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Manches Mal in späteren Jahren wechselte die vollklingende Orgel von Harriets Phantasie, die beständig leise spielend ihr Leben begleitete, ihre Register und ging von der etwas schrillen Tonart der Verteidigung und Selbstrechtfertigung zu dem basso profondo eines gesicherten Glücksgefühls über. Dann hörte Harriet auf, sich in ihrem Schaukelstuhl hin und her zu wiegen, ließ die Zeitschrift, die sie in der Hand hielt, in den Schoß sinken, zog die Falten ihres hübschen Morgenrocks um ihre umfangreiche Person zusammen und schloß die Augen, um die Stunde, die sich von allen Stunden ihres nicht sehr ereignisreichen Daseins am lebhaftesten und befriedigendsten ihrem Gedächtnis eingeprägt hatte, in ihrer ganzen Vollkommenheit noch einmal zu durchleben. Wie oft hatte sie sich diese Szene schon wiederholt, wie lückenlos wußte sie sie auswendig, wie freundlich war die Vergeßlichkeit mit ihr im Bunde, um ein glorreiches Bild ihres hervorragend gesunden Menschenverstandes, ihrer aufrichtigen Güte, ihrer hohen Grundsätze daraus zu machen!
Wiederum sah sie sich müßig an dem großen Westfenster des vorderen Wohnzimmers sitzen, dort, wo Letitia und sie stets den Sonnenuntergang zu bewundern pflegten. An jenem Nachmittag war er düster und geisterhaft, und der Oktoberwind trieb die roten und braunen Blätter unbarmherzig über das rauhe Gras des Rasens, der damals noch nicht so gut gepflegt war wie heute. Letitia würde nun bald da sein; sie sagte stets, es sei für sie so erfrischend, den Berg hinaufzuwandern, nachdem sie zwei Stunden in der Bibliothek gearbeitet habe; und die Zeit des Sonnenuntergangs sei eine heilige Stunde.
»Da kam sie«, sprach Mrs. Alden zu sich selbst, und ihre Lippen bewegten sich lautlos, »ich kannte ihren Schritt – und wer konnte auch sonst hereinkommen, ohne zu läuten! ›Liebe‹, sagte sie atemlos und sank in einen Stuhl, ›was für ein himmlischer Tag, fast schon winterlich. Und sieh nur, welch herrliches Buch über die englischen Kathedralen ich da habe, der Direktor hat mir ausnahmsweise erlaubt, es mitzunehmen. Schau die köstlichen Stiche an!‹
›Lege es weg‹, sagte ich ernst, ›und höre mir zu: Wir müssen etwas Wichtiges besprechen. Dr. Alden hat mir einen Antrag gemacht, und wir haben uns verlobt.‹
›Harriet Bumstead‹, schrie sie, ›das ist doch nicht dein Ernst?‹
›Doch, Letitia Lamb, es ist mein Ernst. Es ist für uns beide das beste.‹
›Ach‹, murmelte sie, ›aber ein Mann! Und wie alt ist er?‹
›Überhaupt nicht alt für einen Mann‹, erwiderte ich mit Nachdruck, ›wir dürfen auch nicht vergessen, daß wir selbst keine Backfische mehr sind. Natürlich, liebe Letty, wenn ein Mann dir einen Heiratsantrag machte, würde ich nicht erwarten, daß du ihn annähmest. Aber du bist ja auch ein Ausnahmewesen, das kein Butterbrot ohne Gabel essen kann. Und ein Gatte – ja, meine Liebe, ich kann mir deine Gefühle vorstellen! Männer sind notwendigerweise gröbere Geschöpfe als Frauen, und für dich wäre die dauernde Nähe selbst des rücksichtsvollsten Mannes unerträglich. Du hast ein so reiches Innenleben, kennst so viele Sprachen, weißt so viel von Kunst und empfindest Shelley und Botticelli so tief. Außerdem bist du unabhängig. Du mußt bedenken, daß ich nicht wie du in einem Vogelhaus von jungen Damen aufgewachsen bin, und nicht so leicht und frei wie ein Kanarienvogel umherflattern kann. Man gewinnt