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13

Redtop, das Trainingslager von Harvard in New London, lag so nahe bei Great Falls, daß Oliver Sonntags herüberfahren konnte, um seine Mutter und Irma zu besuchen. Gerade jetzt, wo er im Begriff stand, sich auf eine lange Reise zu begeben, nahm er die Gelegenheit gern wahr, noch einmal seiner ganzen Vergangenheit Loyalität und Treue zu bezeigen, denn vielleicht würde er jahrelang nicht heimkehren und am Ende sogar sein Heim nicht mehr ganz im alten Stile und mit den alten Bewohnern wiederfinden.

Übrigens wurden ihm diese sonntäglichen Höflichkeitsbesuche in einer Weise leicht gemacht, die er kaum erwartet hatte. Während der letzten vier Jahre war mit seiner Mutter eine Veränderung vor sich gegangen. Sie wurde merkbar alt, passiv und ein wenig interesselos. Die Wunde, die ihre Eitelkeit dadurch erlitten hatte, daß sie ihren Gatten nicht allein hatte beerben dürfen, schien mit den Jahren vernarbt zu sein; sie war immerhin viel reicher als vorher, konnte alle ihre häuslichen und gesellschaftlichen Pflichten auf die treue Irma abwälzen; und der Gedanke, daß ihr tüchtiger Sohn aus eigener Kraft reich und bedeutend in der Welt dastand, machte sie jetzt stolz, sie betrachtete ihn als den Stellvertreter eines Ich, das, wie sie dunkel fühlte, im Grund ihr eigenes hätte sein sollen. Wenn er erschien, war sie stets die gleiche: ruhig, freundlich und ziemlich schweigsam. Nur dann und wann sprühte ein Funken ihrer alten Herrschsucht auf und erlosch gleich wieder in Resignation. Sie fragte ihn nie über seine Unternehmungen oder seine Pläne aus. Sie fühlte, daß sie diese grundsätzlich mißbilligen würde, aber warum sollte sie sich aufregen, da sie doch hilflos war? Sie machte ihm niemals Vorwürfe, weil er so lange ausblieb oder so bald wieder fortging. Ein Tag, den er bei ihr verbrachte, schien sie ebenso zufriedenzustellen wie eine Woche, und sie empfing ihn nach einer Trennung von sieben Monaten mit derselben Freundlichkeit wie nach einer von vierzehn Tagen.

»Mutter«, sagte er am letzten Sonntag im Juni zu ihr, »ich kann heute nur ganz kurz bleiben. Aber würde es dich gar zu sehr stören, wenn ich nächste Woche Jack Remington, den Kapitän unserer Mannschaft, über Sonntag mitbrächte?«

Mrs. Alden schreckte vor dem Gedanken zurück, daß ein Fremder in ihrem Hause schlafen sollte. Natürlich hatte sie ein Zimmer frei; aber der Gedanke, daß es besetzt werden könnte, hatte ihr nie behagt. Wenn jemand darin wohnte, war es ja kein freies Zimmer mehr. Und das war noch nicht das Schlimmste an der Sache. Wenn in den ersten Jahren nach ihrer Heirat wirklich einmal ein Vortragsredner oder ein durchreisender Arzt aufgefordert worden war, bei ihnen zu übernachten, und in dieser Zeit ihr freies Zimmer seines eigentlichen Zwecks, für alle Fälle frei zu stehen, beraubt war, dann hatte sie immer ein unbehagliches Gefühl gehabt, so oft sie an der geschlossenen Tür vorbeikam. Alle Türen in diesem kunstvoll und gleichmäßig durchheizten Hause pflegten weit offen zu stehen. Eine geschlossene Zimmertür bedeutete nur, daß das gemeinsame Leben unter dem Auge der Öffentlichkeit, das sowohl im Hause wie in der Welt das einzig gesunde war, durch den Schlaf oder die Geheimnisse der Toilette unterbrochen wurde. Nicht daß diese geöffneten Türen auf irgend eine Intimität zwischen den Bewohnern der einzelnen Räume hingedeutet hätten! Im Gegenteil, sie wurden offengelassen, wie man etwa Geld auf dem Tisch oder einen Brief in seinem geöffneten Umschlag liegen läßt. Die Türschwelle war eine moralische Barriere, stärker als jeder Riegel; und man hielt niemanden für fähig, auch nur in die Versuchung zu geraten, das Privatleben des andern auszuspionieren. Deswegen erregte eine hölzerne Tür, die wahr- und wahrhaftig verschlossen war und hinter der sich ein Fremder aufhielt, mit Notwendigkeit finstere Verdächte. Laster und Verworfenheit konnten hier womöglich im Dunkel gesät und geplant werden, um später ihr Gift durch das ganze Haus zu verbreiten. Im Bewußtsein einer fortwährenden unsichtbaren Gegenwart pflegte dann Mrs. Alden unwillkürlich in alle Ecken zu spähen und ganz verstohlen durch die Halle zu eilen. Ihr gesellschaftliches Gewissen wußte: ›Ich darf diesen Mann nicht stören‹; Instinkt und Unterbewußtsein aber fragten: ›Wenn nun dieser Mann plötzlich hervorbrechen und sich auf mich stürzen würde?‹ Es war entschieden angenehmer und sicherer, daß die Tür dieses Zimmers offen und der Raum selbst leer blieb.

