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2

In Olivers Philosophie gab es kein astronomisches oder vulkanisches Prinzip, das gerade für diesen Sommer Katastrophen vorausgesagt hätte, und er rechnete damit, daß ihm die normale Milde der Witterung erlauben würde, weiterhin friedlich im Garten zu sitzen und zu lesen oder auf dem Fluß zu rudern und zu paddeln, ganz wie es sich mit seinem Lerneifer vertrug. Aber zufällig befand man sich im Sommer des Jahres 1914.

Oliver pflegte die Zeitungen auf amerikanische Weise zu überfliegen, er sah nach dem Wetterbericht, den Unfällen, den Sportereignissen, den Heiraten und Todesfällen und gelegentlich, wenn die Schlagzeilen eine besondere Baisse oder Hausse verkündeten, warf er einen Blick in den Handelsteil. Politik bedeutete für ihn nur eine Kampagne für die Präsidentenwahl, die ihn weniger interessierte als die Rugby-Meisterschaft; und die Morde von [Sarajewo] und das Ultimatum an Serbien hatte er nur wie andere vermischte Nachrichten zur Kenntnis genommen. Daher erfüllte ihn ein Telegramm Marios, das er am letzten Julitage empfing, mit Ärger und Hilflosigkeit.

»Krieg erklärt. Fahre heute nacht nach England, um mitzumachen. Engleford glaubt mir Posten im Fliegerkorps verschaffen zu können. Muß Dich gleich in London sprechen. Adresse: James's Club. Mario.«

Bestürzt und aufgeregt fuhr Oliver am nächsten Tag nach London, ließ gewohnheitstreu sein Gepäck in der alten Wohnung seines Vaters in Jermyn Street und schritt wie im Traum die Treppe des St. James's Club hinauf, indem er ganz korrekt nach seinem Vetter fragte; doch während der ganzen Zeit kam ihm nichts anderes zum Bewußtsein als das Sonnenlicht im Green Park, die hohen Gitterstäbe und die lange, sanft abfallende Kurve von Piccadilly nach Hyde Park Corner hinüber. Wie vernünftig, wie natürlich, wie wunderbar sicher war alles in der materiellen Welt; warum mußten solche Stürme von sinnloser Leidenschaft, Verkehrtheit und rhetorischem Unsinn verwüstend über die Menschheit hinwegfegen?

Aber da erschien Mario schon an der Tür, er sah ernst aus, blaß, aber seltsam strahlend und größer als sonst. »Komm fort von hier«, sagte er leise, fast wie man bei einem Begräbnis spricht. »Hier sind zu viele alte Käuze, die Plattheiten schwätzen.« Und indem er in seiner alten Schuljungenart Olivers Arm nahm, zog er ihn in den Sonnenschein hinaus und gleich wieder unter die Erde hinunter, an einen kleinen Ecktisch bei Hatchett nämlich, wo er mit gewohnter Sorgfalt den Lunch bestellte. Dann schlug er mit beiden Handflächen auf die Tischplatte, als wolle er eine Versammlung zur Ordnung rufen. Die beiden jungen Männer sahen einander an, und nach einem Augenblick des Stillschweigens begann Mario:

»Das ist jetzt die große Chance unseres Lebens. Die Deutschen glauben natürlich, daß der Sieg ihnen sicher ist. Sie haben alles kommen sehen und haben alles vorbereitet. Dies soll ihr Dritter Punischer Krieg werden. Wenn er vorbei ist – und er wird nicht lange dauern – dann wird es außer ihnen niemanden von Bedeutung mehr auf der Welt geben. Aber vielleicht geht die Sache doch anders aus. Die übrige Welt mag wohl kurzsichtig, langsam und uneinig sein, aber sie wird sich recht hartnäckig zeigen. Jetzt heißt es für uns: kämpfen oder verhauen werden, und in diesem Fall schlägt selbst der schläfrigste Feigling zu.«