seine Lasten lieb, und mein Heim ist immer mein ein und alles gewesen. Seit Jahren mußte ich für meinen Vater den Haushalt führen, für meine jüngeren Brüder sorgen und von früh bis spät Männergespräche mitanhören, noch dazu Medizinergespräche, die nur von allen möglichen unheimlichen Krankheiten handeln. Ärzte beschäftigen sich immerfort mit den schrecklichen Organen, die wir in uns haben, und müssen sogar die unsaubersten Leute ohne Ekel anfassen können. Das macht hart, ist aber eine gute Vorbereitung für das Leben. Und alles in allem ist das Dasein einer verheirateten Frau doch inhaltsreicher, es bringt uns die anderen Menschen so viel näher und gibt uns so viele neue Gelegenheiten, Gutes zu tun.‹
›Ach‹, sagte Letitia nachdenklich und schon etwas mit meinem Vorhaben ausgesöhnt, › Reichtum macht natürlich alles leichter, selbst die Ehe, glaube ich.‹
›Ja, meine Liebe; und Reichtum ist eine Macht!‹
›Und eine große Verantwortung!‹
›Natürlich, darüber bin ich mir ganz klar. Und in dieser Hinsicht ist mir von vornherein eine heilige Pflicht auferlegt – was sollte aus diesem wundervollen Hause, einem der schönsten Gebäude der Welt, werden, wenn ich es nicht erhalten würde? Es verfällt jetzt sehr rasch. Der Anstrich und sogar schon das Holz lösen sich an der Wetterseite von unseren herrlichen Säulen ab. Die Teppiche sind verschossen und fadenscheinig, die Möbel schäbig. Meine Brüder können hier nicht leben, in Great Falls gibt es nichts für sie zu tun. Mein Vater hat die Altersgrenze erreicht und muß den Abschied nehmen; er kann nur als beratender Arzt mit halbem Gehalt an der Anstalt bleiben. Wir müßten den Rest unseres Grundbesitzes verkaufen; die Bäume würden niedergehauen, die Aussicht verbaut werden, und bald müßte auch das Haus selbst abgerissen werden, denn du weißt, es ist mit Hypotheken überlastet. Was sollte dann mit uns geschehen? Der arme Vater würde das nicht überleben können, und ich müßte Lehrerin werden und in einer Pension wohnen.‹
›O Harriet, du verletzt mich. Im schlimmsten Fall könntest du doch immer bei uns wohnen. Miß Doe's Haus ist keine Pension. Sie nimmt keine Herren und überhaupt keine fremden Leute auf; sie hat nur ein paar alte Freundinnen bei sich in ihrem stillen Heim.‹
›Du weißt recht gut, daß du sie noch nie mit Augen gesehen hattest, bevor du bei ihr gemietet hast.‹
›Aber Miß Doe ist eine Schulfreundin von Miß Swan, und Miß Swan ist eng befreundet mit Susie Bird, und daher wußten Miß Doe und ich alles voneinander. Du würdest das Leben dort reizend finden, und wir wären entzückt, wenn du kämest. Aber jetzt wird daraus wohl nichts mehr werden.‹
›Nein, jetzt nicht mehr; denke aber nicht, daß ich dir etwas vormache. Wir haben ja sogar ein Angebot auf das Haus bekommen, nämlich neuntausend Dollar für dieses wertvolle, historische Baudenkmal! Und das ist noch nicht die schlimmste Beleidigung. Mr. Bangs von Bangs' Hotel möchte es als Wochenend-Gasthaus für Geschäftsreisende einrichten, wo Alkohol ausgeschenkt wird. Vater sagt, dann werden junge Pärchen im Wagen, aber ohne Gepäck in Scharen herbeiströmen, um sich für eine Sommernacht ein Zimmer zu nehmen! Eine Tragödie, eine Entweihung wäre das!‹
Die arme Letty empfand den ganzen Schrecken dieser Möglichkeit. Sie kann es nicht vertragen, wenn man die nackte Wahrheit ausspricht. Sie fiel mir schluchzend um den Hals, und wir weinten nach Herzenslust miteinander.