Da Oliver diese Einstellung seiner Mutter kannte, fügte er sofort hinzu: »Du brauchtest Jack Remington ja nicht das Fremdenzimmer zu geben. Irma sagt, ihr altes Zimmer neben dem Schulraum sei ganz in Ordnung; man brauche nur das Bett zu überziehen und frische Handtücher bereit zu legen; dort wird er dir gar nicht im Wege sein. Er wird auch nicht rauchen oder Lärm machen. Im Gegenteil, er wird sich nach dem Ruderwettkampf eher elend und ruhebedürftig fühlen. Wenn er gleich zurück nach Boston ginge, würde ihm dort der Anblick jedes Bekannten so peinlich sein, als hätte er etwas Unehrenhaftes getan. Wo er sich blicken ließe, würde plötzlich jede Unterhaltung schweigen, oder irgend ein schrecklicher Kerl würde ihm auf die Schulter klopfen und brüllen: ›Mach dir nichts draus, alter Junge, wir schlagen sie das nächste Mal!‹ Als Kapitän ist er offiziell verantwortlich, aber ich weiß, daß er nichts dafür kann. Sie haben ihn nicht frei verfügen lassen; und bei mir kann er sich aussprechen und die Schuld auf die abladen, die wirklich schuldig sind. Du weißt, unser Schiff fährt am Dienstag von New York ab; wir werden nur zwei Nächte hier sein, und Jack braucht dann der Bande in Boston überhaupt nicht mehr gegenüberzutreten.«

Mrs. Alden antwortete nicht. Sie wandte sich statt dessen an Irma.

»Warum ist Oliver immer so pessimistisch? Gewinnt Harvard nicht in der Regel das Rennen? Warum soll man nicht das Beste hoffen?«

»Ich hoffe auch das Beste, das ist gar nicht anders möglich, aber ich erwarte es nicht. Außerdem: können wir denn sicher sein, daß es letzten Endes stets das Beste ist, wenn Harvard gewinnt? Vielleicht wetten sie im Himmel auf Yale.«

Die beiden Damen fragten sich, ob es nicht gotteslästerlich sei, so etwas zu sagen, aber Irma hielt es im ganzen genommen doch eher für witzig. Als sie am Abend Mrs. Aldens Haar bürstete, wies sie auf alle Fälle darauf hin, was für glänzende Freunde Oliver nun habe – man denke, den Kapitän der Rudermannschaft von Harvard! – und wie rücksichtsvoll und gütig er gegen andere sei. Mrs. Alden seufzte und sprach die Hoffnung aus, es möchte wahr sein; doch es schien ihr, als habe niemand rechte Freude an all diesem Glanz und dieser Güte. Es gewährte ihr mehr Befriedigung, den Kopf auf das reine, weiche Kissen zu legen, die Augen zu schließen und nicht länger über irgend etwas nachdenken zu müssen, weder über Güte, noch über Glanz, noch über den Unterschied zwischen Witz und Gotteslästerung, wenn überhaupt einer bestand.

Am nächsten Sonntag nach dem Lunch streckte sich Remington in dem Korbliegestuhl der großen Vorhalle aus, nahm eine illustrierte Zeitschrift nach der andern zur Hand und ließ sie wieder fallen. Gleichgültigkeit und Niedergeschlagenheit, dazu das schwüle Wetter, ließen die Stunden nur langsam dahinschleichen. Oliver brauchte anscheinend lange Zeit zum Briefschreiben und Packen. Schläfrig – denn nichts in der Welt schien ihm noch Bedeutung zu haben – beobachtete Remington einen mageren jungen Mann, der sein Fahrrad den langen sandigen Auffahrtsweg heraufschob. Plötzlich stand der Eindringling überrascht still, kam dann zögernd den Pfad herauf und trat unter die großen weißen Säulen. Offenbar hatte er nicht erwartet, hier einen schwarzhaarigen Fremden zu finden, der es sich mit Selbstverständlichkeit in diesem Hause bequem machte.

»Könnten Sie mir vielleicht sagen, ob Oliver Alden zu Hause ist?« fragte der Mann mit dem Fahrrad schüchtern.

»Ja, er ist oben. Wenn Sie schellen, wird wahrscheinlich jemand kommen.«

Der schüchterne junge Mann schellte und wurde eingelassen, während Remington wieder ein Magazin in die Hand nahm. Gleich darauf hörte man Schritte in der Halle und Olivers Stimme, deren Ton zugleich erfreute Überraschung und Entschuldigung ausdrückte.