Mario schien ganz verwandelt, seine Augen wirkten dunkler, aber leuchtender als sonst, sie waren auf etwas Unsichtbares in einer unbestimmten Ferne gerichtet. Doch gleichzeitig sprudelte er über von knabenhafter Ausgelassenheit; nun war er wieder Vanny geworden, echt englisch sah er den Krieg unter dem Gesichtspunkt des Sportes an; und doch nicht ganz, denn er betrachtete die Sache nicht mit Humor, verkleinerte die Gefahr nicht vor sich selbst. In der Art, wie er die Tatsachen feurig verklärte, lag etwas Italienisches, ein Funken Keckheit und persönliche Herausforderung, als trüge er eine Feder auf dem Hut und zöge ein blitzendes Schwert aus der Scheide. Er war ernst, aber im geheimen glücklich, im tiefsten berauscht, als sei er nie vorher so völlig lebendig gewesen. So muß er wohl auch aussehen, dachte Oliver, wenn ihn die Liebe ergreift. Doch diese Gedanken fanden jetzt keine Worte, es waren unterirdische Strömungen, die erst viel später durch unerklärliche Wirbel wieder an die Oberfläche gerissen werden sollten. Im Augenblick fanden nur ausgeprägte, verstandesmäßige, unpersönliche Überzeugungen ihren Ausdruck.

»Weswegen soll eigentlich Krieg geführt werden?« fragte Oliver kalt, fast mit spöttischem Lächeln. »Geht es um Serbien oder um Elsaß-Lothringen? Und was bedeuten dir denn Elsaß-Lothringen und Serbien? Bist du nicht Amerikaner? Was hast du bei der ganzen Schlägerei zu suchen?«

»Daß ich offiziell Amerikaner bin, ist kein Hindernis – in meinem Fall wenigstens nicht. Ich bin doch Eton-Schüler gewesen, und wenn man mir Schwierigkeiten macht, werde ich britischer Untertan. Ich könnte auch in die französische Armee gehen, denn eigentlich handelt es sich ja mehr um Frankreich, und ich bin in Paris geboren. Aber im Krieg schließe ich mich doch lieber den Engländern an. Sie verstehen sich darauf, harte Sachen leicht anzupacken; auch wenn es scharf hergeht, bleiben sie Gentlemen und ertragen alles wie Männer. Und sie halten den Mund über ihre Enttäuschungen, ihre religiösen Gefühle und die lieben Mädel daheim. Natürlich haben sie nicht die leiseste Ahnung, wofür sie eigentlich kämpfen. Das hat kein echter Soldat. Du hältst das für dumm, nicht wahr? Deine Philosophie verlangt für alles Gründe. Aber weißt du etwa, weshalb du geboren bist? Weißt du, wozu du lebst, bist du sicher, daß es sich lohnt? Nichts in der Welt ist so, wie wir es uns wünschen: weder die Berge und die Flüsse, noch unser eigener Körper und unsere eigene Seele. Aber wir müssen versuchen, aus dem, was nun einmal gegeben ist, das beste zu machen. Und manchmal ist das eine herrliche Aufgabe.

So auch der Krieg. Du sagst, er ist schrecklich und töricht, weil wahrscheinlich alles hinterher schlimmer wird als es vorher war. Ja, sehr wahrscheinlich; aber von der Liebe könntest du dasselbe sagen. Auch zur Liebe würde sich kalten Blutes niemand entschließen und ihren Verlauf berechnen mögen. Sie ist etwas Törichtes und Trauriges, ich weiß darin genau Bescheid. Und doch ist die Liebe etwas Naturgegebenes wie Geburt und Tod, die auch schrecklich sind; kein anständiger Mensch hätte das alles in das menschliche Leben hineingebracht, wenn er darüber zu bestimmen gehabt hätte. Aber es ist nun einmal da, und wo käme die Menschheit auch sonst hin! So ist es auch mit dem Krieg. Die Welt ist stets überfüllt mit hungrigen, vorwärtsstrebenden Menschen, man kann sie nur vernichten oder sich von ihnen vernichten lassen. Gesetzt den Fall, du zögest dich auf eine verlassene Insel oder auf einen Berggipfel zurück und lehntest alle Gemeinschaft mit den Dingen der Wirklichkeit ab: was wolltest du denn in deiner Einsamkeit machen? Spielen und träumen? Grübelnd herumsitzen und alles falsch finden? Wenn du ein Mann bist, dann mußt du bereit sein, mit jedem andern Mann zu kämpfen und jede hübsche Frau zu lieben.«

