht wundern, wenn ihr ihn in diesen Tagen wie Hamlet ganz in Gedanken verloren mit offenem Munde und flatternder Krawatte herumlaufen seht. Er ist nicht etwa verliebt; er hat auch keinen Geist gesehen; aber er ist heimlich damit beschäftigt, seine Doktorarbeit zu verfassen – zum Glück in deutscher Sprache – und zwar über die geheime Bedeutung der Dichtung Longfellows. Es wird ein revolutionäres und epochemachendes Werk werden. Künftig werden die Leute ›vor Alden‹ und ›nach Alden‹ sagen, etwa wie wir ›vor‹ und ›nach Christus‹ sagen. Schon hat er das verlorene Dokument ›Q‹, aus welchem der Schlingel Longfellow seine besten Reißer schöpfte, zur Hälfte wiederhergestellt. Es ist eine mittelalterliche Sammlung milesischer Fabeln von – sagen wir höchst unerfreulichem Charakter. Die Urbilder von Evangeline und Priscilla – die bekanntlich Olivers Ahnfrau ist – waren kaum etwas besseres als weiße Sklaven.«

Oliver ließ alle diese Neckereien mit duldsamem Lächeln über sich ergehen; er sang sogar die Lieder mit, soweit es sich um solche handelte, die der College Glee Club, zu dessen führenden Mitgliedern er gehörte, auch in der Öffentlichkeit singen konnte. Manchmal an einem ruhigeren Abend oder in jenem Coffee Club bat man ihn dann wohl, seine eigenen Lieblingslieder vorzutragen, was er mit schöner Stimme und viel aufgespeicherter Begeisterung tat, zum großen Erstaunen Marios, der nie vorher Gelegenheit gehabt hatte, diese Begabung seines Vetters zu entdecken.

»Warum in aller Welt hast du mir nie gesagt, daß du so singen kannst«, rief er aus. »Das ist ja wunderbar; meine Mutter würde dich küssen und umarmen, wenn sie dir zuhören könnte. Aber warum suchst du dir gerade so romantische und fremdartige Sachen aus, die doch nichts mit dir zu tun haben? Nichts als › Do you ken John Peel‹ und › Bring the Bowl which you Boast‹ und › Gentlemen Rankers‹. Was hast du mit Soldaten, Kavalieren oder Fuchsjagden zu tun? Lauter englisches Zeugs, und dazu noch ganz altmodisch!«

»Er kann auch den › Eton Boating Song‹«, warf einer ein, »sing das doch mal, Oliver, es ist dein bestes Stück.«

»Nein«, sagte Oliver errötend, »das will ich nicht singen, wenn ein echter Etonschüler dabei ist, der es womöglich schon nicht mehr hören kann. Er soll es selbst singen, wenn er mag.«

Allgemein verlangte man nun das Lied von Mario. Er hatte eine kleine Stimme und einen varietémäßigen, halb singenden, halb sprechenden Vortrag; doch begleitete er sich sehr geschickt auf dem Klavier, ohne auf die Tasten zu schauen, und machte noch Späße ins Publikum. Oliver dagegen mußte begleitet werden und stand aufrecht und einsam da wie vor dem Angesicht des lieben Gottes.

»Ich will die ersten beiden Strophen singen«, schlug Mario vor und begab sich ans Klavier, »der Rest ist Quatsch, blöde Alt-Eton-Sentimentalität. Den Chor müßt ihr alle mitsingen.« Und als er zu den Zeilen kam:

Skirting past the rushes,
Ruffling o'er the weeds,
Where the lock-stream gushes,
Where the cygnet feeds
,

unterbrach er sich einen Augenblick, tat einen Zug an seiner Zigarette, die er auf die Kante des Klaviers gelegt hatte, und sagte halblaut: »Ja, ganz recht. Das ist der Zauber von Eton«, und dann führte er den Chor an:

We will see how the wine-glass flushes
At supper on Boveney Meads
.

