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8

Nachdem Oliver seinen Vater in einer Ecke des Wagens verstaut hatte, atmete er auf und handelte wie auf dem Fußballplatz ohne langes Nachdenken.

»Zuerst wollen wir zu einem Arzt fahren. Kennst du einen guten?«

Mario saß ein wenig erschrocken, aber doch abenteuerlustig auf dem Vordersitz.

»Ja, ich weiß einen besonders tüchtigen. Es ist nicht so ein Viehdoktor, wie sie ihn gewöhnlich für die Jungen hier haben.« Und er gab dem Kutscher eine Adresse auf dem Schloßberg. »Zu dem gehe ich meiner Mutter wegen immer, wenn ich mich mal erkältet habe. Er schickt ihr dann einen französischen Bericht und beruhigt sie. Seine Patienten gehören meist zu den Familien in Windsor oder zur Garnison. Er ist selbst noch ziemlich jung – sehr modern und wissenschaftlich, weißt du.«

Mr. Morrison-Ely – er ließ sich nicht Doktor anreden – war in seinem Sprechzimmer und kam ohne Hut heraus, um zu sehen, worum es sich handelte. Er gab sich dienstfertig und übertrieben sicher – sehr unenglisch, fand Oliver, und obwohl er keine schlechte Erscheinung war, wirkten auch seine fleischigen Gesichtszüge und sein schwarzes, lockiges Haar etwas ausländisch. Mario fand Zeit, ihm bezüglich seines amerikanischen Onkels ein paar Winke zu geben: er sei an Narkotika gewöhnt und brauche keine Ausgaben zu scheuen.

»Was hat er genommen?«, fragte Mr. Morrison-Ely, indem er gleichzeitig versuchte, Peters Atem zu riechen. »Morphium? Oder Opium? Bringen Sie ihn zu Bett und lassen Sie ihn ausschlafen. Wo halten Sie sich gerade auf? In London? Nein, es ist besser, wenn Sie in den nächsten paar Tagen nicht weiterreisen. Ein Zimmer im ›Weißen Hirsch‹? Ausgezeichnet, könnte sich gar nicht besser treffen. Ich komme mit Ihnen hinauf und sehe zu, daß er bequem untergebracht wird. Eine Pflegerin? Das ist kaum nötig, aber wenn Sie wollen, gern. Unser junger Freund hier wird dann mehr Zeit haben, sich zu amüsieren. Wie meinen Sie? Die kleine Mildred? An die erinnern Sie sich also noch? Ja, ich weiß, daß sie gerade frei ist. Nichts leichter als das. In zehn Minuten wird sie da sein.«

Mit Hilfe des Mr. Morrison-Ely und sämtlicher Hotelportiers wurde Peter im Triumph nach oben getragen wie der Papst bei einem großen Kirchenfest, nur freilich ohne Tiara; sein Kopf hing vielmehr schwer herab und wackelte recht jämmerlich. Ein geräumiges Appartement wurde zur Verfügung gestellt, das gleiche, in das sich Peter schon vorher zurückgezogen hatte; der Nachmittag war kalt, aber das Feuer brannte noch behaglich im Kamin; für die Pflegerin, die man erwartete, war ein breiter Divan da, anschließend befand sich ein Badezimmer und ein kleines Schlafzimmer für Oliver. Nachdem Peter ausgezogen und ordnungsgemäß in die Kissen der monumentalen Lagerstätte gebettet worden war, beklopfte Mr. Morrison-Ely fachmännisch seine Brust, behorchte sein Herz und stellte den Blutdruck fest. »Nichts Ernstliches im Augenblick. Herz recht unregelmäßig, Lunge schwach, Allgemeinbefinden schlecht. Sonderbar, daß manche Leute sechzig Jahre alt werden, ohne zu lernen, wie man richtig ausatmet.« Er wollte morgen wiederkommen und ihn nochmals untersuchen.

Da die Kunst des Atmens gerade Peters Steckenpferd war, kam Oliver der Verdacht, daß dieser medizinische Alleswisser wahrscheinlich recht flüchtig und oberflächlich sei; doch schien der Mann immerhin nichts Gefährliches anzuordnen, und als man ihm sagte, daß Peter sich in solchen Fällen stets mit Mineralwasser und abgekochten Pfeilwurzeln zu kurieren pflege, griff er das sofort auf, als stamme die Idee von ihm.