Während Oliver tief verstimmt seinem Vetter zuhörte, dachte er an Homer, und wie Senator Lunt in der Ilias einen Leitstern für sein Leben gefunden hatte. Dort war auch ein Bild des Krieges, nicht weniger tragisch und unberechenbar als das, was Mario hier entwarf, aber wieviel barmherziger, wieviel enger mit der Religion verknüpft! Die homerischen Helden beider Parteien waren, wenn auch nicht fehlerlos, so doch edel; sie hätten einander Kameraden und Freunde sein können. Aber die Götter – die unberechenbaren Naturgewalten – stachelten sie zum Zorn auf, säten Mißverständnisse und machten gute Absichten zunichte. Und doch waren diese Götter in Wahrheit Götter; manchmal gaben sie auch guten Rat und Erleuchtung; jedenfalls regierten sie die Welt und die menschlichen Herzen. Vanny dagegen brannte nur auf die Jagd, war heiß von unterdrückter Erregung und nicht in der Stimmung, auf dem Strom der menschlichen Weisheit dahinzutreiben. Ein anderer Gedanke stieg aus Olivers bedächtigem Geist herauf und formte sich zu Worten.

»Du redest, als wären wir Wilde«, sagte er. »Der Wilde kann wohl im Grunde unseres Wesens noch vorhanden sein, aber er ist ganz und gar umschlungen und unterdrückt von der Zivilisation. Dieser Krieg, nach dem dich so gelüstet, ist kein Duell von Einzelpersönlichkeiten. Du kannst doch nicht in Person mit Wilhelm II. boxen, und du würdest doch wohl auch kaum alle Frauen in Deutschland rauben und entführen wollen. Dies ist ein Krieg zwischen Regierungen. Und warum in aller Welt sollst du der einen verblendeten Regierung gegen die andere beistehen? Möchtest du dein Leben dafür hingeben, um weiterhin von Herrn Asquith oder Herrn Clemenceau regiert zu werden statt vom Kaiser? Bei deiner Einstellung sollte ich sogar meinen, daß der Kaiser besser zu dir passen würde.«

»Das würde er auch. Ich glaube, es ist persönlich nicht viel an ihm dran, aber wenigstens ist er ein Kaiser«, erwiderte Vanny anerkennend. Er hatte Freunde unter den Camelots du Roi und hatte sich der Politik von Charles Maurras angeschlossen. »Was die Regierungen angeht, so macht sich wohl kein Mensch was aus ihnen. Sie sind doch zum größten Teil nur eine Clique von Politikern, Freimaurern und Juden: Schmarotzer ihrer possenhaften Parlamente, die dafür bezahlt werden, daß sie die Tatsachen mit hohlen Phrasen verschleiern. Wir wollen hoffen, daß sie allesamt zu Tode bombardiert werden. Da wären wir freilich verraten und verkauft, wenn wir nach so einem erstklassigen Radau immer noch mit denselben ekelhaften Narren, denselben Parteien und denselben Wahlen weitermachen müßten. Ein Ergebnis, das dieser Krieg bringen wird – hoffentlich wenigstens – ist die endgültige Beseitigung der Parlamente.«

»Und was willst du an ihre Stelle setzen?«

»Soldaten, Kardinäle und Ingenieure, Kerle, die sich in ihrem Handwerk auskennen, Fachleute, Organisatoren und Dichter. Aber in einem Punkt muß ich die Kabinettsminister in Schutz nehmen. Dieser Krieg ist nicht ihr Werk, wie die Oppositionspresse behauptet. Schon bevor es überhaupt Regierungen gab, hat es Kriege gegeben. Die Kriege haben von jeher die geborenen Führer ans Ruder gebracht. Nur wenn die Könige zahm und schläfrig wurden, haben sich Scharen von kleinen parasitischen Ministern in die Regierung eingeschlichen. Vielleicht wird uns dieser Krieg endlich wieder unsere natürlichen Führer schenken.«