»Ach, Tom Piper! Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt? Und woher weißt du, daß ich hier bin? Ich wollte dir schreiben, aber du weißt, wie es in den letzten Tagen vor der Abreise geht. Man hat für alles, was man wirklich tun möchte, keine Zeit mehr.«

»Ja, siehst du«, ließ sich die andere Stimme etwas verzagt vernehmen, »ich habe eben auch sehr viel gearbeitet. Ich habe gerade das erste Jahr meines Medizinstudiums hinter mir. Da wird einem viel aufgehalst. Mein Vater sah dich gestern die Hauptstraße herauffahren, und da fiel mir ein, ich könnte dich einmal besuchen. Aber du hast ja Besuch. Vielleicht komme ich lieber ein andermal.«

»Du kannst nicht ein andermal kommen, denn wir gehen morgen weg. Es ist übrigens nur Remington da – du kennst ihn wohl, wenigstens vom Sehen. Komm und spiele eine Runde Golf mit uns!«

Tom Piper kannte Remington nicht, auch nicht vom Sehen, und hatte noch niemals Golf gespielt, doch wurde er dem schwarzhaarigen jungen Mann vorgestellt, und man hieß ihn den Rücksitz am spitzen Ende des Wagens einnehmen. Er konnte also nichts tun als gehorchen; aber er fühlte, daß ihm die Wiedersehensfreude verdorben war, und daß er auch den andern die Freude verdarb. Nicht daß es hier überhaupt viel Freude zu verderben gab! Der bedrückende Nebel der Niederlage hatte sich noch nicht gelichtet.

Remington entfernte sich langsam, um aufs Geratewohl ein paar Bälle vor sich her zu treiben, während Oliver es unternahm, Tom eine erste Lektion im Putten zu erteilen. Aber es war zu heiß zum Golfspielen; eine längere Fahrt wäre wohl erfrischender, und sie stiegen wieder in den Wagen, wo Tom, wenn er sich auch nicht großartig unterhielt, wenigstens niemandem im Wege war. Doch lastete seine Gegenwart auf Olivers Seele, denn eigener Kummer hatte ihn für die Enttäuschung seines alten Schulfreundes empfindlich gemacht. Tom durfte auf keinen Fall in dem Gefühl von ihm fortgehen, abgewiesen, zurückgestoßen und ohne weiteres vergessen worden zu sein. Er mußte zum Dinner dableiben, man mußte zusammen über die vergangene Schulzeit sprechen, mußte Zukunftspläne erörtern und ihm irgendwie beweisen, daß immer noch treue Freundschaft zwischen ihnen beiden bestand.

Die arme Mrs. Alden zitterte aufs neue bei dem Gedanken, daß noch ein dritter junger Mann an ihrem Tische sitzen sollte. Würde das Essen auch reichen? Glücklicherweise waren sie heute nicht wie gewöhnlich am Sonntagabend darauf angewiesen, das Roastbeef vom Mittagessen kalt aufzuschneiden. Man hatte eine Ausnahme gemacht und für den Abend ein regelrechtes Dinner vorbereitet, ein gebratenes Huhn mit Würstchen war schon angeordnet. »Bestellen Sie lieber zwei Hühner, liebe Irma«, hatte Mrs. Alden gesagt, »dann brauchen wir keine Würstchen, vielleicht mögen die jungen Männer von heutzutage überhaupt keine.« Aber nun, wo noch Tom Piper zu den Gästen hinzukam, fing ihr Hausfrauengewissen wieder an zu schlagen. Sie konnte Tom Piper nicht länger ausschließen, weil er ein Apothekerssohn war. Es mußte ihr jetzt genügen, daß er Olivers Freund war; und außerdem wurde er ja Arzt, wie ihr eigener Vater und ihr eigener Gatte. Trotzdem fühlte sie, daß in Tom Pipers Fall die Würstchen äußerst angebracht waren. Sie freute sich im voraus auf das Vergnügen, ihren Gerechtigkeitssinn zu bewähren, indem sie zwei große Würste zusammen mit einem Hühnerbein (nicht etwa nur einem Flügel) auf Toms Teller legen würde. Sie wollte ihm ihre Gastfreundlichkeit in Hülle und Fülle, aber ihre Freundschaft nur mit Würde und feiner Abstufung zuteil werden lassen; gerade wie auch Oliver trotz seiner Vorurteilslosigkeit nur aus reiner Güte zu Tom nett war, ohne daß es ihm viel Freude machte.

»Schnell, Irma«, befahl sie, sobald sie Zeit gehabt hatte, sich der Aufdringlichkeit Tom Pipers richtig bewußt zu werden, »sagen Sie Mrs. Mullins, sie möchte heute abend doch Würstchen machen, obgleich wir zwei Hühner haben. Sagen Sie ihr, es würden drei junge Herren zum Dinner erwartet.«

Nach einem so üppigen Schmaus, bei dem es keinen Wein gegeben hatte, fühlten sich alle schläfriger und gelangweilter denn je. Remington sagte, er habe noch Briefe zu schreiben, und verschwand. Auch Oliver hatte noch einen Brief zu beenden, einen sehr wichtigen Brief. Würde Tom wohl einen Augenblick warten und ihn noch vor Mitternacht in der Stadt in den Kasten werfen?