»Mein Vater ist selbst Arzt«, bemerkte Oliver. »Wenn er wieder bei vollem Bewußtsein ist, wird er schon wissen, wie er sich zu behandeln hat.«

Die kleine Mildred kam an, bereits mit den Instruktionen des Arztes ausgerüstet, und nachdem sie ihre Mütze und ihr Cape abgelegt und ihr kleines Täschchen in einer Ecke des Badezimmers untergebracht hatte, wo sie ungestört Toilette machen konnte, erhielt sie von den beiden Jungen, die abwechselnd auf sie einredeten, noch weitere Unterweisungen über die Bedürfnisse und Eigenheiten ihres Patienten. Oliver fühlte sich zunächst etwas unbehaglich, denn Mario hatte eine so sonderbar schneidige Art, dicht neben dem Mädchen zu stehen und ihr dabei gerade in die Augen zu blicken. Flirten war das nicht, denn wenn Leute flirteten oder sich den Hof machten, dann lachten und schäkerten sie und taten geheimnisvoll und verschämt, wie Oliver beobachtet hatte; während Mario dieser jungen Person gegenüber, die ein nettes, wohlerzogenes kleines Ding zu sein schien, die Würde selbst war. Und doch, wäre nicht dieser seltsame Ernst gewesen, der vielleicht aus Rücksicht auf die Krankheit seines Vaters beibehalten wurde, dann hätte Oliver vermutet, daß Mario da etwas im Schilde führte. Einerlei! Sich Derartiges auszumalen und sich über andere Leute und ihre Angelegenheiten Gedanken zu machen, das blieb ein für allemal eine dumme, entwürdigende Zeitverschwendung. Wichtiger war es, zu überlegen, was nun weiter geschehen sollte.

Sie hatten kein Gepäck bei sich. War überhaupt genug Geld da? Oliver hatte stets nur wenig in der Tasche; er kam sich nicht gern reich vor. Wieviel hatte sein Vater mit hierher genommen? Wiederum wurde ihm das Bild Jim Darnleys, der seines Vaters Taschen ausleerte und ihren Inhalt aufräumte, zur Zwangsvorstellung; wie hypnotisiert ergriff Oliver seines Vaters Überzieher, der gerade vor ihm lag, und zog Handschuhe, Schal, Taschentuch und Reisehandbuch aus den geräumigen Taschen.

»Das mache ich schon, Sir, Sie brauchen sich nicht zu bemühen«, sagte hinzutretend die kleine Mildred; ihre freundlich gelassene Miene gefiel Oliver und beruhigte ihn; es war, als hätte er beim Überschreiten eines Steges ein Geländer gefunden, an dem er sich festhalten konnte.

»Danke schön, wenn Sie das für mich tun wollen! Ich suche nur nach der Brieftasche meines Vaters, denn ich fürchte, wir haben nicht genug Geld mit.«

»Die wird wohl hier sein«, erwiderte sie und hielt ihm das Innenfutter von Peters Rock hin. Und wirklich kamen aus den inneren Taschen ein Paß, ein Scheckbuch, eine dicke Brieftasche und ein paar längliche Geschäftskuverts mit amerikanischen Marken zum Vorschein.

»Richtig«, sagte Oliver und untersuchte die Abgründe der Geldtasche. Es fanden sich darin die unverkennbaren, neuen, sauberen und schwarz bedruckten harten Papierblätter. »Da scheinen ja eine ganze Menge Banknoten zu sein.«

»Lauter Zehner«, rief Mario mit jenem Frohlocken und jener schnellen Auffassung, die dem tugendhaften Oliver versagt waren. Und doch ließ der tugendhafte Oliver den ganzen Fund bedachtsam in seine eigene Tasche gleiten.

Nachdem man auch noch die Schlüssel des alten Herrn aus seiner Hose gefischt hatte, fühlte sich sein junger Erbe als Befehlshaber aller verfügbaren Streitkräfte. Indem er anscheinend zu den beiden andern sprach, innerlich sich aber an das ganze Universum wandte, sagte er: »Nun muß ich nach London zurückfahren und unsere Sachen holen.« Man könnte sie telegraphisch hierher bestellen, schlug Mario vor; sicher gab es in ihrem Logis in der Jermyn Street einen Diener, der sie packen und herbringen konnte.