Oliver empfand dunkel, daß etwas Großes, Uraltes und Grundlegendes hinter Vannys unbekümmert ausgedrückten Gedanken verborgen lag. Er selbst war ganz in dem häßlichen Spinnennetz der Konventionen gefangen. Er fühlte sich hilflos und enterbt. Warum konnte er die Dinge nicht auch von hoher Warte aus betrachten wie Vanny? Warum konnte er nicht auch so ritterlich und festen Herzens seinen Weg gehen? Eine Welle tiefer Verzweiflung stieg in ihm auf und war nahe daran, ihn zu ersticken. Doch war er zu stolz, um diese Verzweiflung auf sich selbst zu beziehen. Er war nicht bedroht; er war vernünftig und Herr seines Schicksals. Die Verzweiflung mußte also wohl Vanny gelten. Und der Schaum dieser Welle brach sich in traurigen Worten.

»Du wirst fallen.«

»Ich glaube nicht«, entgegnete Mario kühl, als wäge er wissenschaftliche Möglichkeiten gegeneinander ab. »Ich werde nicht fallen; und wenn, dann werde ich es nicht merken, und ein anderer wird an meine Stelle treten und weitermachen. Welche Rolle spielt denn die Frage, wer am Schluß noch dabei sein wird und wer nicht? Hauptsache, daß es überhaupt einen Schluß gibt und wir diese ganze moderne Zivilisation zum Teufel jagen können, wo sie hingehört. Vielleicht ist es sogar besser, wenn wir zierlichen Stutzer, die wir doch noch an der alten Ordnung hängen und kein Daseinsrecht mehr haben, als erste aus dem Wege gefegt werden. Alles, wozu wir taugen, hat doch keinen Zweck mehr. Es wird eine neue Welt entstehen.«

Obwohl Oliver sich in der modernen Gesellschaft nicht sehr glücklich und nützlich fühlte, konnte er sich doch keine andere vorstellen und hielt daher diese Reden für recht phantastisch. »Du scheinst zu erwarten, daß alles zerstört wird«, sagte er, »und doch scheint dich das nicht zu bekümmern; du lachst und weidest dich heimlich sogar an dieser Aussicht. Und während du sonst ein ranziger Konservativer bist, kannst du auf einmal kaum abwarten, bis der Krieg erklärt wird, mußt gleich hinrennen und dich melden, damit du alles kurz und klein schlagen kannst.«

»Mein lieber Oliver, von diesen Sachen verstehst du nichts. Du liest eine Menge, aber du beobachtest nicht. Ich bin kein Konservativer. Ich will weder mich erhalten, noch die Dinge in ihrem augenblicklichen Zustand konservieren, und will auch nicht rückwärts gehen und die Vergangenheit wiederherstellen. Das ist unmöglich; und wenn es durch ein Wunder geschehen könnte, wäre es nicht der Mühe wert. Die Vergangenheit war ziemlich miserabel, die Gegenwart ist ein großes Durcheinander, und ich selbst bin unvollkommen. Also fort mit uns und Schluß damit! Und alle Regierungen, alle Parteien, alle Finanzleute und alle Industriegrößen werden sich gegenseitig vernichten, und der arme, einfache Mensch wird dadurch freien Raum zum Atmen gewinnen.«

»Ja«, sagte Oliver bitter, »und wie viele arme, einfache Menschen werden dabei umkommen oder gemartert werden?«

Er überließ unüberzeugt und unversöhnt Mario seinem Schicksal und kehrte nach Oxford zurück. Doch gewannen jetzt die Morgen- und Abendzeitungen eine neue Bedeutung für ihn. Er fing an, sie mit europäischen Augen zu lesen. Sie aber bewirkten allmählich, daß ihm seine Moralphilosophie als etwas recht Fernes und Leeres erschien. Er konnte seine Aufmerksamkeit nicht mehr auf diese Wortstreitigkeiten konzentrieren. Deutschland trieb alles in der Welt vor sich her. Deutschland war wohlvorbereitet, organisiert, wissenschaftlich gerüstet und entschlossen. War es nicht bewundernswert? Und dieser ganze Reichtum an Hilfsmitteln und Erfindungen, diese unermüdliche Tatkraft und dieser beständige Erfolg – war er nicht gerade ein Beweis für Deutschlands Überlegenheit, für Deutschlands offenkundige Bestimmung, die Welt zu führen? Warum war ihm nicht wohl bei diesem Gedanken? Im Vergleich zu den Franzosen und selbst zu den Engländern standen ihm doch die Deutschen geistig sehr nahe. War er nicht im Sinne Goethes erzogen worden? Aber nein, es war nur ein zusammengestrichener, damenhafter Goethe gewesen, mit dem Irma ihn bekannt gemacht hatte: Goethe der lyrische Dichter, Goethe der Weltweise, Goethe der Kunstkenner. Aber es gab auch noch Goethe den Vitalisten, den Heiden, den Übermoralisten, der die Macht verehrte. Das war der echte Goethe, der in Nietzsche, in Bismarck und in diesem Kriege wiederauferstand!