Da ich mich zuerst erholte, sagte ich: ›Letitia, wir wollen nicht schwach sein. Es wird ja jetzt auch nicht geschehen! Dr. Alden hat sogar vor, das letzte Grundstück, das wir verkauft haben, zurückzukaufen und will aus dem neuen Backsteinhaus, das darauf schon gebaut ist, eine Gärtnerwohnung und einen Stall machen. Das ganze Besitztum soll eingezäunt und im ursprünglichen Stile wiederhergestellt werden, im Revolutionsstil also, denn die großen weißen Säulen sind genau wie die von Washingtons Grab in Mount Vernon. Dr. Alden aber nennt das ›Ompir‹, denn er gefällt sich zuweilen darin, sich französisch zu geben; und das Sommerhäuschen soll aus echtem Marmor wieder aufgebaut werden, genau nach dem Vorbild, nach dem es kopiert ist, wie er sagt.‹
›Rom, Villa Borghese, Tempel der Diana‹, murmelte Letitia wie verzaubert, ›ja, ich kenne es gut. Wie schön wird es auf dem höchsten Punkt von High Bluff zwischen den Pinien hervorleuchten; wenn es auch keine italienischen Schirmpinien sind! Klassisch wird es aussehen, wird an Waldgötter und Bacchanten erinnern. Ein Jammer, daß du es dann kaum recht genießen kannst, da du ja in Boston leben mußt.‹
›Ich in Boston, was denkst du? Wenn ich in Boston leben wollte, hätte ich doch eine Unmenge anderer Männer heiraten können! Das ist ja gerade das Schicksalhafte an der ganzen Sache, daß Dr. Alden unbedingt hier leben möchte; er kann sich nicht von diesem Hause trennen, wo sich unter Vaters Pflege seine Gesundheit so wundervoll gebessert hat, und wo alles genau nach seinem Geschmack ist. Großer Gott, Boston! Was in aller Welt sollte ich in Boston anfangen?‹
›O‹, flüsterte Letitia träumerisch und starrte entrückt in den Sonnenuntergang, ›vielleicht hatte ich dich mißverstanden. Dr. Alden besitzt so sehr viel Feingefühl. Vielleicht will er nichts weiter als zu eurer Familie gehören, damit er als Hausfreund hier wohnen kann. Er meint womöglich, daß ihr wie Bruder und Schwester leben sollt. Hat er ausdrücklich gesagt, daß er dich liebt? Hat er dich geküßt?‹
›Letitia‹, antwortete ich in vernichtendem Ton, ›sei keine solche Närrin. Was weißt du von solchen Sachen?‹ Ich bemitleidete sie wirklich von Herzensgrund. Fast wäre ich selber eine alte Jungfer geworden, deshalb konnte ich ganz unparteiisch vergleichen. Ich konnte im voraus empfinden, wieviel eine Frau durch ihre Heirat an Geduld, Sanftmut, Würde und vor allem an Kenntnis der menschlichen Natur gewinnt, sodaß sie nicht fortwährend Unsinn zu reden braucht.
›Die Ehe‹, fuhr ich fort, ›die Ehe im wirklichen Leben, besonders unter alten Freunden, die nicht mehr ganz jung sind, ist nicht wie die Liebe in einem banalen Roman. Hast du erwartet, daß Dr. Alden und ich uns wie die Turteltäubchen benehmen würden? Wenn er mich nun nicht geküßt, mir aber etwa diesen Ring hier geschenkt hätte?‹ Und dabei zeigte ich ihr den herrlichen Diamanten, den ich die ganze Zeit über absichtlich in der Innenfläche der Hand versteckt gehalten hatte, damit sie ihn nicht vorzeitig sähe.
›O, o‹, rief sie, sprachlos vor Bewunderung.