Um die gähnende Leere zu füllen, fragte Irma Tom, ob er Musik gern habe. Liebe er Chopin? Sie sei ganz aus der Übung, aber sie werde ihm ein Nocturno vorspielen, wenn er entschuldigen wolle, daß ihre Finger so steif seien.

Doch ihre Finger erwiesen sich wirklich als so steif, daß sie sich lieber gleich neben ihn setzte. So, er studierte also Medizin? Was für ein edler Beruf! Was, meinte er, würde wohl die beste Betätigung für Oliver sein? Nicht das Geschäftsleben; es wäre eine Schande, eine so schöne Begabung, vielleicht sogar ein Genie, in Handelsgeschäfte einzuspannen. Aber ein Dichter schien Oliver auch nicht zu sein. Sie wunderte sich eigentlich, daß er kein Dichter war. Vielleicht eher ein Philosoph. Und dennoch: Professor der Philosophie, Professor an irgend einem College – das kam ihr als ein so beschränktes, so alltägliches Leben für einen derartig stolzen Geist vor. Und aus demselben Grunde konnte Oliver auch kaum Geistlicher werden. Er war zu tief, zu originell in seinen Gedanken, um in irgend einer Kirche frei atmen zu können. Es war wirklich sehr schwer zu sagen, was er werden sollte; es war ganz richtig für ihn, zuerst noch ein paar Jahre zu studieren und zu reisen, bevor er sich eine Karriere aussuchte. Glücklicherweise lag in diesem Fall kein Anlaß zur Eile vor; und sie warf einen mitfühlenden Blick auf den armen Tom Piper, als verständige sich hier eine vermögenslose Seele mit einer andern, indem sie die glücklichen Reichen halb beglückwünschte, halb tadelte.

Ein paar Minuten später steckte Tom einen großen, reichlich mit Briefmarken beklebten Umschlag in die Seitentasche seiner Jacke, sagte dem angebeteten Freund seiner Kindheit mechanisch Lebewohl und bestieg sein Fahrrad. Eine allgemeine Stimmung von grauem Elend lag so schwer über ihm, daß er gar keine einzelnen Gründe für seine Niedergeschlagenheit mehr unterscheiden konnte. ›Jetzt geht's die ganze Zeit bergab‹, sagte eine Stimme in seinem Innern. Nun konnte er, ohne zu treten, den ganzen langen Weg bis zur Stadt hinunterfahren. Es war eine saure Arbeit gewesen, das Rad die weite Strecke hinaufzuschieben, eine saure Arbeit, der er sich schon manches Mal unterzogen hatte. Vielleicht würde er niemals wieder nach High Bluff hinaufkommen – außer man beförderte ihn eines Tages auf den Friedhof oder in das Irrenhaus dort. War es nicht ebensogut, tot oder verrückt zu sein? Oliver war auch nicht glücklich. Auch Remington war nicht glücklich. Daß er Kapitän der Rudermannschaft war, lag wie ein Fluch auf ihm. Die einzigen Menschen, die Spaß am Leben zu haben schienen, waren die minderwertigen Burschen wie zum Beispiel Josh Burr, der den Limonadenausschank hatte und ein Schreckensregiment unter den Mädeln führte. Allerdings war Josh Burr ein Prolet, aber Remington hielt ihn, Tom Piper, vielleicht auch für einen Proleten. Oliver hatte sich Mühe gegeben, freundlich zu sein, die deutsche Erzieherin hatte sich Mühe gegeben, freundlich zu sein, sogar die alte, dicke Mrs. Alden hatte sich Mühe gegeben, freundlich zu sein, wenn sie es nicht gerade einmal vergaß. Doch es hatte gar keinen Zweck, gegen den Strom zu schwimmen, gegen den Strom der Verhältnisse. Besser, man verzichtete darauf. Besser, man verbrachte sein Leben damit, von Haus zu Haus zu gehen und den Leuten Aspirin einzugeben – viel mehr konnte ein Arzt ohnehin nicht tun – bis man endlich selbst seine letzte Dosis Aspirin nahm.

Am Eisenbahnübergang mußte Tom sich aus seiner Trostlosigkeit ermannen, um einen langen, faulen Güterzug abzuwarten, der puffend und schnaubend die Schranken unendlich lange niederhielt. Zwei Mädel und ein Mann kamen lärmend auf ihren Fahrrädern näher und sprangen neben ihm ab.

»Hallo, junger Mann«, rief das eine Mädel, während sie sich neben ihn stellte, »wo haben Sie denn den Hut her?«

»Er hat doch gar keinen Hut auf, du Schaf«, kicherte das andere Mädel, »das mußt du doch sehen!«

Tom zog ganz mechanisch seine Mütze aus der Tasche, setzte sie auf und schob sein Rad etwas weiter weg.