Inzwischen erschienen die ersten Verlustlisten; Vanny hatte seinen Posten bekommen und war an die Front gegangen; überall klebten Aufrufe an den Mauern, die zum Eintritt in die Armee aufforderten, und Oliver fühlte sich von Tag zu Tag unbehaglicher und trübseliger, nach wie vor ratlos, was er erhoffen oder unternehmen sollte.

Eines Morgens saß er wieder einmal unruhig in Duke Humphrey's Bibliothek, machte sich mechanisch seine Notizen und schaute zwischendurch auf die Bäume und das Gras des Exeter-Gartens hinaus, als er plötzlich merkte, daß jemand hinter seinem Stuhle stand. Es war der Pfarrer, der schweigend wartete, bis er sich umsähe. In seiner Hand zitterte ein gelber Briefumschlag, auf dem Oliver die dick gedruckten Worte »Im Auftrage Seiner Majestät« entziffern konnte.

»Wir haben schlechte Nachrichten bekommen«, sagte Mr. Darnley leise und legte das Schriftstück auseinandergefaltet auf Olivers aufgeschlagenen Folianten. Der Anfang lautete »Ich bedaure Ihnen mitteilen zu müssen ...« Am Schluß aber standen vor der unleserlichen Unterschrift in großen gotischen Lettern die Worte: › God save the King‹.

Oliver hörte, wie der Pfarrer sagte: »Jims Schiff ist in Grund gebohrt worden. Er wird als vermißt gemeldet. Er ist auch nicht unter den Überlebenden, die gerettet sind. Er muß wohl ertrunken sein.«

Oliver war aufgestanden, und nun lag seine Hand schwer auf der Rücklehne seines Stuhles, genau wie sie sich vor sieben Jahren an die Gattertür bei Sandford angeklammert hatte, als Jim ihm zum ersten Mal gesagt hatte, daß Mrs. Bowler seine ›Frau‹ war. Genau so kam auch jetzt ein Schwindel über ihn, und er hatte das gleiche unbeschreibliche Gefühl von Zusammenbruch und Verzweiflung. Doch das ging nur in dem schwachen, unbeherrschten oberen Teil seines Gehirns vor sich; seine Hand blieb fest, seine Knie versagten nicht, und einen Augenblick später war auch sein Kopf wieder klar. Wortlos schloß er den dicken Folianten, legte die kleineren Bände und sein Notizbuch darauf, steckte den Papierstreifen mit seinem Namen in das oberste Buch und schritt aus dem Zimmer hinter dem Pfarrer her, der blind an seiner Tasche herumfingerte, um den gelben Umschlag wieder einzustecken.

Als sie langsam die breite Treppe hinabstiegen, die sich in dem viereckigen Turme hin und her wendete, blieb der Pfarrer ein paarmal stehen, um noch das eine oder andere Wort zu reden. Die Nachricht, sagte er, stehe auch in der ›Daily Mail‹. Man habe scheinbar einen der Überlebenden interviewt. Ein Boot sei von einem Fischdampfer aufgenommen worden. Die See sei ganz ruhig gewesen. Sie hätten keine Zeit gehabt, die andern Boote klar zu machen, oder sie seien in den Strudel geraten und von ihm verschlungen worden, denn das Schiff sei ganz plötzlich gesunken, kopfüber, wobei sich die Schraube noch in der Luft gedreht habe. Ein Boot sei kieloben auf den Wellen getrieben. Vielleicht sei Jim darin gewesen.