›Nein, liebe Letty, ihren Schwestern schenken Männer niemals solche Brillantringe. Und sie wenden auch nicht Zehntausende oder Hunderttausende von Dollar auf, um ein altes Besitztum wieder instand zu setzen, wenn sie nur eine gute Haushälterin haben wollen – denn weiter wäre ich doch nichts, wenn er mich nicht wirklich zu seiner Gattin machte. Er hofft, daß wir Kinder bekommen – hat sogar schon überlegt, welcher Raum sich am besten zum Kinderzimmer eignet – und natürlich hoffe ich das auch. Denke nur, was das für uns beide bedeutet!‹
Ich sah, wie die Augen der armen Letitia voller Tränen standen, und ergriff ihre Hand. ›Nein, Liebste, glaube nicht, daß du mir je weniger sein wirst – einerlei, was kommen mag! Im Gegenteil! Wenn du dich einmal traurig oder einsam fühlen solltest – auch ich werde mich wahrscheinlich eines Tages einsam in diesem großen Hause fühlen – dann kann ich dich bitten, zu uns zu kommen und mit uns zusammenzuleben; oder falls das nicht das Richtige wäre, hättest du wenigstens mehr Trost und Hilfe an mir als bisher. Du weißt, du hast in meinem Herzen immer eine Heimat!‹
Und das arme, gute Ding küßte mich, trocknete die Tränen, preßte das kostbare Bibliotheksbuch an sich – denn Schoßhunde sind in Miß Doe's Pension nicht gestattet – und schlich durch die Dämmerung heimwärts. Es sei so entzückend leicht, sagte sie immer, den Hügel hinunterzulaufen; und sie lasse so gern die ersten verirrten Schneeflocken des Winters auf ihren heißen Wangen zerschmelzen. Ich habe Letitia wirklich lieb; sie ist ein höheres Wesen, aber sie ist so unverbesserlich weich!«
Damit pflegte diese Triumphszene vor Mrs. Aldens innerem Blick zu entschwinden. Wieder einmal hatte sie ihr Leben unter ihrer Lieblingsperspektive betrachtet.
Wenn sie darauf die Jahre überschaute, die seit ihrer Heirat verstrichen waren, konnte sie nicht anders als sich zu ihrer Weisheit beglückwünschen. Ihr Einfluß auf das Wohl der Allgemeinheit war wirklich gewachsen. Nachdem die Browning-Gesellschaft durch den Baptistenprediger und diese neu dazugekommenen, recht gewöhnlichen Frauen so groß und widerspenstig geworden war, hatte sie es durchgesetzt, eine ganz auserwählte Shakespearegesellschaft zu gründen, die sich in ihrem eigenen Hause traf und nur wirklich vornehme Vortragsredner zuließ; Dr. Alden hielt Browning ja überhaupt für keinen großen Dichter. Und erschienen nicht sogar Besucher von auswärts, um das Haus und das ganze Besitztum zu bewundern, was früher niemals vorgekommen war? Und schauten nicht die Porträts von vier Generationen der Bumsteads – Geistliche, Rechtsanwälte, Kaufleute und Ärzte – von den Wänden des Speisezimmers dreimal täglich auf den kleinen Oliver herab? Welch ein Vorteil für das Kind! Eine so auserwählte Umgebung mußte ja auf ihn einwirken, wenn ihm das auch noch nicht zum Bewußtsein kam. Und sie selbst durfte ohne Prahlerei sagen, daß ihr eigener Charakter sich inzwischen sehr entwickelt hatte, und daß sie nun einen doppelt starken moralischen Einfluß auf den Jungen ausüben konnte, zum Ausgleich dafür, daß sein Vater körperlich und seelisch nicht kraftvoll genug war.
Zwar konnte ihn niemand weichlich nennen, er war ja ein leidenschaftlicher Segler und, wie es hieß, ein ausgezeichneter Kapitän, ein Arzt, der alles mit dem kühlen Auge der Wissenschaft betrachtete; aber dabei doch so verschlossen, so schweigsam, so rätselhaft sarkastisch. Es schien fast etwas Verderbtes in ihm zu stecken, wie wenn ihn nichts mehr erschüttern könne; sein Lächeln glich einem ärztlichen Instrument, das er halb im Verborgenen zückte; es sollte nicht weh tun und erregte doch Schauder. Er achtete nichts und war nur deshalb nicht roh, weil er nicht roh sein konnte.
