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In der Garage mußte Oliver mehrmals läuten, bevor der Mann aufwachte, der angeblich Nachtdienst hatte, und als er endlich kam, schimpfte er noch auf ihn und fragte ihn, wer zum Teufel er eigentlich wäre, und was zum Teufel er mit Mr. Marius van de Weyers Auto zu schaffen habe; denn ›Marius‹ war die dritte und korrekteste Form, die Vannys Name dank dem Harvardkatalog angenommen hatte. Selbst nachdem die Garagentür geöffnet war und er den Wagen rückwärts fahrend sicher in das dunkle Innere gelotst hatte, war der Mann noch zu betäubt vom Schlaf oder vielleicht auch vom Alkohol, um zu begreifen, daß der Wagen künftig Oliver gehören sollte; aber darauf kam es jetzt nicht an. Das konnte man später dem Besitzer der Garage erklären. Die Hauptsache war, daß er versuchte, wieder warm zu werden, indem er die Viertelmeile den Berg hinauf bis nach Divinity Hall durch den ersten winterlichen Schneesturm hindurch im Laufschritt zurücklegte.
Der Aufsatz über die wahre Liebe lag verlassen auf dem Tisch im grellen Lichtkreis der Lampe. Sonderbar, daß er das Licht nicht ausgedreht hatte wie sonst. Das Feuer dagegen war von selbst ausgegangen; er hätte den Ofen vorm Weggehen durchrütteln und auffüllen müssen. Daß er zu dieser Stunde noch nicht im Bett lag, war eine Schande für einen Sportsmann und einen Bewohner von Divinity Hall. Als Oliver aber nun die verstreuten Blätter seines Aufsatzes zusammensuchte – Mario hatte sie durcheinandergebracht, als er seinen Hut auf den Tisch warf – machte er sich trotz der späten Stunde daran, die Buchstaben hinzuzufügen, die an dem Wort ›Philosophie‹ noch fehlten, sodaß er nun die erste Hälfte, welche ›Liebe‹ bedeutet, durch die zweite vervollkommnete, welche ›Weisheit‹ bedeutet.
Dann öffnete er wie gewöhnlich das Fenster; stickige Kälte war schlimmer als die eisigste Nachtluft; er warf seine Reisedecke über das Bett, um schneller warm zu werden, und beschloß, recht gut und lange zu schlafen. Die beste Art, einem plötzlichen Schlag zu begegnen, war: weitermachen, als ob man ihn nicht gefühlt hätte. Er schloß die Augen, nahm die Haltung ein, in der er gewöhnlich schlief, und versuchte, während er warm wurde, sich einzureden, daß er nicht aufgeregt sei.
Er würde am Morgen wie immer in seine Vorlesungen gehen, diesen Aufsatz rechtzeitig abliefern und nachher mit der Rudermannschaft laufen. Das war nun zur festen Einrichtung geworden. Sie hatten ihn diese Woche probeweise im Übungsbecken rudern lassen, und das Experiment hatte allgemeines Erstaunen erregt, einmal, weil ein Außenseiter, der vielleicht gar nicht wählbar war, dazu zugelassen wurde, und dann, weil das Ergebnis so außerordentlich gut war. Ihn verwunderte das nicht, er kannte den Grund, Remington kannte ihn auch; und solange die geringste Möglichkeit bestand, seinem Freund zum Gewinnen des Rennens zu verhelfen, konnte er sich nicht mit Anstand drücken. Und doch: diese schreckliche Aussicht auf Sklaverei, Mühseligkeit, Verantwortung und womöglich sogar auf Enttäuschung! Warum tat er es nur? Es war immer dieselbe Falle, derselbe Kreis zwingender Verhältnisse. Man mußte seinen Körper üben; und wenn man für ein Team oder eine Mannschaft gebraucht wurde, mußte man dienen; und um richtig dienen zu können, mußte man den besten Teil seiner Zeit, seiner Energie und seiner Interessen opfern und sich für den Augenblick auf das Niveau eines professionellen Rugby-Spielers oder Ruderers herablassen. Aber es sollte das letzte Mal sein. Wenn es nur wirklich seinen Zweck erfüllte und dazu beitrug, das Yale-Rennen zu gewinnen! Aber war das möglich? Würden sie ihn wirklich einstellen? Würden sie verständig genug sein, ihn zu behalten?