So vergnügt sich aber Mario in diese Zerstreuungen stürzte, sie nahmen doch seine Tatkraft nicht gänzlich in Anspruch. In Lennox hatte er Professor Simpkins und Frau entdeckt, Freunde seines Vaters, die den Winter aus Sparsamkeitsgründen auf dem Lande verbrachten. Sie hatten zwei reizende Töchter. Miß Eugenia Simpkins war die Vollkommenheit in Person, schön, sanft und klug. Es gab nichts Hohes, was sie nicht geliebt hätte – hieß es nun Bach, Mozart, Beethoven, Giotto, Botticelli, Blake oder Turner. Und es gab nichts Niedriges, über das sie nicht geschaudert hätte. Sie spielte Geige, und da sie viel älter war als die kleine Madeline, half sie ihrem Vater die Erziehung ihrer jüngeren Schwester vollenden; und so war auch Miß Madeline ganz Vollkommenheit, nur in rundlicherem Stil. Sie sah fast so aus, als hätte sie sich gern ein wenig amüsiert, wenn sie es nur gewagt hätte. Eine Andeutung von Schelmerei blitzte zwischen ihren Augenwimpern hervor und spielte um ihre Mundwinkel. Mario fand sie süß und war überzeugt, Oliver würde Miß Eugenia bewundern.

Auf den Sonntag wurden sie beide zum Lunch eingeladen. Im Hause herrschte fast kirchliche Stille; nirgends ein Stäubchen zu entdecken, überall diskret verteilte Blumen, reizende altmodische Manieren, ein einziges Glas Sherry, ein Spaziergang durch den Garten, ein wenig Musik in dem Gemäldezimmer, wo eine Zeichnung Mantegnas hing. Professor Simpkins erzählte, er habe früher einmal versucht, in Harvard Weltgeschichte zu lehren, aber bald herausgefunden, daß Geschichte nicht lehrbar sei. Genau so verhalte es sich mit jedem andern Zweig der Wissenschaft. Die Menschen müßten sich selber lehren oder unwissend bleiben, und die Majorität bevorzuge das letztere. Mrs. Simpkins seufzte und meinte, das sei nur allzu wahr; und sämtliche Regierungen trieben geradeswegs einem verbrecherischen Kriege zu. Miß Eugenia konnte das nicht leugnen; es war sehr traurig; und doch schienen die Künste ja zuweilen inmitten von Krieg und Verbrechen besonders geblüht zu haben. Das Zeitalter Dantes zum Beispiel war höchst verworren gewesen. Miß Madeline sagte nichts, sah aber sehr süß aus und lächelte den beiden jungen Männern beim Abschied äußerst freundlich zu.

»Ist das nicht eine entzückende Familie? Kultiviert bis in die Knochen!« sagte Mario, als er von der Auffahrt des Simpkinsschen Hauses in die öffentliche Fahrstraße einbog und seinen kleinen Motor zu voller Geschwindigkeit antrieb.

»Mit der Kultur wäre ich schon einverstanden«, bemerkte Oliver, »wenn sie nur nicht so schrecklich verkapselt wäre. Sie sind alle, als wären sie steif gefroren und in einer Thermosflasche konserviert; wenn man den Kork aufmachte, würden sie zerschmelzen.«

»Madeline ist nicht steif gefroren. Sie könnte wohl schmelzen, aber nicht zerschmelzen.«

»Die andere ist eigentlich hübscher. Man merkt wohl, daß sie ein netter Mensch ist, und sie sagt gescheite Sachen. Madeline sieht aus, als wollte sie geküßt werden.«

»Sie möchte auch geküßt werden, und es ist eine Schande, daß man nicht dazu kommt. Wenn ich nur fünf Minuten mit ihr hätte ...«

»Aber solch ein Mädchen würdest du doch nicht heiraten wollen.«

»Wer spricht vom Heiraten? Ich kann sie doch nicht alle heiraten. Aber ich habe sie alle wirklich gern – oder doch die meisten. – Übrigens, Oliver, bist du eigentlich mit der Flasche aufgezogen worden oder hattest du eine Amme?«

Oliver mußte lachen über die Idee, er könnte eine Amme gehabt haben. Man stelle sich Miß Tirkettle in dieser Eigenschaft vor! In Amerika gab es gar keine Ammen. Natürlich war er mit der Flasche aufgezogen worden.