»Nee«, sagte das erste Mädel, »aber ich sehe, daß er brummig ist.«

Der Mann, der kein anderer war als Josh Burr, trat auf Tom zu und fing ein Gespräch mit ihm an. Tom sollte mit ihnen zusammen durch den Wald fahren. Zu vieren würden sie es leichter haben, als zu dreien. Die Schranken wurden wieder hochgezogen.

»Los«, schrie die Dame, die die Führung übernommen hatte. »Es ist schön kühl da drin.«

Als Tom mit seiner Gefährtin nach einer Stunde wieder auf die Straße zurückkam und sie schweigend ihre Räder aus dem Wald herausschoben, überlegte er sich, wie spät es wohl sein mochte, und daß er ja den Brief noch vor Mitternacht hatte einwerfen sollen. Er fühlte in seiner Seitentasche nach. Der Brief war weg! »Geh mit den andern voraus«, sagte er zu seiner neuen Freundin. »Ich habe was verloren; ich muß zurück und danach suchen.«

Mühsam leuchtete er mit seiner Fahrradlampe im Walde den Weg ab, den er gekommen war. Es war ein völlig hoffnungsloses Bemühen, zwischen dem Unterholz, dem Reisig und den fortgeworfenen Butterbrotpapieren einen verlorenen Brief finden zu wollen. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und er radelte in rasender Eile zu dem Bahnübergang zurück. Richtig, da war weithin sichtbar und anscheinend unversehrt an der Stelle, wo er seine Mütze aus der Tasche gezogen hatte, Olivers Brief. Als er näher trat, bemerkte er, daß er zur Hälfte in einer schmutzigen Pfütze lag. Tom hob ihn an seinem sauberen Ende auf: er war weich und durchnäßt, schwarz von Kohlenstaub und ganz schwer von dem Schmutzwasser, das hineingedrungen war. Unmöglich, ihn in den Briefkasten zu werfen! Er drückte das Wasser heraus, trocknete ihn, so gut er konnte, mit seinem Taschentuch ab und untersuchte ihn im Licht der Straßenlaterne. Die Adresse war kaum leserlich, der Umschlag hatte sich halb aufgelöst. Außerdem war es nun schon nach Mitternacht. Nutzlos, ihn noch aufzugeben, selbst wenn es überhaupt möglich gewesen wäre! Sollte er sein Fahrrad noch einmal den Hügel heraufschieben, Oliver aus dem Bett klingeln und ihm erklären, was geschehen war? Aber wie konnte er erklären, weshalb es so spät war? Wenn er den Brief einfach verloren hätte, würde er den Verlust lange vor Mitternacht entdeckt haben. Sollte er ihn lesen und den hauptsächlichen Inhalt am frühen Morgen dem Adressaten telegraphieren? Wenn man aber den Inhalt hätte telegraphieren können, würde Oliver das wohl schon selbst getan haben.

Nein, zwischen Oliver und ihm war nun alles aus! Aus war die Zeit, wo er sein Fahrrad diesen Hügel bergauf geschoben hatte! Er konnte ebensogut alle seine Bemühungen aufgeben, die Schiffe hinter sich verbrennen, den Brief verbrennen und im Notfall schwören, daß er ihn eingeworfen habe. Und nun konnte er ihn auch ebensogut zuerst lesen, um die Falle, in der er sich gefangen hatte, restlos zu untersuchen und die sinnlosen Maschen des Netzes, in das er geraten war, ganz zu kennen. Sorgfältig öffnete er den Umschlag und nahm den Brief heraus. Er war stellenweise naß und beschmutzt, aber noch leserlich.

 

Liebe Edith!

Daß Du mir wirklich telegraphiert hast, daß Dich wirklich der Gedanke beunruhigt, ich könnte unglücklich sein, das gibt mir einen letzten Hoffnungsschimmer. Wenn ich Dir wegen einer solchen Kleinigkeit leid tue – da ich doch nicht einmal im Boot mitruderte und die Niederlage schon erwartet hatte – dann muß ich Dir sicherlich auch in Dingen leid tun, die tatsächlich wichtig sind. Vielleicht denkst Du, daß ich mir nur einen dummen Gedanken in den Kopf gesetzt hätte, und daß ich Deinetwegen auf die gleiche Art unglücklich wäre wie über ein verlorenes Rennen, sodaß in wenigen Tagen die Wunde geheilt und die ganze Sache damit erledigt wäre. Trotzdem kann eine solche Wunde doch furchtbar tief gehen. Warum sollten wir auch an irgend etwas hängen – und wenn es das Leben selbst wäre – wenn wir eben nicht ohne jeden vernünftigen Grund daran hingen? Wir haben unser Herz auf manche Dinge gerichtet, und wir leiden hilflos, wenn wir sie verlieren. Ich bin gräßlich enttäuscht, daß Du nicht an mich glaubst, daß Du Menschen und Anschauungen von ganz anderer Art vorziehst. Warum aber ziehst Du sie vor? Einfach, weil sie konventioneller, bequemer und weniger tapfer sind? Siehst Du nicht ein, daß das alles unzulänglich ist, oder siehst Du es ein, und die ganze Unzulänglichkeit macht Dir nichts aus? Du wirst sagen, daß ich bitter und ungerecht bin, nur deshalb, weil Du mich abgewiesen hast. Auch bei der Rudermannschaft sagten sie, ich sei nur so trübe und pessimistisch, weil man mich nicht als Vormann genommen hätte. Doch hatte ich sachlich recht und wollte auch niemals meines Vergnügens wegen Vormann werden oder überhaupt mitrudern – denn nur Alleinrudern macht mir Freude – sondern einzig Jack Remingtons wegen, denn ich wußte bestimmt, daß wir beide, er als Kapitän und ich als Vormann, die andern wie durch Magie mit uns fortgerissen hätten, so daß das Boot in seinem Fluge das Wasser kaum berührt hätte.