Diese Bemerkung rüttelte Oliver auf, der bis dahin kein Wort gesagt hatte. »Nein«, sagte er rasch. »Ich glaube, er ist über Bord gesprungen und nicht mehr zum Vorschein gekommen.«

»Warum meinen Sie das? Er war ein so guter Schwimmer. Ich fürchte, es war ein langer Kampf. Vielleicht haben sich seine Gedanken noch Gott zugewendet. Er ruhe in Frieden.«

Der Geistliche schluckte seine Ergriffenheit hinunter, und sie gingen schweigend weiter. Sie befanden sich in Grove Lane und wollten zu den Wiesen und den Booten hinunter, um sich vom Fährmann ans andere Ufer übersetzen zu lassen. Das war Olivers Lieblingsweg nach Iffley; man vermied dabei die Stadt so weit wie möglich und hielt sich an die grünen Felder.

»Mr. Darnley – –«

»Ja?«

»Sie denken vielleicht, ich sei verrückt geworden, aber ich muß Sie etwas fragen. Ist es uns wohl möglich, in die Zukunft zu sehen, so daß wir von etwas, das einmal geschehen wird, schon lange vorher bewegt werden?«

»Das ist ein alter Glaube; es gibt auch vereinzelte Bestätigungen dafür. Vielleicht steckt der Teufel dahinter. Aber was hat das jetzt mit uns zu tun? Warum machen Sie sich jetzt darüber Gedanken?«

»Darum, weil ich vor acht Jahren, an dem Tage, als ich Jim zum ersten Mal sah und er mir noch nichts bedeutete, das entsetzliche Gefühl hatte, er würde ertrinken. Ich ging durch die ganze Todesqual hindurch, als ertränke ich selbst. Dabei war nichts weiter geschehen, als daß Jim vom Deck aus ins Meer gesprungen war; ich wußte nicht, was für ein guter Schwimmer er war, und wie lange man überhaupt unter Wasser schwimmen kann. So wäre es wohl natürlich gewesen, wenn mich die Sache einen Augenblick etwas überrascht oder beunruhigt hätte. Aber warum überfiel mich dieses entsetzliche Gefühl, das eine ganze Ewigkeit zu dauern schien? Es sieht fast so aus, als ob ich damals das, was jetzt geschehen ist, und das, was ich jetzt fühlen müßte, schon in einer starken Vorahnung erlebt hätte. Ich sage: das, was ich jetzt fühlen müßte, denn damals hat mich der ganze physische Schrecken ergriffen, der über einen Augenzeugen kommt wie eine blinde, übermächtige Gewalt. Jetzt ist dies Gefühl körperlicher Qual bei mir nur ganz schwach; es ist mehr wie ein Wissen, nicht wie ein deutliches Erlebnis; und gerade das ist ein noch größerer Kummer. Ich begreife, was Jims Tod für Sie, für Mrs. Darnley und für Rose bedeutet. Ich begreife, daß er für mich das Ende eines Lebensabschnittes, das Ende der Jugend bedeutet. Obgleich Jim zehn Jahre älter war als ich, ist er immer so wunderbar jung gewesen, daß er mich beständig aus dem Gleis brachte und mich zwang, frei auf den Füßen zu stehen. Aber damals, als ich ein Junge war, als ich ihn gerade zum ersten Mal gesehen hatte und noch nichts weiter von ihm wußte – warum mußte ich schon damals ganz ohne Grund diese volle Schwere und Tragik und diesen großen, leidenschaftlichen Schmerz empfinden? Woher kam das? Warum entsprachen meine Gedanken damals genau dem, was sich erst jetzt ereignet hat? Ist es möglich, daß Eindrücke und Leiden auf geheimnisvolle Weise miteinander vertauscht werden können, sodaß der eine Lebensaugenblick die Bürde eines andern trüge?«