Wenn er am Abend die Schleife seiner Krawatte band – er zog sich nämlich stets zum Dinner um, selbst wenn sie allein waren, was etwas Unheimliches an sich hatte, so, als richte man sich für sein eigenes Begräbnis her – wenn er also dieses zierliche Schleifchen knüpfte, lächelte er sich selbst im Spiegel zu und dachte ohne Zweifel an all die schmutzigen Wilden, die er nackt hatte herumlaufen sehen, und an all die unglaublichen Bräuche bei den heidnischen Chinesen – Mrs. Alden war im Grunde fest davon überzeugt, daß er diese Greuel schön fände und am liebsten der christlichen Gesellschaft ins Gesicht schlüge, wenn ihm das nicht zu viel Mühe machte.
»Er sehnt sich danach, von uns loszukommen, los von allem und auch von mir! Nur ist er zu sehr Gentleman, um sich das merken zu lassen, wenn er hier ist. Er zeigt es allein dadurch, daß er so bald wie möglich wieder abreist. Ein Segen, daß wir in der ersten Zeit wenigstens über das Haus reden konnten. In jenem ersten Winter in Kalifornien war es das Haus, was uns miteinander verband; wir sahen uns in allen Antiquitätenläden nach wertvollen Ompirsachen um und brachten eine Menge schöner Dinge zusammen. Das kam mir damals ganz verschwenderisch vor; ich war so daran gewöhnt, mit wenig auskommen zu müssen. Heute begreife ich, daß diese Sachen eine ganz gute Kapitalsanlage waren, und daß wir sie jetzt für den doppelten Preis verkaufen könnten.«
Geld war ein solcher Trost. Was wäre ohne Geld aus dem Hause, aus ihr und aus dem kleinen Oliver geworden? Hätte das Kind die Kraft, unbeschützt seinen Weg durch die harte Welt zu gehen? Und Dr. Alden vollends würde ohne sein Geld längst im Straßengraben liegen!
Diese betrübliche Tatsache schien manchmal sogar einen Schatten auf den kleinen Jungen zu werfen und ihn traurig zu machen. Und doch war das kaum möglich. Was man auch sonst von Dr. Alden sagen mochte – sogar vor sich selbst nannte Mrs. Alden ihren Gatten stets »Dr. Alden« – wenigstens mischte er sich nie in die Erziehung des Kindes ein.
Ohnehin war der Doktor selten daheim, und Oliver kannte ihn nur als eine Art Nikolaus in Zivil oder als einen freundlichen Seeräuber aus einem Geschichtenbuch, der ihm wunderbare Geschenke mitbrachte, ihn ins Ohr zwickte, ihn »Sir« nannte und ihn mit Scherzfragen neckte, auf die es keine Antwort gab. Offenbar konnte von ihm kein niederdrückender Einfluß auf den Jungen ausgehen. Was aber die Vererbung betraf, so wußte Mrs. Alden als Tochter eines bekannten Spezialisten für nervöse Leiden und Geisteskrankheiten vollkommen sicher, daß, dem neuesten Stande der Wissenschaft nach, erworbene Charakterzüge sich nicht vererben. Wenn Dr. Aldens Wesen nachteilige Eigenschaften aufwies, so hatte er sie sich alle selbst zuzuschreiben; seine Familie und seine Erbmasse waren einwandfrei. Und in der Tat glichen die Fehler des Jungen nicht im geringsten denen seines Vaters. Oliver war weder faul, noch aufreizend humorvoll, noch von schwächlicher Duldsamkeit. Glücklicherweise artete er mehr seinen entfernteren Vorfahren nach und nahm alles sehr ernst. Er zeigte gespannte Aufmerksamkeit, begriff sofort und vergaß nie, was er einmal gelernt hatte; doch konnte er einen so sonderbar anschauen, als wollte er sagen: »Ist das alles, was du mich lehren kannst?« Sie konnte nicht verstehen, was dem Kinde fehlte, sein kleines Herz schien sich beständig nach etwas zu sehnen, was ihm niemand geben konnte.