Nein, Oliver konnte fremden Dienstboten nicht trauen!

Gut, dann gab es ja auch Läden in Eton. Wollte er sich nicht einfach hier alles besorgen, um sich so die ermüdende Reise nach London zu sparen? Aber diese Idee kam Oliver ganz außerordentlich wild und hirnverbrannt vor. Wie? Er sollte seine sämtlichen Habseligkeiten verdoppeln und sich mit einer ganzen Ausrüstung nutzloser Dinge beladen? Indessen sprach er das nicht aus. Eine innere Stimme warnte ihn davor; es hätte kleinlich und geizig klingen können. Wie konnten diese aristokratischen jungen Habenichtse nur solche Verschwender sein! Sie schwelgten geradezu im Überfluß. Was für Lustschlösser würden sie wohl errichten, wenn sie das Geld dazu hätten! Nein, Geld war keineswegs ein magisches Zaubermittel, mit dem man nach Belieben umging, um die Welt nach seiner eigenen Pfeife tanzen zu lassen. Geld war ein anvertrautes Gut, eine Verantwortung. Man durfte nicht meinen, daß man es besäße, um sich damit Sorgen und Mühen zu ersparen. Im Gegenteil: Das Geld ließ einen hasten, arbeiten, planen und kämpfen, bis man zu Boden sank. Aber gerade das konnte solch armer, kleiner, goldner Schmetterling wie Mario nicht verstehen.

Indem Oliver alle diese Überlegungen zugleich herunterschluckte – denn er war ebenso geschwind im Denken wie bedächtig im Handeln und Sprechen – sagte er: »Mein Vater würde morgen früh seine Hausschuhe und seine Rasiersachen vermissen. Ich glaube, ich fahre doch besser nach London, bezahle die Rechnung und sorge selber für alles. Es gibt ja hier weiter nichts für mich zu tun. Die Pflegerin wird aufpassen und, wenn nötig, den Arzt rufen.«

Das entschlossene Auftreten und die optimistische Miene, die Oliver dazu aufsetzte, waren so offenbar erzwungen, es lag so viel Schmerz und Verstörtheit in seinen Augen, als er jetzt seinen Hut nahm und müde, fast mit einem kleinen Stöhnen, sagte: »Auf alle Fälle werde ich am Abend wieder hier sein; hoffentlich geht noch ein Zug zurück«, daß Mario auf ihn zusprang, ihn beim Arm nahm und rief: »Ich würde dich furchtbar gern begleiten.«

»Warum nicht? Komm nur mit!«

»Ich hab aber kein Geld.«

»Das spielt keine Rolle.«

»Ich habe aber nur für Windsor Urlaub und nicht für London. Ich muß zum zweiten Aufruf zurück sein.«

»Wie schade! Kannst du nicht Nachurlaub bekommen?«

»Dazu ist keine Zeit mehr. Ich ginge einfach so weg, wenn nicht der Stationsvorsteher wäre. Der wird mich in diesem Aufzug nicht durchlassen.«

Im gleichen Augenblick fiel ihm Peters Hut ins Auge, der mit dem Mantel und den Handschuhen zusammen auf dem Sofa lag. Es war ein weicher Filzhut nach der neuesten Mode, hellgrau mit einem schwarzen Band. Peter Alden hielt in seiner Kleidung auf einen ziemlich malerischen Stil, der ein klein wenig zu jugendlich und ein klein wenig zu künstlerisch war. Das war ein Überbleibsel aus seiner Junggesellenzeit. Wenn er in solcher Aufmachung vor den Spiegel trat, kam es ihm vor, als drehe er seinem eigenen Alter und seiner eigenen Wohlanständigkeit eine lange Nase. Er pflegte nachdenklich über diese leicht komische Parodie ältlicher Modischkeit und Eleganz zu lächeln; diesen Dingen hatte er in seiner Jugend, wo er einsame und ferne Erdenwinkel gewählt hatte, Verachtung entgegengebracht; jetzt schienen sie ihm plötzlich wohltuend und angemessen; und da die besagte Eleganz und Modischkeit leise verblichen und ganz sein geistiges Eigentum war, bedeutete sie für ihn kein Opfer an Bequemlichkeit und Freiheit.