Ebenso sicher fühle ich, daß ich auch mit Dir und mir recht habe. So, wie die Dinge jetzt liegen, ist das Rennen für uns beide verloren, denn ich allein wäre völlig verlassen, da ich nicht wüßte, wofür ich leben sollte, und Du allein würdest Dich mit frommen Einbildungen betäuben. Vereint könnten wir uns mit der Wahrheit versöhnen und glücklich in ihr sein; bedenke, was für Kraft uns das geben würde! Aber zuerst mußt Du an mich glauben und mir vertrauen. Ich tauge nur als Vormann etwas. Ich muß die Führung in die Hand nehmen. Du magst dagegen sagen, daß Du Dich selbst führen kannst oder Dich nur von Menschen führen lassen willst, die mehr Autorität haben als ich. Natürlich habe ich keine Autorität, aber ich habe Aufrichtigkeit, und was ist Autorität anderes als die Aufrichtigkeit eines andern, der vor langer Zeit gelebt hat? Es gibt gar keine Autorität außer der Autorität der Dinge. Wir stoßen uns an den Dingen, wir müssen mit den Dingen arbeiten, wir müssen die Natur der Dinge erforschen, wenn wir sie je zu ändern hoffen; doch abgesehen von der Autorität der Dinge sind wir frei und unterstehen keiner andern Macht als der unserer eigenen Vernunft. Du würdest mir, das weiß ich, vertrauen, wenn Du Dir selbst vertrautest. Aber das wagst Du nicht. Vielleicht vertraut mir niemand außer Mario. Vielleicht ist er der einzige Mensch, dem ich immer werde helfen können. Er ist furchtlos, er weiß, was er will, und ich kann ihm seine Wünsche erfüllen. Er reist nun mit mir um die Welt, er würde mit mir hingehen, wo immer ich hingehen wollte, nicht aus Unterwürfigkeit, sondern weil er weiß, daß mir nichts am Herzen liegt als sein Wohlergehen und die unversehrte Bewahrung seiner Persönlichkeit; mit einem Wort: er weiß, daß ich ihn liebe. Wenn Du mich lieben könntest, würdest Du auch mitkommen. Kannst Du es nicht? Es ist noch nicht zu spät. Telegraphiere mir ins Manhattan-Hotel oder auf den »Kaiser Wilhelm«, dann bleibe ich zurück. Wir könnten dann den nächsten Dampfer zusammen nehmen.

P. S. Stelle Dir vor, wie schön es wäre, wenn wir ganz in aller Stille heiraten würden, ohne eine monatelange Verlobung, ohne Einladungen und Geschenke, ohne Brautjungfern und ohne Zeitungsreporter, ohne einen Lunch mit Champagner und ohne daß man Reis hinter uns herwürfe! Eine Ehe, die ohne Unwahrheiten und überflüssigen Lärm einzig im Angesicht Gottes geschlossen würde!

Zweites P. S. Dein Freund Mr. Edgar Thornton könnte uns in seiner hübschen neuen Kirche trauen, die nun nicht mehr mit einer Hypothek belastet ist. Ich will bei dieser Gelegenheit keinen Anstoß an seinem Ostfenster im Stile der Kathedrale von Chartres nehmen, denn ich brauche es ja nicht anzusehen; aber seinen Chorknaben muß er an diesem Tage freigeben. Ich mag es nicht, wenn ganze Aufzüge von fremden Menschen meine innersten Gefühle feiern.

 

Tom Piper hatte keine Ahnung, wer diese »Edith« sein könnte, doch während er den Brief sorgfältig noch ein zweites Mal las, entschied er sich dahin, daß er sie haßte. Aus seinem eigenen Mißgeschick, aus seiner Erniedrigung und Hilflosigkeit heraus erhob sich eine Art von rachsüchtiger Freude. Er war froh, daß er den Brief hatte in den Schmutz fallen lassen. Er war froh, daß er ihn so schmählich vergessen, ihn dann unehrenhafterweise geöffnet und gelesen hatte und nun im Begriff war, ihn zu zerstören. Er würde sich doppelt freuen, wenn er um einen solchen Preis Oliver gerettet hätte. Wenn der Teufel das alles so gefügt hatte, dann war der Teufel ein guter Kerl. Diese gräßliche »Edith« sollte den Brief nie bekommen. Oliver würde sie nie heiraten, und er, der arme, niedrige Tom Piper, würde daran schuld sein. Gott sei Dank, oder auch dem Teufel sei Dank!