»Das hab' ich mir doch gedacht«, rief Mario triumphierend aus, »du weißt also gar nicht, was eine Frau überhaupt ist. Du fühlst dich nicht behaglich bei Frauen. Das kommt daher, daß du deine Mutter nie geliebt hast, und sie dich nie richtig geliebt hat. Das macht ungeheuer viel aus. Meine Mutter säugte mich an ihrer eigenen Brust. Sie hätte lieber die Bühne, die Musik und alles andere aufgegeben als darauf verzichtet und es zugelassen, daß jemand anders mich anrührte. Es ist mir fast so, als erinnerte ich mich noch daran. Aber selbst wenn das unmöglich wäre, könnte ich doch die Gewöhnung, das instinktmäßige Vertrauen, die Liebe zu weiblicher Weichheit und das Gefühl der Macht nie wieder verlieren. Schon als kleiner Junge betrachtete ich jede Frau wirklich als Frau. Ein Zimmer voller Frauen war etwas riesig Anziehendes für mich, ungefähr so wie ein Orchester. Du hättest gelacht, wenn du gesehen hättest, wie ich vor diesem Schwarm von italienischen und französischen Damen auftrat; sie kamen immer Dienstag nachmittags in der Rue de Saint Simon zusammen, um Kirchengewänder für arme Gemeinden anzufertigen; und wenn dann das Goûter gebracht wurde – grüner Pfefferminztee und Kuchen – durfte ich auch hereinkommen. Du wirst es kaum glauben, wenn du mich jetzt hörst, aber ich hatte mal eine sehr schöne Stimme, ganz hoch und biegsam, und da meine Mutter ein Mezzosopran, fast ein Alt ist, konnten wir die reizendsten Duette zusammen singen – › Quis est homo‹ und die Briefszene aus ›Figaros Hochzeit‹. Oder ich wurde auf einen großen, breiten Stuhl gestellt, der mir wie die wirkliche Bühne der Oper vorkam, und sang ganz allein drauf los. Du mußt aber nicht denken, ich hätte einen schwarzen Samtanzug mit Spitzenkragen und dazu rote Strümpfe angehabt wie ein kleiner Lord Fauntleroy. Ich hatte nackte Beine und trug nur eine dunkelblaue, rückwärts geschlossene Baumwollbluse, wie ein armer Junge, dazu einen Ledergürtel; und wenn ich sang, pflegte ich den Gürtel auf der linken Seite, wo eigentlich das Schwert hingehört hätte, herunterzuziehen, als hätte ich die Hand am Degenknauf, die andere Hand aber legte ich auf die Brust oder reckte sie bei der langen, hohen Schlußnote mit erhabener Gebärde gen Himmel. Meine Mutter lehrte mich selber singen, brachte mir bei, wie man atmen und die Worte aussprechen muß, und wie man genau den richtigen Ausdruck hineinlegt, vor allem nicht zuviel; denn gute Musik trägt den Grad von Gefühl, den sie verlangt, schon in sich, und es ist eine Sünde, dieses musikalische Gefühl mit grobem unmusikalischem Geheul und Geschrei zu übertönen. Deswegen wirken fast alle Sänger heutzutage so unmusikalisch – so roh und heftig. Sie erlauben der Musik nicht, aus ihnen herauszusingen, sondern ersetzen sie durch ihr eigenes barbarisches Gebell. Natürlich ist ein Kind nur wie eine kleine Flöte; man könnte ihm gar nicht beibringen, eine Leidenschaft in Fetzen zu reißen; und so brachte ich die schwierigsten Dinge in aller Unschuld heraus – › Caro nome‹ und sogar die ›Königin der Nacht‹ – hatte ungeheuren Erfolg und begriff gar nicht, weshalb.