Beim Anblick des offenbar neuen Hutes, des hellbraunen Mantels und der weißen Handschuhe also kam Vanny ein Gedanke. Er ergriff den Hut und probierte ihn auf. Der paßte genau. Dann zog er den Mantel an. Dieser war sicherlich unten viel zu weit für ihn, aber da Peter ziemlich schmale Schultern hatte, Vanny jedoch sehr breite für sein Alter, so saß das Kleidungsstück am Hals gut und hatte die richtige Ärmellänge. Wenn er den Gürtel tüchtig zusammenzog, paßte der Mantel auch in der Taille, obgleich er unten wie ein Ballettröckchen abstand. Nur seine weiße Kravatte war natürlich unmöglich. Würde ihm Oliver erlauben, sich die schwarze, rotgetupfte seines Vaters zu leihen? Und auch der graue Rock und die graue Weste des alten Herrn würden besser sein als sein ›Schwalbenschwanz‹, den man in anständiger Gesellschaft doch nur mit Zylinder tragen konnte. Daß die Sachen zu weit waren, schadete nichts. Es hatte wieder zu regnen angefangen, und der Mantel verbarg alle Falten.

Und Vanny schob den Hut, dem er geschickt eine etwas phantastische Form gegeben hatte, über das eine Auge und tanzte in unterdrückter Ausgelassenheit schweigend vor dem Spiegel hin und her. »Bin ich nicht ein fescher Kerl?«, flüsterte er. »Bin ich nicht ein rechter Clown? Ganz wie ein junger Herr vom Theater, der auf einen Abstecher nach Schloß Windsor gekommen ist.« Dabei faßte er den mit goldenem Knopf gezierten Stock seines Onkels in der Mitte, wirbelte ihn um die Finger und gab seinem Schlapphut noch einen kleinen Extraschubs. »Jetzt hab ich's. Du spielst den Nordamerikaner und ich den Südamerikaner. Beide vereint stellen wir also die ganze Neue Welt dar.«

Er walzte mit seinem Vetter dreimal um das kleine Zimmer herum, sauste mit ihm treppab durch eine Seitentür ins Freie und dann geschwind die steile Straße zum Bahnhof hinunter. Es schadete nichts, wenn man ihn erkannte: Hauptsache, daß er nicht aufgehalten wurde. Ihre Hast ließ sich leicht erklären, denn gerade sollte ein Zug abgehen. Die Rückfahrkarten in Olivers Hand gaben den beiden Reisenden noch eine besonders echte Note, und der Stationsvorstand war viel zu sehr damit beschäftigt, ihnen Eile anzuempfehlen, als daß er Verdacht geschöpft hätte. Vorwurfsvoll, aber gutmütig schob er sie in einen leeren Wagen, und Mario steckte ihm sein letztes Geld zu, weil er tatsächlich den Zug ein paar Sekunden für sie aufgehalten hatte. Oliver griff in die Tasche, in der er sein Münzgeld aufbewahrte; und da er im Zweifel war, ob er seinem Vetter das Trinkgeld zurückgeben oder diese Kleinigkeit als zu unwichtig übergehen sollte, durchschnitt er den Knoten, indem er sagte: »Macht es dir was aus, wenn du mein Kleingeld an dich nimmst und für alles bezahlst? Ich verwechsele diese Schillinge, Pennies, Zweischillingstücke andauernd.«

Vanny war nur allzu entzückt von diesem Vorschlag; einmal gefiel er sich darin, Geld auszugeben, wenn es auch nur in Stellvertretung geschah, und dann war er ja gerade mitgekommen, um Oliver zu helfen und ihm in seinem Kummer alles möglichst zu erleichtern. Glühend und etwas außer Atem von der Hast dieser Eskapade ließ er sich neben seinen Vetter in eine Ecke des leeren Wagens fallen, vergaß das ungewöhnliche Gewicht des Silbers in seiner Tasche und fragte sich nur verwundert, weshalb es in dieser Welt wertlosen und unwichtigen Leuten wie ihm selbst gut ging, während die charaktervollen und bedeutenden wie Oliver unglücklich waren.


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