Inzwischen aber kam sich Tom mit dem schmutzigen, feuchten Brief in der Hand wie ein Mörder vor, der nicht weiß, wie er sich der Leiche entledigen soll. Kein Fetzchen dieses Briefes durfte übrig bleiben, um ihn zu verraten. Er sammelte die Blätter und den Umschlag, wickelte sie in sein Taschentuch und stopfte sie in seine Hosentasche, aus der sie nicht herausfallen konnten. Zu Hause in seinem Schlafzimmer wollte er jedes kleinste Stückchen im Ofen verbrennen; sogar das verkohlte Papier und die Asche sollten verschwinden. Als Namenloser würde er über Olivers ganzes Leben herrschen, mochte er ihn auch nie wiedersehen.

Am nächsten Dienstag morgen lag weder im Manhattan-Hotel, noch im Zahlmeisterbüro auf dem Dampfer ein Telegramm Ediths für Oliver bereit. Er war davon nicht einmal tief enttäuscht.

Vielmehr kam eine friedliche Melancholie über ihn. Nun war er wieder auf See; und wieviel besser wurde der wahre Zustand eines lebendigen Geistes durch die grenzenlose Leere ringsum versinnbildlicht als durch den Zwang, die Beschränktheit und die Falschheit der menschlichen Gesellschaft. Hier mußte man mit Winden und Strömungen rechnen, hier herrschten die harten Notwendigkeiten der Schiffsbaukunst, hier an Bord mußten scharfe Wachsamkeit und eine strenge Disziplin eingehalten werden; aber auf dem Meere waren keine Straßen angelegt, es gab keine Häuser, keine Laternenpfähle und keine Hecken; man konnte sich hier seinen eigenen Kurs wählen. Ja, und am dankbarsten mußte man dafür sein, daß man keine dauernde Spur hinterließ, daß das Meer für den nächsten Seemann wieder genau so glatt und frei dalag, wie es sich vor einem ausgebreitet hatte.

Später jedoch, als Oliver seine nachgesandte Post erhielt, fiel ihm sofort ein großes quadratisches Kuvert ins Auge. Es war ebenso unverkennbar wie der blaßgrüne Lack, mit dem es so prächtig versiegelt war, und die schöne, steile Handschrift, die wie eine Prozession von Giraffen aussah. Das konnte keine Antwort auf seinen Brief sein. Die beiden Briefe mußten sich gekreuzt haben. Würden Ediths Worte die Probe bestehen, jetzt nachträglich im Lichte ihrer Handlungen gelesen zu werden?

Aber Oliver beeilte sich nicht mit der Lektüre. Sie waren auf hoher See, es gab keinen Rückweg mehr, und er empfand eine bittere, grausame Freude darüber. Eine der unjugendlichen, methodischen Angewohnheiten, die er sich schon zugelegt hatte, bestand darin, daß er den ganzen Haufen Briefe, der vor ihm lag, jedesmal wie Karten vorm Beginn des Spiels ordnete, bevor er sie öffnete. Die wichtigsten oder die von seinen nächsten Freunden kamen ganz unten hin, um mit Muße zuletzt gelesen und freien Geistes genossen zu werden; während die nebensächlichen Plagen des modernen Lebens, die Anzeigen und Reklamebriefe obenauf blieben, damit er sie so schnell, wie es sein Gewissen erlaubte, in den Papierkorb weiter befördern konnte.

An jenem Morgen waren die Rechnungen in der Überzahl; er steckte sie gewohnheitsmäßig in die Tasche, um sie später an Hand des geöffneten Scheckbuchs gründlich zu prüfen. Der vorletzte Brief war von Irma, die Jack Remington rühmte, ein paar freundliche Worte über Tom Piper sagte, die Ruhe und den Mut bewunderte, womit Mrs. Alden ihren einzigen Sohn hinaus in die weite, gefährliche, verworrene Welt habe ziehen lassen, und schließlich Oliver eine gute Reise und viele große, tiefe, edle Erlebnisse wünschte.