Wenn ich dann fertig war, machte ich die Runde und küßte alle Damen nacheinander, zuerst und zuletzt aber meine Mutter. Die meisten Damen küßten mich wieder, manche du bout des lèvres, wie sie sich gegenseitig küßten, einige aber auch ganz kräftig; andere küßten gar nicht und drückten mir nur ein wenig die Hand. Eines Tages hörte ich einmal, wie eine von ihnen zu einer anderen in theatralischem Flüsterton sagte: › Un bel maschio‹. › Sicuro!‹ mischte ich mich stolz ein; ich war etwas beleidigt darüber, daß man es überhaupt nötig fand, so etwas noch besonders zu betonen; und die, die Italienisch verstanden, lachten tüchtig. Irgendwie begriff ich selbst damals mit neun oder zehn Jahren schon, was es bedeutete, das einzige männliche Wesen unter lauter weiblichen zu sein. Ein unbekanntes Gefühl überkam mich, und ich mußte tief Atem schöpfen. Meine Mutter verstand meine Erregung; ich glaube, das gefiel ihr gerade.

Und doch nahm es ein tragisches Ende. Vielleicht muß alles tragisch enden, was nicht mitten drin abbricht. Einmal, als ich aus England zu den Ferien nach Hause kam, sah mich meine Mutter ein paarmal sonderbar an und brach dann in Tränen aus. Warum? Weil ich im Stimmwechsel war. Sie sagte, ich würde nun nie wieder richtig singen können; die schönsten Soprane wären danach nichts mehr wert. Aber ich wußte, das war nicht der einzige Grund – nicht der Hauptgrund – weshalb sie weinte. Wenn meine Stimme sich verändert hatte und ich zum Manne geworden war, dann würde bestimmt auch bald die Verlieberei und alles, was damit zusammenhängt, angehen. Und das wäre dann nicht mehr bloß Spaß, wie vorher bei den Damen, die am Dienstagnachmittag kamen und alle alt waren. Es würde künftig bitterer Ernst sein. Tatsächlich hatte es sogar schon angefangen, und obwohl sie es nicht wußte, ahnte sie es doch. Und deswegen weinte sie.«

»Das muß schwer für Mütter sein«, sagte Oliver und versuchte, sich recht objektiv zu zeigen. »Es muß ihnen schrecklich sein zu denken, daß ihre Söhne nicht so rein bleiben, wie sie es ursprünglich waren.«

»Unsinn! Die Mütter sind eifersüchtig und mögen es nicht, wenn wir andern Frauen den Hof machen. Sie wollen nicht, daß ihr kleiner süßer Junge eine andere liebt, und sie wollen nicht, daß eine andere ihren kleinen Jungen liebt. Das ist rein instinktiv; in meinem Fall aber hatte meine Mutter keinen Grund zur Eifersucht. Andere Frauen können sie nicht entthronen – weder eine einzelne, noch alle zusammen. Sie ist wunderbar. So vernünftig, so zärtlich, so resigniert, so hingebend. Dabei kann sie auch sehr entschlossen, ganz großartig sein, wenn sie sich zu ihrer vollen Höhe aufrichtet und dann alle überglänzt. Sie ist ja noch jung, kaum vierzig; und was denkst du wohl, was sie tat, als sie fürchtete, ich könnte sie jetzt, wo ich in die Welt hinausging, vergessen, oder mich womöglich ihrer schämen? Sie nahm den Kampf auf, fing wieder an, zu üben und in der Öffentlichkeit zu singen, zuerst im Sacré Coeur, dann bei Wohltätigkeitskonzerten, schließlich in der italienischen Gesandtschaft und in Privathäusern, ganz berufsmäßig und für ein großes Honorar; und als bei einer Jahresfeier zu Ehren Rossinis eine besondere Vorstellung von › La Cenerentola‹ veranstaltet wurde, sang sie die Titelrolle und machte viel Furore. Sie behauptete, sie tue es, um die Zeit hinzubringen und etwas Taschengeld zu verdienen, und sie kaufte sich tatsächlich von da an schönere Kleider; aber ich wußte: die Kleider, das Singen, das fortwährende Üben, das war alles nur meinetwegen, damit ich immer noch stolz auf sie wäre, sie bewunderte und anbetete.