Nun, das war keinesfalls ihr Fehler. Sie hätte Oliver wirklich nicht allein hervorbringen können, obwohl das, wenn es die Natur erlaubt hätte, die allerbeste Lösung gewesen wäre. Dann hätte nichts an ihm verkehrt sein können. Aber da er nun einmal einen Vater haben mußte – hätte sie ihm einen besseren verschaffen können? Entschieden nicht; denn bevor Dr. Alden als Privatpatient in ihres Vaters Haus gekommen war, hatte es keinen einzigen Mann in Great Falls, Connecticut, gegeben, den eine wirklich feine und kultivierte Frau heiraten konnte. Die Geistlichen waren alle mit Frauen versorgt, außer dem finsteren Hilfspfarrer von St. Barnabas, der zum Zölibat entschlossen schien. Die jungen Ärzte an der Irrenanstalt waren arme Juden oder Irländer, und die gelegentlichen Vortragsredner blieben nicht lange genug, um sich überhaupt umzusehen. Selbst Letitia Lamb, die so viel ins Ausland reiste und sogar Bernard Shaw kennen gelernt hatte, war unverheiratet geblieben. Natürlich hätte es Mrs. Alden auch so machen und wohl oder übel stolz darauf sein können, Miß Harriet Bumstead zu sein; aber in ihrem Fall wäre das selbstsüchtig gewesen. Es war unbedingt nötig, daß sich die guten alten Familien fortpflanzten, zumal jetzt, wo das Land von minderwertigen Rassen überschwemmt wurde. Eine ›Tochter der amerikanischen Revolution‹ durfte nicht aus Bequemlichkeit die Forderungen der Nachwelt vernachlässigen. Die Nachwelt, das war Oliver, und mochte er auch in rätselhafter Weise unter seines Vaters Schwächlichkeit und Dekadenz leiden, so blieb er doch im wesentlichen ihr Sohn; das war das eigentlich Bestimmende für sein Leben.
Und er war ja auch ein guter Junge, groß und stark für sein Alter (genau wie sie selbst früher) und hübsch, wenn auch etwas blaß, mit seinen großen, grauen, weitgeöffneten Augen, die die Welt gar nicht zu sehen schienen. Doch mit der Zeit – denn er besaß ja auch einen guten Verstand – würde er die ungewöhnlichen Vorteile und glänzenden Möglichkeiten seiner Geburt schon als großes Glück erkennen. Sogar die väterliche Familie war nicht ohne Vorzüge. Wenn die Aldens sich in neuerer Zeit weniger hervorgetan hatten als die Bumsteads – ihres Vaters Werk als Psychiater war ja weltberühmt und so viel vernünftiger und anständiger als z. B. das von Krafft-Ebing – so waren doch die Aldens tatsächlich mit der Mayflower nach Amerika gekommen, und Oliver war unaussprechlich begnadet durch seine Abstammung von den berühmten Pilgern Priscilla und John Alden, die Longfellow in seinem klassischen Gedicht verewigt hatte.
Solche Gedanken gingen Mrs. Alden häufig durch den Sinn, wenn sie sich nach dem Lunch auf ihr Zimmer zurückzog und sich davon ausruhte, daß sie den ganzen Morgen nichts getan hatte. Für eine Dame in mittleren Jahren ist es schon aufreibend genug, bloß zu leben und einen anspruchsvollen Körper zu haben, der mit peinlicher Sorgfalt gewaschen, bekleidet und gefüttert werden muß. Mrs. Aldens glücklichste Tage waren die, an denen sie keine Verabredungen hatte und ihre ganze Muße darauf verwenden konnte, sich selbst mit vollem Bedacht zu ihren früheren Taten und ihrer jetzigen Stellung zu beglückwünschen. Mit einigem Vorbehalt durfte sie sich auch zu ihrem kleinen Sohn beglückwünschen und schließlich sogar zu ihrem Gatten. Aber warum konnte sie mit ihrem Gatten nie restlos zufrieden sein, und warum endeten ihre Betrachtungen stets damit, daß sie sich eingestand, Oliver sei in der Wahl seines Vaters nicht sehr glücklich gewesen?