»Ja«, dachte er, »jetzt werden wir sogleich mit den Erlebnissen anfangen und einmal sehen, wie groß, tief und edel sie sich anlassen.« Er zerbrach mit einem gewissen Vergnügen das zarte heraldische Siegel, das so umfangreich und empfindlich war. Er empfand kaum Erregung, nur eine Art philosophischer Neugier, die auf alles gefaßt war, wenig erhoffte und schon im voraus über die menschliche Schwäche und über seine eigene Lage lächelte. Was mochte Edith veranlaßt haben, diesen langen Brief zu schreiben, obgleich sie doch offenbar ihren Entschluß nicht geändert hatte? War es nur Koketterie, wollte sie ihn noch ein wenig länger zappeln lassen? Wenn das der Fall war, dann verschwendete sie ihr schönes Briefpapier und ihre schöne Handschrift, denn er hatte sein letztes Wort gesprochen. Als er den Brief entfaltete, stieg ein schwacher, aber köstlicher Veilchenduft aus dem Bogen auf und versetzte ihn in die Zeit zurück, wo er ihr an jenem Abend in der Oper in den Mantel geholfen und sie zum ersten Mal schön gefunden hatte. Hatte sie damals dieses Parfüm an sich gehabt? Er bewahrte daran keine Erinnerung, doch irgendwie war dies ihr Duft, der Duft ihres Körpers und vielleicht, gleichsam symbolisch, der Duft ihres Geistes. Aber nun zu ihren Worten! Nun wollte er untersuchen, wie diese dufteten.

 

Lieber Oliver!

Früher oder später müßte ich Dir doch eine Neuigkeit mitteilen, und so tue ich das lieber jetzt, damit Du Dich ganz frei auf Deine Reise begeben kannst und nicht das Gefühl hast, einen Anker hinter Dir herzuschleppen oder an eine von uns armen schwachen Frauen daheim gebunden zu sein. Ich hoffe, Du wirst mir verzeihen, daß ich ein wenig mit meiner Nachricht gezögert habe und Dich vielleicht dazu ermutigte, so an mich zu denken, wie du es getan hast. Es war nicht die beste Seite an uns beiden, die uns zueinander hinzog. Hinsichtlich unserer besten Seite sind wir wirklich zu verschieden für eine vollkommene Sympathie. Was Du für Liebe zu mir hieltest, war nur etwas, was Du in Deinem Alter für jede gute Frau empfunden hättest, die Du in ihrem Familienkreis gesehen hättest, und die ein so großes Interesse an Dir genommen hätte, wie ich es selbstverständlich tat und stets tun werde. Ich fühlte mich vom ersten Augenblick an zu Dir hingezogen, wegen unserer gemeinsamen Zuneigung zu Mario. Ich merkte wohl, welchen vorzüglichen Einfluß Du auf ihn hattest, und wie sehr er an Dir hing, ich sah Dich unwillkürlich mehr oder weniger mit seinen Augen, obwohl natürlich jeder fühlt, daß Du einen edlen Charakter und auch große Gaben hast. Du schienst mir ein stärkerer und ungewöhnlicherer Mensch zu sein als irgend einer der Männer meiner Umgebung, die schon älter waren und die sonst normalerweise für eine Heirat in Betracht gekommen wären.

Nun sehe ich ein, daß es rein triebhaft und selbstsüchtig von mir gewesen wäre, wenn ich diesem Gefühl für Dich nachgegeben hätte; es wäre bloß romantisch gewesen, da Du doch noch so jung bist, Dein Leben erst formen mußt und sicherlich später eine andere Frau findest, die viel besser zu Dir paßt, die ganz in Dir aufgeht und das Glück Deines Lebens wird. Das wäre mir unmöglich gewesen, denn ich bin doch viel älter als Du, mein Geschmack und vor allem meine religiösen Empfindungen, die Dir ganz fremd bleiben, sind schon zu ausgeprägt. Deine geistige Einstellung ist sehr edel und tief, aber bis jetzt noch ohne Glauben, obwohl ich hoffe, daß Du schließlich doch noch einsehen wirst, wie notwendig der Glaube ist, ja, daß Du ihn im Grunde immer schon besessen hast, ohne zu erkennen, was er bedeutet, ohne zu erkennen, daß er Christus heißt.

Trotzdem mußt Du zuerst Dein eigenes Leben leben, und ich schreibe dies, um Dich von jedem Versprechen mir gegenüber zu entbinden und Dich zu bitten, nie wieder so an mich zu denken wie bisher. Du wirst vielleicht nicht ganz überrascht sein zu hören, daß ich mich mit dem Reverend Edgar Thornton verlobt habe, den Du einmal bei meiner Tante Miriam getroffen hast. Er ähnelt Dir darin, daß er ebenfalls sehr verschieden von allen meinen Bekannten aus der New Yorker Gesellschaft ist, aber dabei haben wir dieselben Ansichten in allen wichtigen Dingen, und er glaubt, ich werde ihm bei der großen Tätigkeit helfen können, die sich ihm eröffnet.

Dies war die Neuigkeit, die ich Dir mitzuteilen hatte. Bitte, erzähle niemandem davon, da wir noch nicht Zeit hatten, alle unsere andern Freunde zu benachrichtigen, nur Mario wird es schon wissen, wenn Du ihn triffst. Ich hoffe, daß Eure gemeinsame Reise ganz so ausfallen wird, wie Du es Dir nur wünschen kannst, und daß Ihr beide immer an meine unveränderliche Zuneigung zu Euch glauben werdet.

Deine alte Freundin und Kusine
Edith


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