An jenem Tage also, als sie fand, daß meine Stimme sich verändert hatte, bat ich sie, um sie aufzuheitern, doch einmal mit mir zu versuchen, ob ich nicht eine Männerrolle singen könnte. Meine Stimme schien, soweit man es überhaupt beurteilen konnte, ein Bariton zu werden, und ich konnte schon mitsummen, wenn auch noch nicht singen. So setzten wir uns zusammen ans Klavier, auf denselben großen, breiten Stuhl, auf dem ich in den glücklichen Tagen meiner Kindheit gestanden hatte; und ich legte einen Arm um ihre Hüfte, während ich mit der andern Hand die Noten umblätterte. Und was, glaubst du, hatte sie für meine erste Unterrichtsstunde in männlichem Gesang ausgewählt? Was sang und spielte sie mir leise vor, bis ich die Worte gelernt hatte? › Deh, vieni alla finestra‹, die Serenade aus Don Giovanni – ein Liebeslied für ihr junges Hähnchen, aber kein echtes, ernstes Liebeslied, sondern ein maskiertes Abenteuer, ein Bravourstreich, ein Schelmenstück! Begreifst du, was das hieß? Meine wirkliche Liebe sollte immer noch meiner Mutter gelten; das übrige sollte nichts als Unsinn oder ein leichtsinniger Traum oder ein Karnevalsscherz sein. Denn, weißt du, in dieser Arie liegt tatsächlich eine Menge Leidenschaft, aber eine illusionslose, diabolische Leidenschaft.

Das war taktvoll und einsichtig von meiner Mutter, nicht wahr? Geradezu prophetisch! Nachdem ich also die Melodie und die Worte konnte und das Ganze ein paarmal sotto voce gesungen hatte, versuchten wir es im Ernst. Und als ich triumphierend bis zum Schluß gekommen war, führte sie ihre halb scherzhafte Begleitung so heiter, mit solch übertriebenem Scherzo zu Ende, daß wir beide lachen mußten und einander küßten. Dann sagte sie: ›Du wirst immer deine arme, alte Mutter mehr lieben als all die anderen Frauen, nicht wahr?‹ – ›Immer‹, versprach ich. – ›Willst du niemals jemanden zwischen uns kommen lassen?‹ – ›Niemals.‹ So ist es immer gewesen, und so wird es ewig bleiben.«

Mario schwieg, und Oliver unterbrach das Schweigen nicht. Sie tauschten ein paar gleichgültige Worte über die Straße und über das Wetter aus, fühlten aber beide, daß das Gespräch nicht wirklich beendet war, der Vorhang war gleichsam noch nicht gefallen, nur blieb die Bühne leer.