»Wer kann es wissen? Die Worte, durch die wir diese Betrachtungen ausdrücken, sind wohl allzu unvollkommen, und ihnen beizustimmen oder sie zu widerlegen ist wohl beides gleicherweise irrig. Sie haben eine weite Seele, Oliver, und eine zarte Seele; Sie mögen Einflüssen zugänglich sein, die der groben Beobachtung entgehen. Wer weiß, ob nicht im Weltenraum magische Beziehungen und Harmonien, stellvertretende Strafen und Bußen einander kreuzen! Und was wissen wir eigentlich vom Wesen der Zeit? In der geistigen Sphäre ist vielleicht die Zeit nichts Endgültiges und Einfaches wie in unserer materialistischen Begriffswelt, wo sie aus einer starren Aufeinanderfolge von Augenblicken zu bestehen scheint. Am Ende gibt es in ihr umkehrbare Kreisläufe, Intuitionen, die mit Siebenmeilenstiefeln schreiten, oder auch endlos weiterklingende Echos. Überwacht nicht der Geist Gottes jegliche Zeit, und ist es nicht möglich, daß er uns die Gabe seherischen Blickes ebensogut zuteilt wie die Gabe des Gedächtnisses? Doch möchte ich auf diesen Möglichkeiten keine Konstruktionen aufbauen. Überlassen wir Gott die Einrichtung der Natur. In Ihrem Fall vermute ich, daß kein Wunder vorliegt. Habe ich nicht vorhin ganz aus Zufall gesagt, daß das Schiff kopfüber gesunken sei? Das war nicht der richtige Ausdruck, ich hätte sagen sollen: mit dem Bug zuerst. Vielleicht hat dies falsche Wort in Ihnen das Bild Jims erweckt, wie er ins Meer springt, und Ihnen die Stimmung jenes fernen Augenblicks zurückgebracht, in dem Sie schon einmal gefürchtet haben, er sei verloren.«

»Aber warum sollte es mich dann damals so tief ergriffen haben? Jetzt hätte ich Grund, erschüttert zu sein, aber jetzt bin ich ruhig, jetzt, wo es wirklich geschehen ist, fühle ich gar keine Qual, jetzt bin ich gleichgültig. Kommt das nicht daher, daß dies Ereignis schon etwas Altes für mich ist, weil ich es schon vor langer Zeit ganz empfunden und ausgeschöpft habe?«

Der Geistliche lächelte und schaute auf Olivers bleiches, schmerzlich verzogenes Gesicht. »Mein lieber Junge, Sie sind gar nicht gleichgültig. Sie sind tief bewegt. Sie sind im Augenblick nicht ganz Herr Ihrer selbst. Sie sind gegen solche Schläge noch nicht abgehärtet. Wir alten Leute haben schon so viele Schicksalsschläge erlitten, daß selbst die schlimmsten und plötzlichsten uns abgeschwächt treffen und die dumpfe Masse unseres alten Leides und Kummers nur noch einmal erzittern lassen. Die Kraft dieses früheren Eindrucks, von dem Sie erzählen, ist bei einem so sensitiven Jungen, wie Sie es damals waren, nicht unerklärlich. Und was Sie jetzt Gleichgültigkeit nennen, das ist, ebenso wie meine eigene Ruhe, nicht Gleichgültigkeit, sondern Verzweiflung, obwohl wir es vielleicht nicht Verzweiflung nennen sollten, sondern Entsagung und Ergebung in Gottes Willen. Jim hat Ihnen Jahre hindurch großes Leid zugefügt – glauben Sie nicht, daß ich das nicht gemerkt habe! – und Sie sind wunderbar geduldig, bewundernswert treu geblieben. Zweifellos liegt es in Ihrer Natur, beständig, barmherzig, rücksichtsvoll zu sein, und doch sind Sie auch streng; weshalb konnten Sie trotzdem so viele Fehler verzeihen, so viele Enttäuschungen überwinden? Sie hingen viel tiefer an Jim, als Sie selbst es je geahnt haben!«

Jetzt sahen sie den Kirchturm von Iffley und das Dach des Pfarrhauses schon vor sich liegen. Oliver ging eine Weile in Gedanken verloren weiter; aber bevor er die Gartentür erreichte, wandte er sich dem Geistlichen zu und sagte langsam mit gequälter Deutlichkeit und Schwere: »Ja, das ist die Wahrheit. Ich habe ihn von Anfang an geliebt.«


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