Für seine Tätigkeit bei der Rudermannschaft wäre die Übersiedlung nach Claverley Hall wirklich praktisch. Marios Zimmer lag genau unter dem Remingtons. Sie könnten sich durch Klopfzeichen verständigen. Schade, daß er aus Divinity Hall fort sollte, wo es sich so gut lesen und Aufsätze schreiben ließ. Doch sogar hier konnte man gestört werden. Eine fortwährende Störung bedeutete es schon, daß man das Feuer in Gang halten mußte; wie kalt wurde der ganze Raum, wenn man es vergaß; zu kalt zum Arbeiten und sogar zum Schlafen. Auch gab es hier kein Bad, kein heißes Wasser und keinen besonderen Schlafraum. In Claverley würde er in demselben Bett schlafen, wo noch heute nachmittag – aber er wies den Gedanken gleich von sich. Es war abergläubisch, materiellen Dingen eine sittliche Bedeutung zu geben; es war ähnlich, als wollte man Fetische oder Knochen von Heiligen anbeten. Ebenso unsinnig war es zu glauben, daß dies Zimmer besser sein müßte, weil Emerson es einst bewohnt hatte. Es war eigentlich ein scheußliches Loch, unerträglich abgelegen und unerträglich kalt.
Er kämpfte eine Weile mit dem Gedanken, ob er aufstehen, einen Sweater anziehen und auch noch den Mantel über das Fußende des Bettes werfen oder die Kälte weiter aushalten sollte, aber dies letztere kam ihm doch nicht wirklich stoisch vor: es war nichts als eine rein körperliche Furcht davor, einen Augenblick lang noch mehr zu frieren. Das war unvernünftig. Er stand auf. In einer Sekunde war er wieder im Bett; und nun, wo er besser gegen die Kälte geschützt war, fühlte er sich gleich behaglicher, aber auch wacher und weniger zum Schlafen geneigt. Die Bilder, die durch seinen Geist zogen, waren nicht mehr engbegrenzt und bedrängend, wie sie es in Träumen sind, sie wurden spekulativ und weiträumig.
Seine drei Jahre in Williams waren, abgesehen von dem berühmten touch-down, uninteressant gewesen, aber im ganzen doch befriedigend. Befriedigte ihn sein Leben hier in Harvard? Er war hergekommen, um in Marios Nähe zu sein und sich seiner anzunehmen; außerdem wollte er dem Sportbetrieb entrinnen und das Problem des Universums lösen. Und was hatte sich ergeben? Daß dies Problem nirgends mehr im argen lag als bei den Harvardprofessoren, und daß er im Begriff stand, besagtes Problem noch etwas mehr zu verwirren, indem er sich auf die ehrgeizigste und schwerste aller sportlichen Aufgaben eingelassen hatte: in der Universitätsmannschaft zu rudern.
Was Mario betraf, so war er bei ihren gelegentlichen Zusammenkünften denkbar herzlich und unterhaltend gewesen; aber was den Vorsatz anging auf ihn achtzugeben, so hätte man sich ebensogut vornehmen können auf einen Kometen achtzugeben; er war seine eigene exzentrische Bahn gezogen, gerade als hätte man gar nicht existiert, und war nun ganz entschwunden. Er brauchte Olivers Rat nicht und hatte keine Achtung vor seiner Philosophie. Er empfand vielleicht etwas Zuneigung für ihn, denn er war warmherzig und Oliver hatte ihm Gutes getan; aber im Innersten wagte er es, ihn zu verachten, ja zu bemitleiden. Zuerst schenkte man ihm ein prachtvolles Auto, wie man es für sich selbst viel zu fein finden würde, wenn man überhaupt ein Auto haben wollte; dann kam man nach Harvard in der Hoffnung, Marios Tempo innerhalb und außerhalb des Autos ein wenig zu mäßigen; und nun, binnen drei Monaten, bevor man überhaupt Zeit hatte, einen beruhigenden Einfluß auszuüben, war er in der Gosse gekentert, hatte sich mit Schande bedeckt fortgeschlichen und verlangte ganz beiläufig noch, daß man in einer Weise Nachtdienst für ihn tat, über die sich sogar ein bezahlter Chauffeur beklagt hätte; dann wurde man dafür noch von einem Mituntergebenen beschimpft, und plötzlich bekam man ganz gegen seinen Willen diesen luxuriösen Wagen angedreht, wo man sich doch gerade einen ernsten Studienplan zurechtgelegt hatte, in den die Autofahrerei nicht hineingehörte. Es konnte nun jemand fragen: warum verkaufst du den Wagen nicht, wenn du ihn nicht haben willst? Aber verkaufen konnte man ihn auch nicht gut.