Dann fing Mario wieder an: »Nächsten Sommer mußt du nach Paris kommen und mußt dir von meiner Mutter Gesangstunden geben lassen. Das würde ihr Freude machen. Sie würde dich verstehen. Natürlich wirst du sagen, daß du auch ohne Unterricht singen kannst. Du hast eine großartige Stimme – wenn ich eine solche Stimme hätte! – und du bringst die Töne schön heraus, singst wie ein Chorknabe, nein, das ist ungerecht, du singst wie König David, wenn er aus Herzensgrund seine Meinung von sich gab. Doch das ist noch keine Kunst, das heißt noch nicht, daß du es verstehst, dich über dich selbst hinauszuheben. – Das kannst du nicht? Du bist von Natur ein philosophischer Egoist? Na, meine Mutter würde dir schon helfen. Nicht durch Überredung, sondern durch Sympathie. Was heißt es denn, über sich selbst hinausgerissen zu werden? In der Musik wenigstens bedeutet es: tief, tief in sich selbst hinabsteigen, hinunter zu allem, was man hätte sein können, was man hätte empfinden können, wenn die verfluchten äußeren Umstände es nicht verhindert hätten. Du mußt in Ekstase geraten, mußt eine Rolle spielen; es gibt keine Kunst ohne Suggestion, ohne Illusion. Aber du kannst das alles aus den Tiefen deines eigenen Ich schöpfen. Es braucht nichts Unaufrichtiges oder Fremdes dabei zu sein. Im Gegenteil, es ist die wahre Freiheit. Du mußt nur die Kruste, die künstliche Schale abstreifen, denn die Schale ist künstlich, sie preßt dich nur in die Form, die andere Leute oder die äußeren Verhältnisse dir geben möchten. Die Kunst trägt dich über all das hinaus, als ob du wahnsinnig oder ein Dichter oder verliebt wärest. Du bist inspiriert, und wenn du dann singst, gerät jeder, der dich hört, mit dir in Ekstase. Daher kommt es, daß das ganze Publikum wild wird und schreit und klatscht, als hättest du im Innern der armen Kerle auf der Galerie tausend Teufel oder Engel losgelassen. Und das hast du auch wirklich getan. Oder du würdest es vielmehr tun können, wenn du zu meiner Mutter kämest und dir von ihr beibringen ließest, wie man singt.«

Oliver lächelte. Im stillen freute es ihn, daß in einer scheinbar so flüchtigen Natur wie Mario so viel Gefühl und Tiefe steckte. Aber für sich selbst erblickte er keine neuen Möglichkeiten; im Gegenteil, er fühlte nur stärker, wie unabänderlich und ihm angemessen seine eigene Lebensführung war.

»Und warum«, sagte er, »lachst du dann darüber, daß ich diese alten englischen Lieder liebe, die nichts mit meinem Leben hier zu tun haben? Singen heißt nicht sprechen oder irgend ein Geschäft betreiben. Es ist mehr wie Beten oder, wie du selbst sagst, wie eine Entfesselung des inneren Menschen, den die äußeren Umstände unterdrückt haben. Ich lebe dann in einem andern Tempo und in einer andern Welt. Dort ist alles voll entfaltet und erfüllt, nicht wie im Alltagsleben, wo man im Dunkeln herumstolpert und an kein Ziel gelangt. Ich liebe poetische, idealisierte, künstlerisch geformte Dinge, nur weil sie sind; weil sie etwas Ganzes sind, sodaß man ihnen nachspüren und immer wieder nachspüren kann; ich kann dasselbe immer und immer wieder singen. Wenn ich sie wiederhole, habe ich wirklich etwas getan, ich habe etwas Großes erlebt. Ich bin dann nicht länger nur ein Stück des allgemeinen Kanals, durch den alles wahllos hindurchströmt. Aber ich will keine Rolle spielen oder in einer Oper singen oder Beifall ernten. Die Musik ist allzu sehr ein Teil meines Ich; und Mr. Darnley sagt auch, ich könnte nur singen, was ich wirklich fühle; so würde deine Mutter wohl nichts mit mir anfangen können.«

Das Gespräch war zu Ende. Doch am gleichen Abend führte Oliver in seinem Tagebuch diese Betrachtungen noch einen Schritt weiter. War es richtig, wenn man über sich selbst hinausgerissen wurde? War es nicht nur ein Ausweichen, eine Flucht, eine Täuschung? Hatte das nicht alle falschen Religionen hervorgebracht? Und wenn der Zauber dieses Traumes verblaßt war und man im trüben Licht des Morgens oder des Alters um sich schaute, konnte man dann nicht auf Selbstmord verfallen? Wenn die Menschen keine Einbildungskraft besäßen, könnten sie auch keine Ernüchterung empfinden. Religion, Philosophie, Poesie und Kunst waren vielleicht nur eine Krankheit, die die Natur gegenwärtig durch ihre Auslese ausrotten wollte.


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