Als Olivers Betrachtungen an diesen Punkt gelangt waren, drehte er sich im Bett herum und kam von seinem Gedankengang ab. In Wirklichkeit sträubte sich sein sparsames Gewissen vor der Verschwendung, einen neuen Wagen für den Preis eines alten zu verkaufen; andererseits aber sträubte sich sein vornehmes Gewissen, diese Tatsache in kahle Worte zu fassen; sein Bewußtsein glitt über die Schwierigkeit hinweg und begab sich auf eine neue Fährte. Der Wagen würde sicherlich zu Zeiten ganz praktisch sein; man konnte Remington damit über Sonntag in Boston und Brooklyn herumfahren und die Heimfahrt in die Ferien darin machen. Was für ein Fest wäre es für Irma, auf diese Weise schnell und bequem an alle möglichen Orte zu kommen, die sie noch nie gesehen hatte! Oliver hätte für seine Zwecke freilich einen einfacheren Wagen bevorzugt; aber wenn man einen Gegenstand schon besaß, war es schließlich doch besser, ihn in der allerbesten Qualität zu besitzen. Später, wenn er erst in Deutschland leben würde, unter lauter schlichten, ernsten, wahrheitsliebenden Menschen, die sich selbstlos für geistige Dinge einsetzten, dann sollte das Studium wirklich anfangen. Hier, bei den vielen andern Pflichten, war das unmöglich.
»Alles in allem«, murmelte er fast hörbar, denn er war nun noch heller wach als vorher, »ist das Leben nicht das, was es sich rühmt zu sein. Es ist einfach eine Falle. Man hat sich darin gefangen und kann nicht mehr heraus. Außer man ist so flink und schlau wie Mario, der den Henker betrügt und den Kopf aus der Schlinge zieht, gerade im Augenblick, wo sie sich zuzuziehen droht. Er hat keine Mittel und keine Pläne, und doch weiß er stets ganz klar, was er will, und führt es mit größter Schnelligkeit aus. Heute veränderten sich seine ganzen Lebensaussichten innerhalb von fünf Minuten, und er blieb völlig der alte, völlig Herr seiner selbst; dabei entschied er alles allein, ohne sich durch Nebensächlichkeiten hierhin oder dorthin ablenken zu lassen. Und er verfügt nicht nur frei über sich selbst, sondern auch über diese kleine Schauspielerin; überläßt es kühlen Herzens seinem Freunde Charley Street, sie morgen zu trösten, denn der muß ihr dann erklären, daß Mario fort ist nach Paris. Ebenso kommandiert er natürlich mich; und zweifellos wird er auch seine Großmutter kommandieren und nie mehr nach Amerika zurückkommen, außer vielleicht, um sie dazu zu überreden, daß sie seine Rente erhöht. Sehr fein, sehr nett: er sollte eigentlich nichts haben und hat alles; und ich könnte alles haben und habe nichts. Ich bin gefangen, und er ist frei.
Aber das wäre auch nicht die richtige Freiheit für mich, meine Freiheit muß anderer Art sein. Als ich mir das Bein gebrochen hatte und im Stillman-Krankenhaus lag und Mario und Edith mich jeden Tag besuchten, mir Blumen und Bücher brachten und mich mit allen möglichen Gesprächen und Parodien der dummen Leute, die man ›die Gesellschaft‹ nennt, unterhielten – da war ich frei; da war ich stärker als Mario und stärker als Edith. Während sie um mein Bett herum zwitscherten, lachte ich sie im stillen beide aus. Denn damals waren sie in der Falle gefangen, rannten hastig von einer Verabredung zur andern, von einer höflichen Lüge zur andern, immer in der Furcht, zu spät zu kommen, haßten die offiziellen Bekannten, die beständig um sie herumschwärmten, und sehnten sich vielleicht nach andern, von denen sie getrennt waren. Aber ich war des ganzen Treibens enthoben, weil es mir schlecht ging, ich war frei, weil ich gebunden war, Herr meiner selbst, weil ich hilflos war. Mein gewöhnliches Leben war auf einmal zum Stillstand gekommen, und mit einer plötzlichen Wendung entschlüpfte mein Geist gleichsam in den Himmel. Damals konnte ich ihre Aufmerksamkeiten annehmen, wie Mario mein Geld annimmt: fast ohne Dankesbezeugungen, als erwiese er mir eine Gunst und gäbe mir einen Lebenszweck. Und der Witz dabei ist, daß er vollkommen recht hat, und daß auch ich damals vollkommen recht hatte. Mich zu besuchen, an mich denken zu müssen, das war für die beiden das Schönste in ihrem damaligen Leben. Und ebenso werde ich jetzt, wo Mario nicht mehr da ist und ich mich nicht mehr mit ihm beschäftigen und ihm aus Schwierigkeiten heraushelfen kann, doppelt so unglücklich sein wie vorher. Unglücklich? Bin ich denn unglücklich? Ja, im Grunde auf ganz dumpfe Art bin ich es, wie vielleicht jeder Mensch. Es ist eine Selbstverständlichkeit. Ich werde aber immer allzu tätig sein, um viel daran zu denken; und wenn man sich nie für unglücklich hält – ist man dann überhaupt unglücklich?
Oliver sann darüber nach; und die Natur benützte gleichsam diese Gelegenheit, um sein Sinnen ergebnislos hinzuziehen, bis es zur Leere wurde und er endlich in Schlaf fiel.